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ZUM VERHALTNIS VON PRIVAT UND ÖFFENTLICH

ZUM VERHALTNIS VON PRIVAT UND ÖFFENTLICH

Die Zeitschrift "Freibeuter veröffentlichte im Jahre 1980 einen etwas ungewöhnlichen Beitrag. Er bestand aus dem bekannten Märchen der Gebrüder Grimm "Der Wolf und die sieben Geißlein. Beigefügt war ein Kommentar des Soziologen Oskar Negt. in dem er dieses "besonders .deutsche Märchen als "ein Stück deutscher Charaktergeschichte (Negt 1980.120f.) zu lesen versucht und vor diesem Hintergrund auch Bezüge zum "Dritten Reich herstellt. Der Wolf, der da mit mehlbepuderter Pfote und mit durch Kreide verfeinerter Stimme die sieben Geißlein (sprich: die Deutschen) überlistet und sich Einlaß ins Haus verschafft, ist in dieser Lesart niemand anders als - Hitler.
Weniger diese waghalsige Analogie als eine andere Beobachtung Negts ist bemerkenswert. Die eigentliche Dramatik und Aufmerksamkeit des Märchens konzentriere sich auf die Tür als den Übergang von innen nach außen, von sicher und unsicher. Verbarrikadierung im Innern, Unsicherheit beim mißtrauischen Versuch, das Außen zu erkennen und zu unterscheiden, all das verweise "auf eine die deutsche Geschichte kennzeichnende Grundstörung des Verhältnisses von Innen und Außen (ebd. 123).
Negt folgt damit einer bekannten Charakteristik deutscher Mentalität, derzu-folge sich in Deutschland das Innen, die Privatheit, die vielberedete "Innerlichkeit wesentlich stärker entfaltet hat als das Außen, verstanden als der Sinn fürs Politische, für Gesellschaft und Öffentlichkeil:




Das Prinzip der Ökonomie der deutschen Eigenschaften lautet Wärme und Aufmerksamkeit nach innen, zur Familie, zu den Privatverhältnissen hin. zum Binnenraum der Phantasie - Kälte und Gleichgültigkeit nach außen (ebd. 123).

Mit Blick auf die heutige Bundesrepublik jedoch ist mit einer solchen Funda-menlaldiagnose nicht allzuviel gewonnen. Es ist sicher richtig, daß Mentalitäten sich sehr langsam ändern, und auch dieses Kapitel wird sich noch ausgiebig auf die longue duree historisch weit zurückliegender kollektiver Schlüsselerfahrungen berufen. Aber bei aller Langsamkeit der Mentalitätsgeschichte ist sie dennoch eine Geschichte der Veränderungen, die auch und vor allem den vergangenen vierzig Jahren der alten Bundesrepublik ihr Gepräge geben. Das Verhältnis von Innen und Außen, von Privat und Öffentlich war in Wirklichkeit immer schon komplizierter, als es ihre traditionell strikte Trennung und Polarisierung im deutschen Verständnis suggeriert.

Und wie steht es mit der "Wärme und Aufmerksamkeit nach innen, zur Familie, zu den Privatverhältnissen hin bei einer Scheidungsrate von über 30 Prozent in der Bundesrepublik, wo inzwischen nahezu die Hälfte aller Haushalte, wie die Statistiker sagen, unvollständige Haushalte sind? Andererseits kann aber wohl von "Kälte und Gleichgültigkeit nach außen nicht ohne weiteres die Rede sein: Als Beispiel für die gewachsene innere Demokratisierung sei z.B. nur auf die überraschende Partizipationsbercitschafl vor allem in den Neuen Sozialen Bewegungen der Bundesrepublik verwiesen.
Und dennoch: Alle diese Einschränkungen nützen wenig, sobald im Kulturvergleich die USA in den Blick rücken. Mag die im traditionellen Verständnis strikte deutsche Trennung zwischen einem "überentwickelten Innen und einem "unterentwickelten Außen durch die neuere Entwicklung auch noch so überholt und aufgelöst sein - im Vergleich mit den amerikanischen Verhältnissen pflegt sie sich gerne wieder herzustellen.
Amerikaner, so will es das Fremd- und das Selbstbild, kennen die starre Opposition zwischen Privatheit und öffentlichkeil nicht. Eingeschliffene wechselseitige Wahrnehmungsgewohnheiten sorgen dafür, daß man im anderen Land eher das bemerkt, was dem vorgeformten Bild von ihm entspricht, als das, was ihm widerspricht.

Als Indikatoren werden zum Beispiel geltend gemacht: die vielberedeten offenen Türen in amerikanischen Büros und Universitäten, die wesentlich weniger reglementierten Öffnungszeiten von Läden bis hin zur größeren Bedeutung der Privatinitiative in Wirtschaft. Politik und Wohlfahrt. Auch die private Lebenssphäre gilt als durchlässig für Öffentliches. Der amerikanischen Familie sagt man große Offenheit nach, und die amerikanische Art. rasch und unkompliziert Freundschaften zu schließen, wird gerade im deutsch-amerikanischen Vergleich oft hervorgehoben. Umgekehrt klagen Amerikaner in der Bundesrepublik darüber, daß sie immer wieder vor geschlossenen Türen stehen. Die knapp bemessenen Öffnungszeiten von Behörden, die seltenen und kurzen Sprechstunden der Professoren an den Universitäten sorgen häufig für Irritationen und werden als vergleichsweise unzureichende demokratische Serviceleislungen und obrigkeitsstaatliche Relikte verstanden. Und auch im Privaten fällt diese Verschlossenheit auf. Eine amerikanische Studentin beobachtet an ihren deutschen Nachbarn:

Jeder grenzt sich ab. Typisch ist, daß man hier Hecken und Zäune hat und nicht ein Grundstück ins nächste fließt. Man kann im Sommer nirgendwo reingucken (Fremde Deutsche 1986, 52).
Das Inlerieur deutscher Wohnungen wiederholt im Kleinen die rliebe für Verschlossenes. Ein amerikanischer Gastwissenschaftler in Tübingen:

Wir hatten nie zuvor so viele Türen, Schränke und Schubladen mit Schlössern und Schlüsseln gesehen (Zit. n. Zeitungskolleg "Heimat heute 1980, 26).

Damit nicht genug: die allgegenwärtigen Hecken und Zäune kehren in der Sicht der Amerikaner mental in der größeren Reservierlheit und Verschlossenheit der Deutschen wieder.
Wir haben in dieser lockeren Bestandsaufnahme nicht empirische Zustände, sondern wechselseitige Wahrnehmungen und Zuschreibungen aufgereiht. Es wäre eine Illusion zu glauben, das "wirkliche Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit objektiv anhand von Fakten dingfest machen zu können, wenn man nur von solchen subjektiven Perspektiven und Sichtweisen absieht.
Was wir hier leisten können, ist folgendes: Wir skizzieren grundlegende Bedingungen, die in beiden Kulturen für die jeweilige Ausprägung des Verhältnisses von Privat und Öffentlich maßgeblich waren und sind.

In einer ersten Annäherung erinnern wir vor allem im Blick auf die Entwicklung in den USA kurz an die religionssoziologischen Studien Max Webers. In einem zweiten Schritt, der sozialhistorische Gesichtpunkte zur Geltung bringt, lösen wir die allzu idealtypische Gegenüberstellung der beiden Bereiche Privat und Öffentlich auf. Wir bleiben dabei jedoch in der Dimension der Einstellungen, versuchen also, Mentalitäten und ihre Entstehung zu beschreiben und zu erklären. Bei all dem muß bewußt bleiben, daß diese heuristisch aufschlußreiche Polarisierung ein Denkmodell ist, das den Blick für vielfältige Interdependenzen und Differenzierungen nicht verstellen darf. Konkret heißt dies: Nach den historischen raussetzungen für das in beiden Ländern unterschiedliche Verhältnis von Privat und Öffentlich greifen wir im Bereich des Privaten die urationen von Familie und Freundschaft heraus und gelangen über die Darstellung des in Deutschland zwischen dem Privaten und Öffentlichen angesiedelten Vereinswesens zu gegenwärtigen Tendenzen, wo verstärkt die Zusammenhänge beider Bereiche in den rdergrund rücken.

Die USA: Schwacher Staat - starke Gesellschaft?

Das Verhältnis von Bürgern und Staat, von Privatheit und Öffentlichkeit, hat sich in den USA bekanntlich anders ausgeprägt als in der "Alten Welt. Sowohl im Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft wie auch in der positiven Außensicht gilt es als ausgemacht, daß nirgendwo anders als in Amerika die zentrale Idee von Adam Smith' "The Wealth of Nations verwirklicht sei. Dem Gemeinwohl, so die zentrale Maxime des frühen Kapitalismus, sei am besten gedient, wenn die Individuen ihre Interessen selbständig und ohne staatliche Einmischung wahrnehmen. Während diese Idee in Deutschland wegen der engen Verflechtung von Staat, Bürgertum und Wirtschaft und auch angesichts der ökonomischen Rückständigkeit nie handlungsleitend wurde, ergaben sich für sie in den von bürokratischer Reglementierung weitgehend freien amerikanischen Kolonien und in der Folge für die USA wesentlich weitere Handlungsspielräume. Die amerikanische Nation hat nicht nur den englischen Liberalismus und Utilitarismus in höherem Maße als andere Länder übernommen, sondern auch den Optimismus der französischen Aufklärung und den Glauben, die Individuen könnten ihr Schicksal eigenständig gestalten.

Gleichgültig, ob es sich hier um Realität oder eher Ideologie handelt, von entscheidender Bedeutung sind die inneren Antriebe, die zumindest als Mentalität wirksam werden.
Zur Erhellung dieser Disposition haben wesentlich die Forschungen Max Webers zur Religionssoziologie beigetragen. Die zentrale These seines Hauptwerks "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) ist auch in den USA weithin bekannt geworden: Die vom Calvinismus geprägte Lebensführung, der von Weber so genannte "asketische Protestantismus, hat entscheidend die neuzeitliche Berufs- und Wirtschaftsgesinnung geprägt und die Dynamik des modernen Kapitalismus entfesselt.

Nicht zufällig zitiert Max Weber Benjamin Franklin als Kronzeugen für den "Geist des Kapitalismus und die "protestantische Ethik. Auch heute noch vermerken europäische Amerika-Besucher die besondere Rolle der Religion: "Ihre öffentliche Funktion, ihr moralischer Charakter und das Element des Puritanismus scheinen in der Tat die drei wesentlichen Elemente der Religion in Amerika (Dahrendorff 1968.30). Der von Max Weber postulierte enge Zusammenhang zwischen protestantischer, insbesondere calvinistischer Ethik und innerweltlicher Leistungsonentierung (die Harmonie von Moral und Erfolg) hat eine inzwischen unübersehbare Diskussion in Gang gesetzt, die hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann.
Wesentlich ist, daß mit seinen Arbeiten religiöse Antriebe der amerikanischen Entwicklung in den Blick treten, die in Verbindung mit den sozialgeschichtlichen Strukturbedingungen in den USA erklären können, warum es zu der herausragenden Bedeutung der privaten Initiative und Fortschritlserwartung kam. Zu berücksichtigen sind aber auch beispielsweise Faktoren wie die spezifischen Dispositionen der Einwanderer, die die Fesseln vielfältiger Abhängigkeiten. Bevormundung und Reglementierung abgestreift und eine ihnen gemäße Offenheit zumindest in der Pioniergesellschaft vorfinden konnten. Das Bedürfnis nach religiöser und politischer Unabhängigkeit, die politischen Ideen der Aufklärung, die - gestützt von den genannten religiösen Antrieben - in die frühe Verwirklichung eines demokratischen Staatswesens mündeten, all dies bildete eben jene Mentalitätsmuster aus. die noch heute das Selbst- und Fremdbild der USA nachhaltig bestimmen. Noch immer gilt idealtypisch, was Alexis de Tocqueville (1833) auf den Begriff brachte:
Der größte Teil des englischen Amerika ist von Menschen bevölkert worden, die sich, nach dem Abfall von der Autorität des Papstes, keiner religiösen Hoheit unterworfen hatten: sie brachten also in die Neue Welt ein Christentum mit, das ich nicht besser beschreiben kann, als indem ich es demokratisch und republikanisch nenne: das sollte die Errichtung der Republik und der Demokratie im geschäftlichen Bereich außerordentlich begünstigen. Von Anfang an waren Politik und Religion einig, und sie haben seither nicht aufgehört, es zu sein (Tocqueville 1976, 332f.).

Heute sieht - zumal im Blick von außen - vieles anders aus. Die Rolle Amerikas als Weltmacht läßt weder an einen schwachen Staat noch an eine schwache Gesellschaft denken. Innenpolitisch hat sich zudem seit der großen Depression das Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat wesentlich verändert. In dieser Zeit bekam die amerikanische Regierung Zugang zu privatwirtschaftlichen Bereichen, um etwa die Einhaltung von Vorschriften zum Umweltschutz und zur Arbeitsplatzsiehcrheit zu überprüfen und regulierend einzugreifen. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, wenn er auch nicht annähernd die Dichte des sozialen Netzes in Deutschland erreicht hat. konfrontiert auch die amerikanischen Bürger mit einem starken Staat, der sogar gelegentlich das amerikanische Ideal von Demokratie als "government by the people, for the people, and of the people zu verletzen scheint.

Deutschland: Obrigkeitsstaat und Untertanenvolk?

In der geistesgeschichtlichen Tradition hat die deutsche Selbstdeutung immer die überragende Rolle der "Schicksalsfigur Martin Luther betont. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg greift auch Thomas Mann in seiner berühmten Rede über "Deutschland und die Deutschen vom 29. Mai 1945 in Washington auf die Bedeutung Luthers und seines Protestantismus zurück, um zu begründen, warum die deutsche Entwicklung zwangsläufig in die Katastrophe des "Dritten Reiches münden mußte.

Die deutsche idealistische Philosophie, die Verfeinerung der Psychologie durch die pietistische Gewissensprüfung, endlich die Selbstüberwindung der christlichen Moral aus Moral, aus äußerster Gedankenstrenge - (...) dies alles kommt von Luther. Er war ein Freiheitsheld, - aber in deutschem Stil, denn er verstand nichts von Freiheit. Ich meine jetzt nicht die Freiheit des Christenmenschen, sondern die politische Freiheit, die Freiheit des Staatsbürgers - die ließ ihn nicht nur kalt, sondern ihre Regungen und Ansprüche waren ihm in tiefster Seele zuwider (Mann, Bd. II1986,287).

Solche geistesgeschichtlichen Traditionslinien haben in der früheren Diskussion über den deutschen Sonderweg eine bestimmende Rolle gespielt. In der neuen, sozialhistorisch orientierten und vergleichend argumentierenden Forschung treten geistesgeschichtliche Faktoren zurück.
Im Hinblick auf die Genese des spezifisch deutschen Verhältnisses von Privat und Öffentlich. Staat und Gesellschaft, sollen hier vor allem die politischen und sozialen Weichenstellungen des beginnenden 19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden. In dieser Zeit setzt im Prozeß der neuzeitlichen Staatsbildung jene spezifisch deutsche Staatslastigkeit ein. die sich wohl in keinem anderen westlichen Land so mentalitätsprägend erwiesen hat wie in Deutschland.
Um sich dies zu vergegenwärtigen, ist es vielleicht günstig, einmal nicht das Modell Preußen heranzuziehen, an dem in der deutschen Geschichtsschreibung fast zwangsläufig Verstaatlichungsprozesse demonstriert werden. - Ein für uns in Süddeutschland nicht minder aufschlußreiches und weniger verbrauchtes Beispiel ist das Königreich Württemberg. Die napoleonische Flurbereinigung vom Jahre 1806 zwingt dieses Württemberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Vereinheitlichung heterogener, zum Teil winziger Territorien mit ganz unterschiedlichen politischen und sozialen Traditionen und Lebensstilen. Damit verschränkt sich (nicht nur hier) ein Prozeß der Verstaatlichung, eine "Reform von oben, mit dem das aufgeklärt-absolutistische Regime auf den napoleonischen Revolutionsexport reagiert. Nicht mehr der Souverän als Person beansprucht die Treuepflicht seiner Untertanen, sondern der Staat als "objektive Autorität und durch ihn die Regierung als Repräsentantin des Gemeinwohls. Vereinheitlichung und Verstaatlichung in einer solcherart von oben in Gang gesetzten und kontrollierten Reform, das heißt etwa: es müssen Konzepte zentraler Wirtschaftssteuerung. Organe der Staatsverwaltung geschaffen werden. Modernisiert und sozusagen verstaatlicht werden muß in diesem Prozeß auch der Untertan, aus dem sich idealiter die Figur des Staatsbürgers entwickeln soll, der die Autorität des Staates und die Forderung des Allgemeinwohls verinnerlicht hat (vgl. dazu Kaschuba 1988).

In Württemberg werden zwischen 1800 und 1820 dreimal soviel Gesetze und Verordnungen erlassen, wie in den beiden Jahrhunderten zuvor. Dies ist sicher zunächst Ausdruck einer sich rasch ausdifferenzierenden Gesellschaft, läßt jedoch eine nahezu lückenlose Reglementierung erkennen. Wie weit diese Ver-rechtlichung in das Alltagsleben der Bürger und vor allem der Unterschichten eingriff, hat Wolfgang Kaschuba anschaulich vor Augen geführt. Der Prozeß der Sozialdisziplinierung erfaßt nun planmäßig alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Arbeil und Zeitökonomie, Medizin und Hygiene, Justiz und Militär, Verwaltung und Politik, alles wird einer umfassenden Rationalisierung und Kontrolle unterworfen. An Vaganten und Bettlern demonstriert die staatliche Erziehungsdiktatur, wie die neue Arbeitsmoral auszusehen hat. Angeblich arbeitsscheue Arme und Nichtseßhafte steckt man in die seit 1807 geschaffenen Polizeianstalten und Zwangsarbeitshäuser, um ihnen Regelmäßigkeit, Disziplin und Fremdbestimmung in der Arbeil anzugewöhnen. Eine wissenschaftlich profcssionalisierte Medizin drängt die jahrhundertealte Volksmedizin zurück: hygienische Vorsorgemaßnahmen regeln z.B. die ersten Massenschutzimpfungen gegen Pocken, das Baden in Flüssen und Seen, die Verlagerung der Friedhöfe wegen ihrer "Ausdünstung an die Ortsränder. Selbst die hygienische Anlage und der Standort von Misthaufen sind nun vorgeschrieben. Kleidermode oder Kaffeekonsum, kirchliche Feiertage und Blauer Montag bis hin zur Festlegung einer landesweit geltenden Polizeistunde, überall setzt der Staat seine Ordnungsvorstellungen in die Praxis um. Und sogar voreheliche Sexualbeziehungen sind nun Gegenstand behördlicher Kontrolle und Bestrafung.
Man ist heute wohl eher geneigt, die Modernisierungs- und Fortschrittsleistungen dieser "Reformen von oben anzuerkennen. Sie bedeuten das Ende der Leibeigenschaft, die Entmylhologisierung der monarchischen Staatsform, sie bringen den Beginn des Verfassungsstaates, Religionsfreiheil, einklagbare Rechtsnormen und schaffen in Deutschland erst die gesellschaftlichen Voraussetzungen für demokratische und liberale Reformbewegungen. Wenn man einmal nicht nur von der begrenzten und in manchen Bereichen blockierten politischen Demokratisierung ausgeht, dann hat auch das vielgeschmähte Wilhelminische Kaiserreich erstaunliche Errungenschaften aufzuweisen. Zu denken ist etwa an die Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung, mit der Reichstag und Reichsbehörden die Grundlagen des modernen Sozial- und Wohlfahrtstaates geschaffen haben, oder an ein Beispiel, das Jürgen Kocka in seiner Einleitung zu dem dreibändigen Werk "Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich (1988) hervorhebt. "Bedenkt man, so heißt es da,
Die andere Seite der Verstaatlichung ist die systematische Durchsetzung der Disziplin in allen Lebensbereichen, die Allgegenwart der staatlich-bürokratischen Durchdringung und Reglementierung der Gesellschaft mit ihren zwanghaften Leitwerten von Ruhe, Ordnung, Kontrolle. Sicherheit. Arbeitsleistung und Effektivität.
Was Fremd- und Selbstbilder den Deutschen traditionell zuweisen - Fleiß, Disziplin, Tüchtigkeit, Ordnung, Sauberkeit etc. - sind ja nicht nur deutsche Tugenden. Daß sie sich dennoch bis auf den heutigen Tag in besonderem Maße als typisch deutsche Eigenschaften aufdrängen, hängt damit zusammen, daß die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Gang gesetzte "Verstaatlichung der Menschen sich im engen territorialen Rahmen deutscher Einzelstaaten durchgreifender und unausweichlicher vollzog als anderswo. Das Projekt der Formung und Modellierung eines der Staatsidee gemäßen "Staatsbürgers mit all seinen Tugenden, aber auch Grenzen ist, wenn man so will, gelungen: Als seine idealtypische Verkörperung erscheint auch im Ausland die inzwischen in ihrer Ausstrahlungskraft verblassende Sozialfigur des deutschen Beamten, der politisch loyal, korrekt und bürokratisch das geforderte Arbeits- und Pflichtethos verinnerlicht hat.
Zwischen dieser Staatslradition und den deutschen Bedeutungskonnotationen von Privatheit bestehen zweifellos Zusammenhänge. Bei weilgehendem Einverständnis mit dem fürsorglichen Obrigkeits- und Wohlfahrtsstaat bleibt die Haltung ihm gegenüber doch ambivalent. Die Tendenz des Staates, im Dienste des Gemeinwohls auch die "Verstaatlichung des Privaten voranzutreiben, hat stets auch das Bedürfnis nach Abgrenzung, nach dem Schutz der Privatsphäre erzeugt. Die Wendung nach innen, die keineswegs immer nur unpolitische Verteidigung der Privatheit, kann somit auch als Antwort auf die staatlich-bürokratische Durchdringung der deutschen Gesellschaft verstanden werden. Wenn z.B. heute Fragen des Datenschutzes in der Bundesrepublik mit besonderer Leidenschaft diskutiert werden oder die Volkszählung vor einigen Jahren nur mit Mühe durchgesetzt werden konnte, so ist dies wohl nicht nur eine Reaktion auf die Nazizeit, sondern steht in einer viel längeren Tradition der Abwehr von staatlichen Interventionen dieser Art.

daß die im deutschen Bereich früh und "von oben durchgesetzte staatliche Pocken-Schutzimpfung die Epidemie im Kaiserreich so gut wie besiegt hatte, während gleichzeitig in Frankreich, wo liberale Abwehr staatlicher Intervention ähnliche Maßnahmen verhinderte, noch zirka 100 000 Personen an Pocken starben, dann begreift man etwas von der Kraft jenes "bürokratischen Erbes, jener Tradition der "Reform von oben, die für die deutsche Entwicklung (...) charakteristisch waren... (Kocka 1988, Bd.L, 74).

Familie

Typisch deutsch ist die Hochschätzung der Familie nicht. Als Fremder in eine französische Mittelschichtsfamilie aufgenommen zu werden ist in der Regel ein weit schwierigeres Unterfangen als in der heutigen Bundesrepublik. Und das englische Sprichwort "My home is my Castle verheißt zumindest noch für die victorianische Familie auch keine große Offenheit. Vieles spricht jedoch dafür, daß das Bild von der heilen Familie in Deutschland besonders wirksam ist. An Weihnachten, dem deutschen heiligen Abend der Privatheit, offenbart sich am deutlichsten, wie deutsche Familien sich sehen wollen. Dem Zwang zur familiären Harmonie an diesem Abend können sich selbst Widerspenstige nur schwer entziehen, die Familie bleibt - anders als in anderen Ländern - unter sich.
Wenn es heute so etwas wie eine kulturspezifische Eigenheit der deutschen Familienprivatheil noch gibt, so ist es wohl am ehesten dieses sich leicht mit Sentimentalität verschwisternde Bedürfnis nach Harmonie und Geborgenheit in einer häuslich-heilen Gemütlichkeit. Dies alles wird von der Wirklichkeit längst nicht mehr gedeckt. Der Industrialisierungsprozeß, der die Kleinfamilie als Institution geschaffen hat, beginnt sie nicht erst jetzt zugunsten einer Vielfalt anderer Lebensformen zurückzudrängen.
Bekanntlich hat sich ein auf Gefühle und emotionalen Zusammenhalt konzentrierter Familientypus erst relativ spät herausgebildet. Die Literatur geht in der Regel davon aus. daß um 1800 etwas entstand, was gemeinhin als die bürgerliche (Klein-)Familie bezeichnet wird. Ihr voran ging das sogenannte "Ganze Haus, die Einheit von Betrieb und Haushalt, in der mehrere Generationen, Gesellen und Gesinde mit dem Hausvater zusammenlebten. Diese Lebensform und ihre vermeintliche Harmonie ist bis in die Gegenwart oft verklärt worden. Die emotionale Wärme, die man romantisierend in sie hineinprojizierte. hat es so nicht gegeben. Erst die Trennung von Betrieb und Haushall läßt in der Binnenwelt der neuen Familie eine Gefühlskultur entstehen, die ihren Ausgang in zunehmend verinneriichlen Eltern-Kind-Beziehungen nimmt. Während diese in der alten Ordnung durch vergleichsweise starre Normen und Gebräuche geregelt waren, verlagert sich in der bürgerlichen Kleinfamilie die Modellierung des Gefühlslebens ins Innere. Emotionale. Psychologische und entfaltet eine differenzierte Erlebnisfähigkeit, prägt zugleich aber lautlos wirksame Abhängigkeilen und Zwänge aus.
Diese Psychologisierung und Verfeinerung von Emotionaütät schafft sich in der sentimentalen Literatur des späten 18. Jahrhunderts eine bis heute nicht verlorengegangene Gefühlssprache. Es gehört gleichsam zu einem Stück kulturellen deutschen Sonderwegs, daß die so entstandene Subjektivität nur teilweise im politischen und sozialen Erfahrungsraum verwirklicht werden konnte. Die Energien der Gebildeten verlagerten sich vor allem in die literarische Innerlichkeit und Naturerfahrung als Spiegel und Resonanzboden einer labilen seelischen Befindlichkeil. Als Realitätsflucht, "Eskapismus, läßt sich dieser Verinnerlichungsprozeß nicht angemessen begreifen. Man sagt zwar der deutschen Familie eine unpolitische und selbstgenügsame Privatheit nach, jedoch hat im 19. Jahrhundert das Wunschbild familiärer Liebe Entwürfe ermöglicht, in denen sich die Familie zum utopischen Modell einer Gesellschaft weitete, in der Intimität und Öffentlichkeit. Aufklärung und Liebe nicht getrennt bleiben. Im Buch von Manfred Schneider "Die kranke schöne Seele der Revolution. Heine. Börne, das Junge Deutschland. Marx und Engels (1980) wird gezeigt,

daß im literarischen Deutschland des Vormärz alle Forderungen und Wünsche der Liberalen, der Republikaner und der Sozialisten - trotz offensichtlicher Verschiedenheit der Lebensgeschichle und der literarischen Eigenarten - darauf abzielen, das gesellschaftliche öffentliche Leben gemäß den Erfahrungen und gemäß den poetischen Codes der sentimentalen Literatur über die privaten Beziehungen zu gestalten: als einfühlende und liebende Beziehungen der Menschen aller Klassen (17).

Dieses utopische Potential ist, nach dem Urteil von Jürgen Habermas, seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Schwinden begriffen. Als Beleg dafür, daß die "lebendige Bildungstradition der leklüretreibenden Großbürgerfamilie (Habermas 1968, 179) früherer Generalionen vergangen ist, verweist Habermas auf den neuen Typus der Familienzeitschrift, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum dominierenden Lesestoff wird. Die Familie ist zwar noch Resonanzboden dieses neuen Genres von Zeitschrift, sie bildet jedoch nach Habermas kein Forum kritischen Räsonncments aus. Damit wird ein Urteil ausgesprochen, das man im einzelnen wohl nuancieren muß. Karl Gutzkows "Unterhaltungen am häuslichen Kamin etwa, das erste deutsche Familienblatt, bietet in seinem Programm zweifellos mehr als eine Idylle:

Es gibt Zeiten, wo sich jede Überzeugung in die Familie flüchtet (...). Der häusliche Herd ist uns keine gedankenlose Plauderstube (...) er ist und wird uns bleiben das sichere Asyl ernster Lebensauffassung, (...) eine allgemeine Vereinigung der Menschen als Menschen, wenn auch Parteiung sie zerrisse (Gutzkow zit. n. Klüter 1963, 7).

Und auch die 1853 gegründete "Gartenlaube, unter anderen Familienzeit-schriflen wie "Über Land und Meer, "Daheim mit (um 1875) zirka zwei Millionen Lesern die erfolgreichste, ist keineswegs unpolitisch. Das Titelbild der ersten Nummer zeigt in der geschlossenen Heimeligkcit der Laube die um den Tisch versammelte Familie noch einmal als diskutierendes Forum, wenngleich in einem gemütvollen Tableau im Stile Ludwig Richters. Unübersehbar ist jedoch die Sentimentalität, die diese politisierende Öffentlichkeit en miniature aufweicht. Die politische Sphäre schrumpft im Medium dieser sentimentalen Intimisierung zu rührenden Genreszenen, in denen jegliche Problcmschärfe sanft verschwimmt.
Diese Erbschaft eines besonders gefühlsbetonten Familiensinns ist im 20. Jahrhundert trotz oder gerade wegen der nachhaltigen Erschütterungen durch zwei Weltkriege und der Erfahrungen der Nazizeit nicht verlorengegangen. Eine Restauration der Familie kennzeichnet insbesondere die fünfziger Jahre; auf die totale Einbeziehung in die sogenannte Volksgemeinschaft, die alle in familienübergreifenden Organisationen erfaßte, antwortet als Gegenreaktion der Rückzug in die politikferne Familienprivatheit. Aus dieser Zeit stammen wesentliche Impulse zu einer christdemokratisch geprägten Familienpolitik, die eine solche Familienzentrierung festschreiben wollte. Eine lange Reihe von Gesetzen und Hilfen stützen zum Teil bis heute diese Wertschätzung der Familie: steuerliche Begünstigung von Verheirateten mit Kindern, der Familienlastenausgleich, vielfältige Vergünstigungen für kinderreiche Familien, spezielle Wohnungsbauprogramme und Ausbildungsbeihilfen für die Kinder. Die hartnäckige Abwehr von Ganztagsschulen und -kindergärten, das geringe Ansehen von Internaten und das Mißtrauen gegenüber solchen Schulmodellen, die in anderen Ländern die Regel sind, verraten das scheinbar ungebrochene Vertrauen in eine vorrangig familiäre Erziehung.

Einem solchen, für das deutsche Selbstverständnis zentralen Familienideal widersprechen, wie schon gegen Negts These von der deutschen "Wärme und Aufmerksamkeit nach innen geltend gemacht wurde, die Fakten. Spätestens am Ende der sechziger Jahre bricht mit dem sich zuspitzenden Generationenkonflikt, den antiautoritären Erziehungsmodellen und alternativen Wohnformen die Diskrepanz zwischen Wunschbild und Realität auf, die von der Familienpolitik nicht mehr gekittet werden kann.
Die intime Innensicht dürrer statistischer Daten zeigt diese aus den Zumutungen der Realität erwachsende Widersprüchlichkeit und Konfliktgeladenheit der Familienstrukturen. Die Geburtenraten in Deutschland gehören zu den niedrigsten der Welt, die Scheidungsraten liegen, wie in anderen Industrienationen auch, relativ hoch, die "Normal-Familie ist inzwischen eher die Ausnahme, nicht mehr unbedingt die Regel.







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