Schleichend vollzieht sich die Machtergreifung der völkischen Rechten in Weimar, die Schritt für Schritt Herr wird über die Seelen des hier so tief in Goethe rwurzelten konservatin Bildungsbürgertums. Gerade die Ablehnung der Moderne macht es empfänglich für Sirenenklänge der Extremen, die Weimar als Kern aller echten Bildung, als Gral aller Kultur für Deutschland rein erhalten wollen. Verunsichert durch Revolution, Bürgerkrieg und die rasch voranschreitende industrielle Umwälzung, wird der Bürger nicht nur von materiellen Existenzängsten beherrscht, er fürchtet auch Entwurzelung, Atomisierung, die totale Vereinzelung in einer immer arbeitsteiligeren, von Kapitalismus und Eiberalismus geprägten Gesellschaft. Nicht die Chancen des Neuen sieht dieser Bürger, er schaut nostalgisch zurück, und die Völkischen bieten ihm das trügerische Konzept einer Ganzheit, einer Gemeinschaft, nach der er sich unbewußt sehnt und zu der er flüchten soll.
Finden ihre Sirenentöne in Weimar besonderes Gehör, weil die deutsche Klassik Ideal und Wirklichkeit durch eine tiefe, nahezu unüberbrückbare Kluft getrennt sah? Für die Deutschen habe die parlamentarische Ordnung nicht zu ihren Nationalidealen gehört, meint Norbert Elias, sondern zum faden, schmutzigen, alltäglichen Leben, eine Einstellung, die eine Rolle spielen mag, wenn ausgerechnet in der Stadt, in der sich die erste Republik ihre demokratische Verfassung gegeben hat, die parlamentarische Demokratie besonders heftig abgelehnt wird. Eingebaut in diese deutsche Tradition sieht Elias die Sehnsucht nach der außergewöhnlichen Stunde, dem ungewöhnlichen Ereignis, nach dem Spektakulären, das die Kraft hat, die Schranken zwischen Ideal und Wirklichkeit einzureißen und eine wahre »Gemeinschaft« wiederherzustellen. Das rmag nur das Genie, der große Nationalheld, aber das deutsche Pantheon hat nach der Tradition des Kaiserreichs, die ja so nah und in Weimar so lebendig ist, nur autokratische Helden zu bieten, Friedrich den Großen oder Bismarck. Jenseits aller Politik rmögen dies auch jene Kulturgenies, zu denen die Weimarer Großen zählen.
Die Völkischen artikulieren das Unbehagen an der Moderne, das in Weimar grassiert, am Aggressivsten. Nach der Nationalisierung Goethes durch die Goethe-Philologie des Kaiserreichs erfolgt nun die Aufnahme des Weimarer Olympiers ins rassisch gereinigte germanische Walhall. »Irgendein Umstand, der bewiese, daß die Freimaurerei Goethes Deutschtum beeinträchtigt habe, ist nicht vorhanden«, schreibt Adolf Bartels in »Goethe der Deutsche«. Für ihn, der Goethes Stammbaum über Jahrhunderte zurückrfolgt hat, gibt es keine Zweifel, »daß der große Dichter rassisch, wenn nicht den Eindruck eines reinen Germanen (nordischen Menschen), doch den eines ausgesprochenen Deutschen macht«.
Weimars Schlüsseljahr 1924, das die Vertreibung des Bauhauses und den Einzug von sieben Abgeordneten des Völkisch-Sozialen Blocks in das Fürstenhaus sieht, erlebt am 18. Januar einen martialischen Aufmarsch auf dem Marktplatz, wo sonst nur Buden mit Zwiebelzöpfen und Rostbratwürsten stehen. Eine schier unzählbare Zuschauermenge, so die »Allgemeine Thüringische Landeszeitung«, läßt diese Veranstaltung zur machtvollen und unrgeßlichen Kundgebung der weimarischen Bevölkerung für Reich und Ordnung werden. Da sind am Jahrestag der Reichsgründung die drei Kompanien der Rcichs-wehrgarnison vor dem Rathaus zur Parade angetreten, ihnen gegenüber stehen, mit dem Rücken zum Cranach-Haus, die Abordnungen der Kriegerreine mit ihren sieben Fahnen. Etliche frühere Offiziere, das Uniformtuch angelegt, sind ebenfalls erschienen und hören genüßlich zu, wie der kommandierende General Hasse, immerhin ein Beamter des neuen Staates, die Begründer der Republik in seiner revanchistischen Rede schmäht. In Versailles, sagt der General, sei einmal das Reich geschmiedet worden, aber »Männer der neuen Zeit« hätten vor fünf Jahren eben dort einen schimpflichen Vertrag unterzeichnet. »Wenn es dem deutschen Volke einmal wieder beschieden sein sollte, nach Versailles zu ziehen«, so trutzig der Kommandierende von Weimar, dann »möge es nicht wieder geschehen wie vor fünf Jahren, sondern so, wie unsere Väter einst gestanden haben noch 1870 und 1871«.
Rechte Paraden, Fahnen, Uniformen und Fackelzüge prägen das Bild Weimars in den zwanziger Jahren. Als Admiral Reinhard Scheer, der die deutsche Hochseeflotte in der Skagerrak-Schlacht kommandierte, 1928 mit militärischem Gepränge zu Grabe getragen wird, marschiert die Reichswehr mitsamt den alten Eliten auf, man trägt Uniform von den Kriegerreinen über die Verbindungen bis zum Schützenkorps, die Häuser entlang des Trauerkondukts sind beflaggt und haben Girlandenschmuck, doch die Farben der Republik sind nicht zu sehen.
Bei Wahlen erhalten in der Klassikerstadt erst die Völkischen, dann die Nationalsozialisten jeweils mehr Stimmenanteile als im thüringischen Durchschnitt, und der liegt schon erheblich über dem im Reich. So wählen immerhin 9,3 Prozent der Thüringer bei den Landtagswahlen am 10. Februar 1924 den Völkisch-Sozialen Block, in der Stadt Weimar sind es doppelt soviel, nämlich stattliche 18,6 Prozent. Wäre es nach den Bürgern der Ilm-Stadt gegangen, hätte Hitler schon am 6. Nomber 1932 die Macht übertragen werden müssen, denn da erzielen NSDAP und Deutschnationale bei den Reichstagswahlen zusammen mit 52,2 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen, im thüringischen Durchschnitt sind es 43,9, im ganzen Reich nur 42 Prozent. Wenn der Ordnungsbund, zu dem sich die Deutsche Volkspartei, die Deutschnationalen, die Demokraten und der Thüringer Landbund zusammengetan haben - mit Ausnahme der Demokraten ein Bündnis von durchweg monarchistisch Gesonnenen -, wenn diese rechtsbürgerliche Gruppierung nach den Wahlen von 1924 überhaupt regieren kann, dann nur unter Umkehrung des zuvor praktizierten roten Magdeburger Modells: Jetzt ist die Mitte-Rechtsregierung Leut-heußer von der Duldung der extremen Rechten abhängig, die unter ihrem Fraktionschef Artur Dintcr handfeste Auflagen macht: Wenn die Regierung vom Völkisch-Sozialen Block geduldet werden solle, dann müsse sie aus »rein deutschblütigen, nicht-marxistischen Männern« bestehen. Und wenn der Anführer der Völkischen in seiner Jungfernrede die bedingungslose Entfernung von Juden aus allen Regierungs- und Beamtenstellen sowie die Entlassung von politischen Beamten fordert, nimmt er jenes Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums voraus, mit dem Hitler 1933 alle diese Ziele durchsetzen wird. Namens der Völkischen fordert Dinter das Verbot des Schächtens, die Säuberung des Spiels des Nationaltheaters von jüdischen Autoren und die Einführung einer Quote an der Unirsität Jena, welche die Zahl jüdischer Studenten und Professoren begrenzen soll. Das meiste bleibt bloße Landtagsrhetorik. Doch für Hitler, der Dinter 1925 zum Gauleiter von Großthüringen bestellt, ist dessen F.rpressungsstrategie in Weimar ein erster Vorlauf, dem 1930 mit Wilhelm Frick dann der eigentliche Modellrsuch folgen wird.
Um der Völkisch-Sozialen Fraktion entgegenzukommen, streichen die Ordnungsbündler Arnold Paulssen, den Ghef der Deutschen Demokratischen Partei und erfahrensten Politiker der Bürgerlichen, von ihrer Liste der Ministrablen. Paulssen hat die erste thüringische Nachkriegskoalition mit der SPD angeführt und ist deshalb für die extreme Rechte nicht akzepel. Dinter rlangt Anfang April die Entlassung von Walter Loeb, dem Präsidenten der thüringischen Staatsbank, und stellt die Ernennung des Weimarer Oberstaatsanwalts Frieders in Frage, weil er Jude sei. Und er läßt keinen Zweifel daran, daß er das demokratische System für Unfug hält, weil ein Volk durch Mehrheitsbeschlüsse von Parteien nicht regiert werden könne. Parlamente müßten durch ständische Berufskammern abgelöst werden. Die Führung habe bei überragenden Köpfen zu liegen, bei Männern, die genau wissen, was sie wollen, einen klaren Sinn für das Wesentliche und Notwendige in allen Fragen des Volkslebens haben und mit den nötigen diktatorischen Vollmachten ausgerüstet sind. »Wir Völkischen ziehen daher nur notgedrungen in die Parlamente ein, um diese Parlamente, solange sie noch bestehen, wenigstens zu kontrollieren und nach Möglichkeit dem Mchrheitsunfuge zu steuern «
Wenn die extreme Rechte jetzt häu aus ganz Deutschland nach Weimar pilgert, um in der Stadt Goethes und Schillers Heerschau zu halten, hat dies mit der Rücksichtnahme auf die Völkischen im Landtag zu tun, ohne die Richard Leutheußer mit seinem Ordnungsbund nicht regieren kann. Das Verbot der NSDAP und ihres norddeutschen Flügels, der Nationalsozialistischen Freiheitspartei, das nach dem Putsch vom 9. Nomber 1923 im ganzen Reich erging, wird in Thüringen schon im März 1924, einen Monat nach der Landtagswahl, aufgehoben. Als Hitler aus Landsberg entlassen wird, ist Thüringen für ihn ein besseres Pflaster als selbst Bayern, denn der Innenminister der Ordnungsbund-Regierung hebt das Rederbot, das fast im gesamten Reich über ihn rhängt ist, unter dem Druck der Völkischen auf. Gerüchtweise rlautet damals aus München sogar, Hitler erwäge, sein Hauptquartier von der Isar nach Thüringen zu rlegen.
Den Anfang der völkischen Paraden in Weimar macht 1924 die Nationalsozialistische Freiheitspartei (NSFP) unter Führung Luden-dorffs und Gregor Straßers, die am 15. August zu ihrem »Deutschen Tag« aufmarschiert und ihren »Reichsparteitag« im Deutschen Nationaltheater hält. Mit Fahnen und Standarten marschieren dreitausend Hakenkreuzler vor dem Theater auf und bilden ein Karree, zwei Musikkapellen neben dem Goethe-Schiller-Denkmal spielen Marschmusik, bis der Generalquartiermeister des großen Krieges im schwarzen Gehrock vor roten Hakenkreuzfahnen auf dem Balkon erscheint, Rache an den »Nomberrbrechern« und die Aburteilung Strese-manns als Hochrräter rlangt. Blindlings, so der Schwur der angetretenen Srurmmannen, werden sie Ludendorff folgen.
Wohin die Reise gehen soll, hat der »Deutsche Aar«, das in Ilmenau erscheinende »Kampfblatt der Nationalsozialisten Deutschlands«, zur Begrüßung in seiner Nummer vom 15. August 1924 überaus präzise formuliert: »Für uns gilt heute nur eins, zusammen zu stehen in Not und Tod, in Einmütigkeit wieder gut zu machen, was vor fünf Jahren am deutschen Volk hier in Weimar rbrochen wurde.« Daß Weimar als Aufmarschort die ideale Plattform bietet, der Republik jede Inanspruchnahme des Geists von Weimar zu bestreiten, macht eine Rede Artur Dimers deutlich. Vor dem Dioskurendenkmal klagt er »diese Nomberrepublik« der Verlogenheit an, weil sie Schiller und Goethe zu den Ihren rechne und für den Internationalismus beanspruche: »Man weiß wirklich nicht, was größer ist, die Dummheit dieser Regierungsleute oder die Frechheit, mit der sie alle Werte unseres Volkstums ins Gegenteil rfälschen.«
Als der Feldherr des rlorenen Kriegs vor dem Kirchhof beim Ehrenmahl der Gefallenen das Defilee seines Gefolges abnimmt, ziehen unter den sieben- bis achttausend Vorbeimarschierenden recht viele alte Herren mit geschulterten Spazierstöcken und Regenschirmen mit. Wer kann sich damals schon vorstellen, daß aus solchen Aufmärschen, die wahrlich nicht frei von Komik sind, einmal rechtsextreme Wogen werden, deren Wucht die Demokratie hinwegspülen wird? Beobachter wie Harry Graf Kessler machen sich eher lustig über diesen »Deutschen Tag«. Vor dem Goethehaus entdeckt er einen »Corso dcutschnationaler Säuglinge«, von denen jeder eine schwarz-weiß-rote Fahne in seinem Kinderwagen führt, »ein oder zwei dieser Säuglinge waren sogar Hakenkreuzler«. Und er fragt mit sanfter Ironie: »Wird es demnächst auch Stahlhelme für Säuglinge geben?« Ein Fiasko sei die ganze Sache gewesen, notiert der Rote Graf in seinem Tagebuch und zeigt sich beruhigt: »Kein Geld und kein Geist, damit macht man keine Volksbewegung, geschweige denn eine Revolution.«
Ein Jahr später, Adolf Hitler ist aus Landsberg entlassen und hat die NSDAP wiedergegründet, haben die Wellen schon an Kraft gewonnen. Thüringen wird jetzt zu einem der »wichtigsten Fluchträume« für die NSDAP, wie Günther Mai die wachsende Bedeutung des Landes für die Nationalsozialisten unter der Ordnungsbund-Regierung treffend definiert. Zusammen mit Streicher und Rohm begibt sich der »Führer« 1925 erstmals nach Weimar und hält vier Versammlungen in geschlossenen Sälen ab. Er kommt im »Härtung«, wie »Der Nationalsozialist«, das Nachfolgeblatt des »Deutschen Aar«, den Monat März auf neugermanisch nennt, und wird von diesem als »Edelmensch« von »gewaltigem Ethos« begrüßt, der »keine Parteimission, sondern eine Volksmission, eine ihm von Gott auferlegte Mission am deutschen Volk zu erfüllen gewillt und befähigt ist«.
Im Jahr darauf beruft Hitler den ersten Reichsparteitag der NSDAP seit ihrer Wiederbegründung nach Weimar ein. Hier ruft er die Hitler-Jugend ins Leben; auf der Bühne des Nationaltheaters weiht er die ersten Standarten und übergibt die »Blutfahne« des 9. Nomber 1923 an die neu geschaffene SS.
In sich über manches noch zerstritten, demonstriert die Partei nach außen Kampfkraft und Geschlossenheit, auch wenn die Heerschau nicht ohne Komplikationen rläuft. Kaum sind die ersten Nationalsozialisten eingetroffen, kommt es zu Zusammenstößen. Die Polizei muß das sozialdemokratische Volkshaus am Bahnhof vor anstürmenden SA-Männern schützen und beschlagnahmt Dolche und Totschläger. Liest man die Berichte der »Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung«, dann sind Anrempeleien von Straßenpassanten an der Tagesordnung, bekannte Weimaraner werden »durch Schimpfworte beleidigt«, weil sie für Juden gehalten werden. Vor allem junge Frauen beschweren sich, weil man sie wegen ihres Bubikopfes beschimpft. Offensichtlich erwarten Nationalsozialisten entweder Dutt, Zöpfe oder Gretchenfrisur, Kurzhaarschnitt bei Frauen steht für Amerika-nismus, Emanzipation, Moderne und ist von Übel. Und ein Oberwachtmeister wird in Ausübung seines Dienstes vor dem Hotel »Hohcnzollern« nachts von einem Unbekannten, »mittelgroß, bekleidet mit grauer Hemdbluse und ebensolcher Mütze und Hakenkreuz am linken Oberarm, durch einen Schuß in die linke Brust schwer rletzt«. Doch im rklärenden Rückblick gilt dieser erste Reichsparteitag nach Hitlers Festungshaft bei Nationalsozialisten als politischer Durchbruch, denn er leitet den Wiederaufstieg als ernstzunehmende politische Kraft im Reichsmaßs ein. Fritz Sauckel wird 1938 schreiben, von Hitlers Auftreten in Weimar 1926 datiere »die Befreiung des deutschen Volkes« und die »geistige Überwindung« dessen, was man das »System von Weimar« nennt.
Der da zum Generalappell in die Ilm-Stadt gekommen ist, wird auf der Titelseite des »Nationalsozialisten« in der ersten Nummer des »Heuer«, wie das Parteiblatt teutsch allewege den Monat Juli heißt, mit einem Sonett begrüßt, das weniger wegen seiner dichterischen Qualitäten als wegen seines Autors Beachtung rdient:
»Wir lieben Dich, weil Dich die Feigen hassen,
weil Du Verkörperung von unserem Willen:
die Freiheitssehnsucht unsres Volks zu stillen,
drum werden wir Dich bis zum Tod nicht lassen!«
Der Verfasser heißt Baidur von Schirach, zählt neunzehn Lenze und ist als Mitglied der völkischen Wehrjugendgruppe »Knappenschaft«, die in Weimar den Saalschutz für Hitlers Versammlungen stellt, schon 1924 vor Ludendorff auf dem Theaterplatz vorbeimarschiert - in grauer Windjacke, Kniebundhosen und Skimütze aus grauem Segeltuch, die man seit dem Marsch zur Feldherrnhalle am 9. Nomber 1923 auch Hitlermütze nennt. Am Koppel trägt er den kurzen Feldspaten im Lederfutteral. Sein Weg zu Hitler, der ihn 1931 schließlich zum Reichsjugendführer und 1940 zum Gauleiter von Wien bestellt, mag in vieler Hinsicht exemplarisch sein für die Moti, die das konservati Weimarer Bildungsbürgertum gegen Ende der zwanziger Jahre zur extremen Rechten führt. Daß dabei gerade in Weimar nicht die Sozialrevolutionäre Komponente, das Plebejertum der SA-Formationen eine Rolle spielt, rsteht sich von selbst. Es ist vielmehr die konservativ sich gebende, antimoderne, ganz auf Bewahrung des deutschen Kulturerbes gerichtete Tendenz, ihr Kulturkampf für die »deutsche Seele« und gegen die Moderne, gegen den »Kulturbolschewismus« und gegen den »politischen und sexuellen Kommunismus«, mit dem die NSDAP in der Stadt Goethes und Schillers ihre erstaunlichen Erfolge erzielt. Das gilt vor allem für die ältere Generation, während sich die jüngere auch durch die Radikalität angezogen fühlt, mit der Hitler das ganze System in Frage stellt. Wenn dabei heftiger Antisemitismus eine Rolle spielt, dann nicht der blindwütige, aggressi, Pogromstimmungen schürende Antisemitismus eines Julius Streicher, sondern der auf den klassischen Kulturantisemitismus des Bürgertums gegründete, freilich radikale und in der Wirkung nicht minder gefährliche eines Adolf Bartels.
Schirach entstammt konservativ-nationalem Milieu, sein Vater, Carl Baily Norris von Schirach, preußischer Rittmeister der Gardekürassiere, hatte aus Liebe zum Theater seinen Abschied genommen, um bei dem berühmten Martersteig Regie zu lernen. 1908 zum letzten Großherzoglichen Theaterintendanten in Weimar berufen, arbeitet er mit Bartels das Programm der ersten Schillerfestspiele für die Deutsche Jugend aus. Im Wagnerschen Sinne, sagt er einmal von sich, fühle er sich als Deutscher, und so ist es kein Wunder, wenn die Moderne kaum rtreten ist und neben den Klassikern und Kleist, neben Wildenbruch und etlichen Kassenfüllern vor allem Wagner-Opern eine zentrale Stelle in allen seinen Spielplänen einnehmen.
Xenophobische Neigungen kann man den Schirachs schon wegen ihrer vielfältigen Verbindungen zu Amerika kaum nachsagen. Baldurs Großvater kämpfte als Major auf Seiten der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg, rlor in der Schlacht am Bull Run ein Bein und stand am Sarge Lincolns Ehrenwache. Baldurs Vater ist Halbamerikaner, seine Mutter Emma eine Amerikanerin, die darauf besteht, daß in ihrem Hause mit den Kindern ausschließlich Englisch gesprochen wird - eine Tatsache, die den Sohn bei Gleichaltrigen zum Außenseiter werden läßt. Erzogen wird der spätere Reichsjugendführer im Waldpädagogium auf dem Hexenberg im wenige Kilometer entfernten Bad Berka, einem Internat, das nach den Maximen des Reformpädagogen Hermann Lietz geleitet wird: spartanische Kost und Unterbringung, gleichgewichtige Ausbildung von Geist und Körper sowie strikte Ablehnung aller»Großstadt-Dekadenz«.
Schirach-Biograph Michael Wortmann bescheinigt den Lietzschcn Ideen Affinität zur Heimatkunst eines Adolf Bartels, einen deutlichen antizivilisatorischen Affekt und radikalen Antisemitismus obendrein. Alles dies findet Baidur 1919 in Weimar wieder, wo er unter den Einfluß des Bartels-Schülers und späteren stellrtretenden Gauleiters Hans Serus Ziegler gerät, der an der Um bald die Rolle des bösartigsten, giftigsten Einpeitschers nationalsozialistischer Kuturpolitik spielen wird. Der junge Schirach liest Houston Stewart Chamberlain, Adolf Bartels und Henry Fords »Der internationale Jude«. Durch Ziegler, der die Knappenschaft ins Leben gerufen und den Namen Hitler-Jugend erfunden hatte, lernt er Hitler kennen, drückt ihm die Hand und kann seither dessen Bann nicht mehr entrinnen. Doch auch der vielseitig gebildete Vater fühlt sich von Hitler angezogen. Er lernt ihn bei einer »Walküre«-Aufführung im Nationaltheater kennen, staunt über dessen korrekten Smoking - »Immerhin, der Mann weiß, was sich gehört« -, spricht mit ihm über die Aufführung und findet Hitlers Kenntnisse von Bühnentechnik und Regie außerordentlich bemerkenswert. Am nächsten Tag wird Hitler bei den Schirachs zum Tee geladen, erscheint mit einem Blumenstrauß, küßt der Dame des Hauses formvollendet die Hand und zeigt sich als aufmerksamer Zuhörer. Man spricht fast nur über Kunst, und als der Besucher gegangen ist, sagt Carl von Schirach zu seinem Sohn: »In meinem ganzen Leben ist mir kein Laie begegnet, der soviel von Musik rsteht, vor allem von Richard Wagner, wie dein Hitler.« Und die Mutter meint: »How well he [Hitler] behas!«
Es ist nicht der vulgäre und brüllende Hitler, nicht der Teppich-beißer, sondern der sanfte, der werbende Hitler, der Bewunderer schöner Frauen, der Mann, der sich als Freund von Kunst und Architektur ausgibt, der im konservatin Bildungsbürgertum Proselyten macht. Carl von Schirach, obschon seit der Revolution seines Amtes enthoben und Beamter im Wartestand, ist in Weimar alles andere denn ein einflußloser Mann. Als Vorsitzender der Künstlerreinigung unterhält er enge Kontakte zu Malern, Dichtern und Schauspielern. Wenn er 1926 der NSDAP beitritt und diesen Schritt nicht rheimlicht, muß er zwar nicht gleich Schule machen. Aber sein Beispiel trägt dazu bei, in seinen Kreisen die Hemmschwelle gegenüber der extremen Rechten abzubauen. Übrigens weist Bernard Post darauf hin, daß auch Martin Bormann zu jenen engsten Vertrauten Hitlers zählt, die in Weimar aufwuchsen. Vom Faktotum in der thüringischen Gauleitung arbeitet er sich über den Kassierer und Buchhalter schließlich zum Privatsekretär Hitlers, Leiter der Parteikanzlei und Reichsminister hoch. Sein Bruder Albert, ebenfalls in Weimar groß geworden, bringt es bis zum persönlichen Adjutanten Hitlers.
Für den Weg vom National-Konservatin zur radikalen Rechten steht auch das Nietzsche-Archiv, welches Elisabeth Förster-Nietzsche mit ihren Neffen Max und Adalbert Oehler als eine Art Familienunternehmen betreibt. Ihre antirepublikanische Einstellung rhehlt sie schon im Winter 1918 nicht, als sie die Stiftung eines Nietzsche-Preises durch den Hamburger Großkaufmann Christian Lassen akzeptiert. Lassen ist ein wohlhabender Überseespediteur mit Niederlassungen in Skandinavien, Antwerpen und Rotterdam, er wähnt die Kultur Deutschlands nach dem Zusammenbruch in Gefahr, weil jetzt »ungebildete Schwätzer und pöbelhafte Emporkömmlinge« das Sagen hätten. Deshalb will er Werke ausgezeichnet sehen, die für das Problem der Rangordnung und ihre psychologischen Erkenntnisse Verständnis zeigen, auf der »alle Kultur, Sozialethik und Politik beruhen« - Werke, die »Verantwortung für die geistige Macht Deutschlands« bezeugen. Es gelte, sich dem Zeitgeist, vor allem dem »bedrückenden Zwang zur Massenphraserei« zu entziehen.
Der Preis wird rliehen, aber derlei Begründung in Zeiten revolutionärer Umwälzungen publik zu machen, darin sind Elisabeth und der Spender einig, erscheint doch reichlich inopportun. Unter den ersten Ausgezeichneten findet sich übrigens Thomas Mann mit seinem »Tagebuch eines Unpolitischen«, das er während des Krieges geschrieben und in dem er leidenschaftlich für die deutsche Sache, gegen den »oberflächlichen« Westen und gegen die Demokratie Partei ergriffen hat. Aus innerer Überzeugung rückt er von dem Werk bald ab, aber das Preisgeld in Höhe von eintausendfünfhundert Mark nimmt er dankend entgegen. Zu den späteren Preisträgern zählt Oswald Spengler mit seinem »Untergang des Abendlands«.
Seit die Schwester das Bild des Bruders ins Nationale, Preußische und Patriotisch-Heldenhafte rbog, gilt sie als nationale Priesterin am Heiligtum Zarathustras, Hindenburg setzt ihr nach der Inflation eine Ehrenpension aus, die Unirsität Jena rleiht ihr die Ehrendoktorwürde, eine Gruppe deutscher Professoren nominiert die »Naumburger Tugend« gar für den Nobelpreis, und Kaiserin Hermine, die Frau Wilhelms IL, trinkt bei ihr Tee. In Weimar hält sie Hof, als ob sie die heimlich regierende Fürstin des deutschen nationalen Lagers sei. Alle neu zur Weimarer Garnison abgestellten Offiziere machen einen offiziellen Antrittsbesuch in der Villa Silberblick - auch der General Hasse, als er mit seinem S von Kassel nach Weimar rsetzt wird. Kessler sitzt mit Elisabeth gerade beim Tee, als der General erscheint und ihm die Schwester des Philosophen fast um den Hals fällt. »Sie hat ihr ßackfischherz für das bunte Tuch bewahrt«, notiert der Graf und ärgert sich, daß sie beim Einzug des Generals, der tags zuvor unter großer Anteilnahme der Bevölkerung stattfand, ihren kleinen Großneffen Oehler auf dem Bock ihres Wagens »mit einem Stahlhelm auf dem Kopf und einer Trommel« hat mitfahren lassen. »Der widerwärtige Eindruck, den die Verbrüderung von >GartenlaubenHört den Artikel, den Deutschlands Feinde ersannen, um uns auf ewig zu schänden.<
Danach folgt die Verlesung von Artikel 231 des Versailler Vertrages, der Deutschland zum Urheber des Kriegs und Verantwortlichen für alle Schäden erklärt.
Empört und entschlossen hat die Klasse darauf im Chor zu antworten: >Die deutsche Schande soll brennen in unseren Seelen bis zu dem Tag der Ehre und der Freiheit.«
Um die Erwachsenen von solcher vaterländischer Indoktrination nicht auszunehmen, werden auf Beschluß der Regierung Sauckcl alle Briefe, die Thüringer Ministerien an Empfänger innerhalb der Reichsgrenzen rschicken, mit dem Stempel rsehen: »Wer behauptet, Deutschland sei am Kriege schuld, lügt! Diese Lüge ist die Wurzel unserer Not.«
Wenn die Nationalsozialisten Thüringen lange vor der Machtübertragung an Hitler zum Paradefeld für dessen künftige Politik machen können, hat dies auch mit dem Schulterschluß von Politik und Religion zu tun. Nirgendwo in Deutschland ist die Kirchenbewegung Deutsche Christen (KDC) mächtiger als in Thüringen, wo sie Ende der zwanziger Jahre im Wieratal bei Altenburg geboren wurde. Als Symbol hat sie sich ein Hakenkreuz gewählt, das wie ein Sonnenrad um das Kreuz gewunden ist. »In der Person des Führers sehen wir den Gottgesandten, der Deutschland vor den Herrn der Geschichte stellt«, schreibt Siegfried Leffler, evangelischer Pfarrer von Oberwiera, begeisterter Nationalsozialist und Mitbegründer jener Kirchenbewegung Deutsche Christen (KDC), die Kurt Meier eine unerhörte »schwärmerische Vermischung von Zeitlichem und Ewigem« nennt. Daß Hitler, der Messias der Deutschen, »vom Gottesdienst der Worte, vom Gottesdienst der Pharisäer und Leviten zum heiligen Dienst des Samariters« rufe, dieser Satz Lefflers findet sich in seiner Broschüre »Christus im Dritten Reich«, erschienen im Verlag »Deutsche Christen«, der seinen Sitz am Carl-August-Platz 1 in Weimar hat. Auch die Zeitung »Christenkreuz und Hakenkreuz« erscheint hier, die später den Titel »Deutsche Frömmigkeit« erhält.
Schon Wilhelm Frick steht ja mit seinen Schulgcbcten für eine gewisse Nähe von NSDAP und konservativ-völkischem Christentum, die erst nach 1933, mit wachsendem Einfluß der SS und ihres Neuheidentums, aber auch mit Beginn des innerkirchlichen Kampfs zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche an Bedeutung rliert. Nach ihrer ganzen Tradition auf eine konservati Obrigkeit hin orientiert, hält die protestantische Kirche wenn nicht feindliche, dann doch betont kritische Distanz zur Republik. Und nicht wenige Pastoren ersetzen die mit der Revolution beseitigte Ehe von Thron und Altar durch eine Ehe von Volk, Volkstum oder Nation mit dem Altar. Als das Deutsche Nationaltheater Anfang der zwanziger Jahre Schnitzlers »Reigen« aufführt, sammelt Pfarrer Ernst Alberti in Oberweimar, der örtliche Vertreter des »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes«, Unterschriften, um das angeblich unsittliche Spektakel, das zudem von einem Juden stammt, zu rhindern. Schon Paul Anton de Lagarde, renommierter Orientalist, Antisemit und völkischer Prophet der »Deutschheit«, hatte während des Bismarckschen Kulturkampfs die Kluft zwischen Katholiken und Protestanten durch eine nationale Religion überwinden wollen, in der die Interessen von Vaterland und Religion gleichberechtigt miteinander harmonieren sollten. Auf Paul de Lagarde beruft sich Arthur Dinter, der erste Gauleiter der NSDAP in Thüringen, der mit seinen religiösen Sektierer-Ideen freilich Hitler so sehr auf die Nern geht, daß er 1927 den völkischen Dichter und Ideologen durch den Ingenieur und Organisator Fritz Sauckel ersetzt. Der gebürtige Elsässer Dinter, von Hause aus Studienrat und Regisseur, zweifach zum Doktor der Philosophie und der Naturwissenschaften promoviert, ist überaus gebildet und unsäglich borniert zugleich.
Bekanntgeworden durch seinen antisemitischen Roman »Die Sünde wider das Blut«, der in kürzester Zeit eine Auflage von fünfzigtausend Exemplaren erzielt, fordert er die »Wiederherstellung der reinen Heilandslehre«, was für ihn soviel heißt wie: die Axt an die jüdische Wurzel des Christentums zu legen und das Alte Testament, aber auch den Apostel Paulus einfach zu rwerfen. Galiläa bedeute Heidengau, woraus zu ersehen sei, daß Christus, der Galiläer, kein Rassejude, sondern Arier gewesen sei. Wenn er die »Vollendung der Reformation« rlangt, bedeutet dies Befreiung von einem »artfremden« Christentum, das »für das mittelmeerische Rassenchaos« zurechtgemacht, den Deutschen aufgezwungen wurde und folglich in ihren Herzen nicht habe Wurzeln fassen können. Als Dinter zur Verwirklichung seiner Lehre »am 8. Ncbelung |Nomber| 1927« eigens eine »Geistchristliche Religionsgemeinschaft« in Nürnberg gründet und Protestanten wie Katholiken im Reichstagswahlkampf 1928 gleichermaßen angreift, wird er schließlich als Störenfried aus der NSDAP ausgeschlossen.
Gemessen an Dinters christlich-ariosophischen Spintisierereien wirkt die Kirchenbewegung Deutsche Christen (KDC) in Thüringen beinahe nüchtern, obschon auch sie eine »völkisch-christliche Lebensgemeinschaft«, eine überkonfessionelle Nationalkirchc und eine neue Einheit von Volkstum, Rasse und christlicher Religion rlangt. Zumindest am Anfang seiner Kirchen bewegung will ein Mann wie Leffler die Einheit der Bibel bewahren - und damit auch das Alte Testament, das er einmal ein »Beispiel göttlicher Volkserziehung« nennt. Aber natürlich sind er und sein Pfarrerkollege Julius Leutheu-ser, welche die ersten KDC-Gruppen in der Nähe von Altenburg organisieren, überzeugte Antisemiten und Nationalsozialisten, die gleichzeitig für die Partei wie für ihre kirchliche Bewegung missionieren und dabei aufs engste mit Volksschullehrern zusammenarbeiten. Für einen Pfarrer wie Julius Leutheuser wird Hitler zum »Vollstrecker göttlichen Geschichtswirkens«, meint Gabriele Lautenschläger, der KDC-Pfarrer habe diesen welthistorischen Segensbogen »von Jesus über Karl den Großen, Luther und Bismarck bis hin zu Hitler« gespannt. Der Nationalsozialismus galt den Deutschen Christen des Wieratals als Vollendung der Reformation und Hitler als die deutsche Inkarnation des »ewigen Christus«. Bald hat die Bewegung Lefflers und Leut-heusers innerhalb der thüringischen Kirche soviel Stoßkraft erlangt, daß sie bei den Landeskirchenwahlen in Thüringen am 22. Januar 1933, also noch vor Hitlers Regierungsantritt, fast ein Drittel aller Stimmen erhält und im Bunde mit konservatin Gruppen den Ausschluß der religiösen Sozialisten durchsetzt: »Wer die marxistische oder eine andere materialistische Weltanschauung rtritt oder den Klassenkampf schürt, kann nicht Mitglied der Thüringer Evangelischen Kirche sein«, heißt es in einem Antrag der Deutschen Christen, der vom landeskirchlichen Gesetzgebungsausschuß angenommen wird. Als im ganzen Reich zum 23. Juli neue Kirchenwahlen anberaumt werden, erringt die KDC in Thüringen mit sechsundvierzig zu fünf Abgeordneten eine überwältigende Mehrheit im Landeskirchentag.
Neben Eisenach zählt Weimar zu den Hochburgen der KDC im Thüringer Land. Siegfried Leffler wechselt im Juni 1933 ins Thüringer Volksbildungsministcrium über, dessen Chef Eritz Wächtler ebenfalls Deutscher Christ und Mitglied des Landeskirchentages ist. Kaum im neuen Amt, konzipiert der Pfarrer aus Obcrwiera, jetzt als Leiter der Abteilung Jugend- und Volkserziehung, nach Frickschem Vorbild ein neues Schulgebet:
»Schütze, Herr, mit starker Hand
unser Volk und Vaterland!
Laß' auf unsres Führers Pfade
leuchten Deine Huld und Gnade!
Weck' in unserem Herz aufs neue
deutscher Ahnen Kraft und Treue!
Und so laß' uns stark und rein
Deine deutschen Kinder sein!«
Auch als Oberregierungsrat behält Leffler alle wichtigen Fäden der von ihm gegründeten Bewegung in der Hand und arbeitet aufs engste mit dem neuen Landesbischof zusammen. »Der neue Staat steht als der neue Tempel Gottes unterm Volk«, heißt es im August 1933 in einem Bericht der »Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung« über eine Feierstunde der Deutschen Christen Weimars im Horst-Wessel-Haus, auf der Leffler und sein Kollege Leutheuser referierten. Friedrich Lienhards alter »Weimar-Wartburg-Lebensbegriff« wird mit völlig neuem Inhalt gefüllt, als Martin Sasse, Pfarrer aus Ober-lauscha, 1934 sein Kirchenregiment hoch droben über der Stadt Eisenach beginnt. Von den sieben Mitgliedern des Thüringer Landeskirchenrats, auf den er sich stützen kann, sind sechs Mitglieder der KDC, von den sieben Kirchenregierungsräten, denen die Verwaltung der Landeskirche obliegt, gehört nur einer nicht der Leffler-Bewegung an. Indes die in manchem moderatere Berliner Spielart det Deutschen Christen zusammenbricht, weil Hitler seine Reichskirchenpläne nach der Gründung der Bekenntnisgemeinschaft aufgeben muß, werden von der Wartburg aus viele Landeskirchen Mittel- und Norddeutschlands für die radikaleren Ideen der Thüringer KDC gewonnen.
Feierlich wird am 6. Mai 1939 auf der Wartburg, dem Symbol des deutschen Protestantismus, ein »Institut zur Erforschung und Beseitigung jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« eingeweiht, das zur Neuaufnahme des »unrfälschten Evangeliums« durch den Menschen des »Dritten Reichs« beitragen soll, wie Friedrich Werner erklärt. Werner ist Nationalsozialist, Deutscher Christ und Präsident der Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche und des preußischen Evangelischen Oberkirchenrats. Die Leitung des Instituts obliegt dem Oberregierungsrat Siegfried Leffler aus Weimar, dem Spiritus rector des Unternehmens, der in Hitler den Messias eines deutschen Tatchristentums sieht.
»Im Kampf gegen den Weltfeind Nr. 1, das Judentum, begrüßen wir Gauleiter Streicher!« lautet ein Telegramm, das die Mitglieder der Gründungsrsammlung von der Wartburg an den Herausgeber des übelriechenden, psychopathologischen Hetzblattes »Der Stürmer« schicken. Nach dem Pogrom vom 9. Nomber 1938, praktisch zur Rechtfertigung der Zerstörung der Synagogen, röffentlicht der Thüringer Landesbischof Martin Sasse eine aus Zitaten Luthers zusammengestellte Broschüre, als Handreichung zum Judenhaß und Argumentationshilfe für seine Pfarrer gedacht. Ihr Titel: »Martin Luther über die Juden: Fort mit ihnen.« Synagogen sind Teufelsnester, erfährt der Leser, die schon Luther zu zerstören und mit Feuer anzustecken empfahl. Und im Vorwort, diktiert in der Wartburg-Stadt Eisenach am 23. Nomber 1938, schreibt Sasse: »Am 10. Nomber 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als erster deutscher Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.« Und als seinem Kirchenbruder, dem Köstritzer Bekenntnis-Pfarrer und »Halbjuden« Werner Sylten, einem früheren Freikorpskämpfer und Weltkriegsteilnehmer, eine Ehrenurkunde des Kyffhäuserbundes zuerkannt wird, denunziert er ihn beim Gothaer Wehrbezirkskommandanten wegen seiner »nichtarischen« Abstammung. Interessanterweise, schreiben Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder in ihrer Reihe »Juden - Christen - Deutsche«, stellte sich das Wehrbezirkskommando vor den Bekenntnis-Pfarrer und belehrte den Landeskirchenrat in Eisenach, daß nach der Verordnung über das militärische Erfassungswesen in Verbindung mit den Ausführungsbestimmungen zu den »Nürnberger Gesetzen« Sylten »keineswegs als >|ude< gelte«. Eine wahrlich rkehrte Welt: Der Bischof wird zum eifernden Exekutor nationalsozialistischer Ideologie, indes der Militär Gerechtigkeit walten läßt. Christus predigte Liebe, sein deutschchristlicher Hirte rkündigt den Rassenhaß.