Anders als im Kapitel über die deutsch-amerikanische Raumerfahrung scheinen die kulturspezifischen Differenzen im alltäglichen Umgang mit der Zeit in beiden Ländern gering. Die bis in die persönlichsten Bereiche eingedrungene Aufsplitterung des einheitlichen Zeitbewußtseins in kleine und kleinste Segmente und Sequenzen ist in allen Industrienationen wirksam. Zu konstatieren sind hier weniger dirgente als vielmehr konrgente Erfahrungen. Edward T. Hall nennt in "The Dance of Life ganz allgemein die lineare Alltagszeit eine monochrone Zeit ("M-time). Im Vergleich zur polychronen Zeit ("P-time that is, many-things-at-a-time) meint die M-time ("one-thing-at-a-time) eine Zeil, die alles ihrem Ordnungssystem, ihren "schcdules unterwirft (Hall 1983b. 230).
In fact, social and business life, en ones sex life. is commonly schedule-dominated. By scheduling, we tmentalize; this makes il possible to concentrate on one thing at a time, but it also reduces the conlext (ebd., 48).
Was bei dem Amerikaner Hall eher gemäßigt anklingt - eine Kritik der Ein-dimensionalität und Schematik dieser Zeit -, rschärft sich bei europäischen Beobachtern (Henri Lefebvre, Klaus Laermann, Karl Markus Michel) zur Abwertung. Vor dem Hintergrund einer häu nostalgisch rklärten zyklisch-naturalen Zeit erscheint der moderne Alltag leer, zerhackt, gleich-gültig, ent-qualifizierl und ohne geschlossene, sinngebende Struktur. Zu wenig wird dabei beachtet und untersucht, in welchem Maße Fixpunkte. Rhythmen und Rituale eine relati Geschlossenheit und Gliederung der Alltagszeit herausgebildet haben. In der Bundesrepublik sind etwa der Jahresurlaub. Feiertage, das Wochenende, der Feierabend, die Essenspausen oder Fernsehzeiten (Tagesund Sportschau, Tagesthemen, Krimis. Sesamstraße etc.) zu solchen deutlichen Orientierungspunkten geworden. Aber auch rborgene Zeitpläne durchziehen den deutschen Alltag. Nicht grundlos überfällt manchen am Sonntagnachmittag der Appetit auf Sahnetorte und Kuchen, der auch nur zu dieser Zeit gestillt werden kann. Die Öffnungszeiten der Konditoreien konditionieren hier ein solches Verlangen. Nicht minder folgen etwa das rituelle Wäschewaschen (montags). Autowaschen (samstags), Spazierengehen (sonntags) einem überwiegend unbewußten Fahr.
Beim Vergleich von Statistiken etwa zur Arbeits- und Freizeit. Fernsehzeit etc. in den USA und der Bundesrepublik ergeben sich kaum signifikante Unterschiede. Aufschlußreicher ist z.B. eine ältere Erhebung, derzufolge berufstätige rheiratete Männer in Deutschland 6,1 Stunden mit der Familie rbringen, während Amerikaner lediglich 3.9 Stunden dafür aufbringen (vgl. Scheuch 1972, 202). Auch wenn neuere Berechnungen der Zeitbudgets fehlen, dürfte sich immer noch die ungleich höhere Bedeutung der Privatheit in Deutschland zeigen, die auch hinter der scharfen Trennung von Arbeit und Freizeit steht und ein höheres Maß an Reglementierung der Zeit rfestigt hat. In der amerikanischen Perspekti fällt an der deutschen Zeiteinteilung vor allem diese strikte Markierung von Öffnungszeiten. Ladenschlußzeiten auf. Für Hall sieht es so aus. als sei
the entirety of Germany () one vast interlocked schedule. By law, in order to protect employee rights, markeis can only be open during certain hours of the day. Office workers must be able to shop al those hours. otherwise the family doesn't eat! (Hall 1983b, 118).
uzeiten, die in Deutschland (immer noch?) respektiert werden müssen (Mittagspause. Wochenende, Feierabend), sind in den USA weitgehend unbekannt. Insbesondere die - freilich zunehmend in Frage gestellte - gesetzliche Stillegung der Sonn- und Feiertage hat Zeitzäsuren geschaffen, deren herausgehobener Status durch zahlreiche sprachliche "Sonntagswendungen bezeugt wird: Sonntagskleid. Sonntagsgespräch, Sonntagsrede. Sonntagskonzert, Sonntagskuchen. Sonnlagsbraten, Sonntagsspaziergang, Sonntagsfahrer Die Verödung der öffentlichen Kommunikation, das Überhandnehmen von Ritualen, Leere und Langeweile sind die Kehrseite dieser Sonntagsruhe, die nicht wenigen Künstlern Anlaß zur Gegenwehr gegeben hat: Otto Dix: "Mädchen am Sonntag, Gabriele Wohmann: "Sonntag bei Kreisands, Franz Josef Degen-hardt: "Deutscher Sonnlag.
Im Kapitel über die deutsche Raumerfahrung war von den Folgen der zunächst weitgehend erzwungenen Seßhaftigkeit in den kleinräumigen deutschen Lebenswclten die Rede. Die mentalitätsprägenden Bedürfnisse nach Abgrenzung, Sicherung, stabilen Ordnungsmustern kehren offensichtlich auch im deutschen Zeitrhalten wieder. Als strukturbildend wirken sich vor allem die sozialpolitischen Reglementierungen des Staates aus, die eine rgleichsweise kleinkarierte und starre gesellschaftliche Zeitorganisation durchgesetzt haben. Solche Strukturen sind jedoch wie die sie stützenden kollektin Dispositionen nicht unränderlich. Der nachlässigere Umgang der Jugendlichen mit der Zeit erinnert daran, daß auch in Deutschland etwa die Tugend der Pünktlichkeil nicht mehr uneingeschränkt rpflichtend ist. Das gleiche gilt für die erwähnten uzeiten, deren Einhaltung und soziale Reichweite heute weniger denn je rläßlich beurteilt werden können. Die Anstandsbücher der 50er Jahre (so etwa Walther von Kamptz-Borken: Der gute Ton von heute. Gesellschaftlicher Ratgeber für alle Lebenslagen, 1957) raten dringend von unangemeldeten Besuchen an den großen Feiertagen, aber auch am Sonnabend und Sonnlag ab. Die neuere Ratgeberliteratur geht dagegen lockerer mit den uzeiten um oder übergeht sie ganz. Und der Fachausschuß für Umgangsformen des deutschen Tanzlehrerrbands, ein von der Veranworlung für gesellschaftlichen Anstand durchdrungenes Gremium also, rlautbarte, überraschende Besuche seien "heule kein Grund mehr zur Aufregung (Umgangsformen heute, 1986. 60). Auch der sogenannte Dicnstleislungsabend, die rlängerten Öffnungszeiten am Donnerstag abend, zeigen, daß die für die deutsche Gesellschaft so charakteristischen rigiden Ladenschlußzeiten zumindest ein wenig in Bewegung geraten sind.
Arbeit und Freizeit - Lockerungen der Zeitdisziplin
Die Ursachen dieser Lockerungserscheinungen sind unschwer zu erraten. Massenarbeitslosigkeit, Veränderungen der Arbeitsorganisation durch Flexibilisierung und erhöhte Zeitsouveränität des einzelnen, aber auch das frühere Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß verändern allmählich Zeiterfahrung und Zeitdisziplin. Für die derzeitige Übergangsphase liegen weniger gesicherte Erkenntnisse als vielmehr Tendenzbeschreibungen vor. die jedoch die Richtung des in Gang gekommenen Prozesses andeuten. Zumindest die neuen Mittelschichten der Bundesrepublik schreiben der verlängerten Freizeit Werte zu, die früher eher mit der Arbeitsleistung verbunden waren: Ideen durchsetzen, sich selbst verwirklichen, etwas Bleibendes schaffen (vgl. Neumann-Bechstein 1984. 193). Bei aller Vorsicht im Hinblick auf Überlegungen, die allzu euphorisch eine neue "Freizeitgesellschaff proklamieren, zeichnet sich doch tendenziell eine Neubewertung von Arbeit und Freizeit ab. "Befriedigungen im persönlichen Nahbereich (Familie, Freunde, Bekannte, andere Sozialkontakte) sowie Spaß und Lebensgenuß stehen bei den Kriterien für eine erfüllte Freizeit oben an (ebd.). Damit läßt sich -jedenfalls für Bezieher mittlerer und höherer Einkommen unter 50 Jahren - eine gewandelte Einstellung erkennen, die traditionell als "typisch deutsch etikettierte Werte umkehrt. In der subjektiven Einschätzung dieser Bevölkerungsgruppe haben sich in den letzten Jahren wichtige Persönlichkeilsmerkmale deutlich verändert: Selbstvertrauen.
Lebensfreude. Ehrlichkeit, Offenheit, Aufgeschlossenheit, Kontaktfähigkeit. Toleranz und Kritikfähigkeit gelten als erstrebenswerte Qualitäten einer Idealpersönlichkeit. Denkt man zurück an das von Stapf, Stroebe und Jonas ermittelte Deutschenbild amerikanischer Studenten, so zeigt sich, daß die dort dominierenden Eigenschaften wie Wettbewerbsorientiertheit. Pflichtbewußtsein, Fleiß und Effizienz ihre Vorrangstellung verloren haben (vgl. Stapf u.a. 1986,22).
Angesichts der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und des partiellen Wertewandels dürfte sich die Lockerung der traditionellen deutschen Zeitmoral fortsetzen. Ob sich allerdings die These, derzufolge die Arbeit langfristig ihre Stellung als Mittelpunkt des Lebens verlieren wird, für die deutsche Gesellschaft halten läßt, scheint fraglich.