Nationalstaatliche Vorstellungen und Realitäten prägten die Archäologie des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Daraus erklärt sich die Popularität des Konzepts der "archäologischen Kultur", v. a. aber dessen Interpretation als Hinterlassenschaften eines "Volkes". Eine solche Sicht setzt - modern gesprochen - die Kongruenz und Synchronität n Ethnos, Kultur, Sprache und Rasse raus, was sich als "ethnisches Paradigma" bezeichnen lässt (Abb. 7). Dass dies den seltenen historischen Ausnahmefall darstellt, liegt auf der Hand. Grundsätzliche Kritik setzte deshalb früh ein. "Die mannichfachen Formen und Verzierungen dieser an einem Orte gefundenen Gefässe müssen Jedem die Überzeugung verschaffen, wie gewagt es sei, aus der Gestalt und den Verzierungslinien einer gefundenen Vase auf die Nationalität irgend eines Volkes schliessen zu wollen", stellte Vocel schon 1845 klar. Virchow bekannte später, "dass ich persönlich es noch nicht zu Stande gebracht habe, zu erkennen, welcher ein slavischer und welcher ein germanischer Schädel ist."
Ethnische Identitäten, die jeweils nur eine unter vielen Gruppenzuordnungen n Individuen bilden und nur in bestimmten Kontexten relevant werden, benutzen der jeweiligen Situation angemessene Symbole zur Abgrenzung; diese zu identifizieren, gelingt angesichts der prinzipiellen Willkürlichkeit m Zeichen ohne nicht-archäologische Zusatzinformationen kaum. "Ethnische Interpretationen", die n der Identifizierung n Siedlungsgebieten über Kontinuitäten und Wanderungen bis hin zur Beschreibung n Ethnogenesen und "Fremden" reichen, betonen einseitig den räumlichen Aspekt n Geschichte, die doch primär durch den Wandel interessant wird. Es bleibt immer eine Frage der Bewertung, ob man Kontinuitäten oder Diskontinuitäten (Abb. 8), Wanderungen oder Austausch annimmt.
Abb. 8. Einige ausgewählte Versuche, die sprachlichen Großgruppen der Kelten, Germanen und Slawen anhand kultureller Kontinuitäten zurückzuverfolgen. Eingetragen sind nur einige ausgewählte Autoren, deren Name den Zeitpunkt der jeweils vermuteten "Ethnogenese" markiert. Tendenziell läßt sich eine Verkürzung der als relevant angesehenen Kontinuitäten bemerken, doch greifen auch neuere Arbeiten gelegentlich weit zurück. Die absoluten Zeitangaben am linken Rand entsprechen der heutigen Auffassung, die n derjenigen älterer Arbeiten nicht unbeträchtlich abweicht. Grau unterlegt: Zeitraum der jeweiligen Erwähnungen in zeitgenössischen literarischen Quellen (Herodot, Cäsar, Prokop und Jordanes). Dabei bleibt die jeweilige Obergrenze zeitliche diffus: die Kelten wurden zu Bewohnern des römischen Galliens, bei Germanen und
Slawen wurden die übergreifenden Begriffe durch genauere Bezeichnungen einzelner Gruppen abgelöst.
Dennoch galt lange Zeit diese "ethnische Interpretation" als "höchstes Ziel" der Archäologie, die ohne diese Fragestellung keine historische Wissenschaft mehr sei. Kritik beschränkte sich meist auf Einzelfälle und galt nicht dem Prinzip. Hinsichtlich n Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft gibt es jedoch genügend Erkenntnisse der Archäologie, die durch andere Methoden nicht zu gewinnendes historisches Wissen bedeuten. Bereits die relativ genaue zeitliche Einordnung ihrer Quellen verschafft der Prähistorie historischen Anspruch.
Die Auswirkungen des Paradigmas lassen sich an einigen neueren Beispielen für das frühe Mittelalter Ostmitteleuropas verdeutlichen.
Die "frühmittelalterlichen Stämmegebiete in Böhmen" grenzte Rudolf Turek (1910-1991) 1957 aufgrund archäologischer Quellen neinander ab (. 3). Er berücksichtigte die "Typologie der Burgwälle", "territoriale Verschiedenheiten des Begräbnisritus" und die Verbreitungen "keramischer Sondertypen". Ziel war es, "auf einem präzis und bewusst bestimmten, homogenen und organisch begrenzten Territorium alle Grundprobleme der dortigen Besiedlung" zu beschreiben. Homogenität nach innen und scharfe Grenzziehung nach außen waren die beiden entscheidenden Prämissen dieses Vorgehens. Unter Zuhilfenahme späterer schriftlicher Überlieferung gelangte Turek zu 13 unterschiedlich großen Stammesgebieten, an denen sich noch die spätere Kirchenorganisation orientiert habe. Mit dem Bemühen, "den territorialen Charakter der Stämmegebiete festzustellen" , war die Flexibilität politischer und ethnischer Zuordnungen ausgeblendet. Mit dem gleichen methodischen Ansatz suchte auch Joachim Herrmann die "Siedlungsgebiete der slawischen Stämme zwischen Oder/Neiße und Elbe" "mit Hilfe der siedlungsarchäologischen Methode im engeren Sinne zu erfassen, annähernd ihre Grenzzonen zu erkennen und darzustellen und schließlich die erkannten Siedlungsgebiete mit schriftlich überlieferten Stämmen und Kleinstämmen zu identifizieren".
Slawische Einwanderergruppen im frühen Mittelalter wurden auf dieselbe Weise rekonstruiert. Spezifische Kombinationen n Keramiktypen, Grabformen, Haus- und Burgenbau dienten Herrmann zur Unterscheidung n fünf Einwanderergruppen, die in zwei zeitlichen Phasen die Gebiete westlich n Oder und Neiße erreicht hätten (Abb. 9). Parallelen zu Elementen der Sachkultur
. 3. Hypothetische "Stämmegebiete" in Böhmen als Kombination n Keramikformen, Befestigungstypen und Grabformen. Dass 13 Regionen unterschieden wurden, hängt wohl mit den 14 böhmischen duces zusammen, die 844/845 nach Regensburg gereist
waren (zusammengestellt nach TUREK 1957, 51-60).
Nr. Region Keramik Burgwälle Bestattungen "Stämme"
1 östliches Mittel-böhmen retardierend, rötlich, Glimmerzusatz; Flaschen, tiefe Schüsseln (Kouřím, Klučov, Libice) Urnengräber Zličané
(14. Jahrhundert)
2
Ostböhmen wie 1.; dunkel, braun groß, Spornlage (Česov, Prachovské Skaly, Ostroměř, Kaly) Hügelgräber östliche Kroaten
3 untere Iser wie 1. und 2.; grau (Hrádek b. Skalsko, Hradsko b. Kanina) Hügelgräber westliche oder kleine Kroaten
4
gegenüber der Moldau-mündung wie 10.; grau (Mělník, Příry, Stará Boleslav) keine Hügelgräber Psované
5 Elbelauf ? (Litoměřice) ? Litomřici
6 Elbelauf ? (Děčín) ? Děčané
7 Nordböhmen (westlich
der Elbe) elbslawisch beeinflusst (Zabrusany, Bílina) Hügelgräber Lemuzi
8 Westböhmen grau, doppelkonisch Spornlage
(Zatec) ? Lučané
9 Egertal ? (Velichov, Tasovice, Kolová) ? Sedličané
10 westliches Mittel-böhmen grau, grobe Magerung; Gefäßproportionen Höhe = Breite Spornlage ursprünglich Urnengräber Čechové
11 Südböhmen rötlich, einfach, traditionell individuell befestigt Hügelgräber Doudlebi?
12 Pilsener Becken - - - [Kolonisation im 10. Jahrhundert]
13 Nordböhmen (östlich
der Elbe) ? ? ? Sorben (Nisaner oder Milzener)In Südost- und Osteuropa wurden als (kulturelle und ethnische) Kontinuitäten angesehen. Darauf beruhte die Vorstellung, geschlossene Stammesgruppen - als Abspaltungen größerer Verbände - wären nach Mitteleuropa eingewandert und hätten ebenso geschlossen neue Siedlungsgebiete in Besitz genommen. Dieses Modell schließt Einflüsse der Nachbarn und eigenständige Entwicklungen weitgehend aus. Es kann auch nicht erklären, weshalb die meisten mitteleuropäischen Stammesnamen Örtlichkeitsnamen und damit Neubildungen darstellen. Neue Datierungsmethoden und Materialanalysen zeigen, dass die n Herrmann berücksichtigten Merkmale sowohl in unterschiedliche zeitliche Zusammenhänge gehören als auch unterschiedlich verbreitet sind; sie lassen sich nicht zu homogenen Gruppen zusammenfassen.
Abb. 9. Hypothetische Einwanderungsrichtungen slawischer "Stämme" im frühen Mittelalter, erschlossen aufgrund n regionalen Unterschieden im Haus- und Burgenbau, in den Grabformen und Keramikstilen. Neueren Untersuchungen zufolge gehören diese vier Aspekte in unterschiedliche zeitliche und regionale Zusammenhänge. Als Indiz für homogene Einwanderergruppen fallen sie daher aus, die damit als Konstrukt
archäologischer Forschung gelten müssen (nach HERRMANN 1985b, 28 Abb. 8).
Die Thematisierung "frühdeutscher" Sachkultur beschränkte sich auf die östlichen Grenzräume des mittelalterlichen Reiches. Von Holstein bis nach Kärnten wurden "Deutsche" und "Slawen" anhand der Keramik bzw. der Grabbeigaben unterschieden. Dies betraf östlich der Elbe das Hochmittelalter und damit die Ostsiedlung, in Mitteldeutschland, Niederösterreich und Kärnten hauptsächlich die Karolingerzeit (Abb. 10), gelegentlich auch schon das 6./7. Jahrhundert. Die Bezeichnung zielte auf eine chronologische und auf eine ethnische Kennzeichnung, die sich aber nur so lange durchhalten ließ, wie n einer strikten kulturellen Dichotomie ausgegangen wurde. Dass dies den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht wird, zeigt sich an der weiträumigen und diffusen Verbreitung der Keramik- und Schmuckformen, die als primär zeittypisch für bestimmte Regionen gelten müssen, wobei Einflüsse aus unterschiedlichen Richtungen zusammenkamen.
Abb. 10. "Entwicklungs- und Ausstrahlungsgebiet des frühdeutschen Fundguts im Südosten". Kartiert sind
Bodenfunde des 8./9. Jahrhunderts (nach DINKLAGE 1941, 252 Abb. 2).
Auch archäologische Untersuchungen zur hochmittelalterlichen Ostsiedlung bemühten nicht selten das ethnische Paradigma. So diente die Keramik zur Unterscheidung slawischer und deutscher Siedler und damit zur Rekonstruktion n Bevölkerungsanteilen, ohne die vielfältigen Austausch¬beziehungen zwischen Alt- und Neusiedlern ausreichend zu berücksichtigen. Gleiches gilt für die Rekonstruktion der wirtschaftlichen Verhältnisse: der Hakenpflug wurde zumindest auch noch n den ersten westlichen Bauern benutzt, und er bewährte sich in ungünstigen Lagen noch geraume Zeit. Als ebenso wenig eindeutig erwiesen sich inzwischen Dorfformen und Ortsnamen, so dass das ursprüngliche Konzept zweier wie Billardkugeln kollidierender, homogener und statischer "Kulturen" nicht mehr als adäquat gelten kann.