Amerika in Deutschland
Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, das im vorangehenden theoretischen Abschnitt eine Schlüsselrolle spielt, ist nun, da es um die Differenz der Wahrnehmungsmuster zwischen Westdeutschland und den USA geht, genauer zu fassen. Bei aller Betonung des Wechselspiels von Eigen und Fremd blieben in der theoretischen Modellbildung beide Bereiche relativ klar von einander abgegrenzt. Das Eigene spiegelt sich im Fremden, so haben wir gesagt, der fremde Blick wiederum gibt das Eigene zu erkennen.
Vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern so intensiv geworden, daß solch säuberliche Trennungen sich auflösen. Mehr als in anderen Ländern gelten die USA in der Bundesrepublik als Leit- und Orientierungskultur. Natürlich läßt sich dies mit der neuen Westintegration der Bundesrepublik und den vielfältigen politischen, wirtschaftlichen, militärischen und auch kulturellen Verflechtungen und Abhängigkeiten begründen; den besonderen Vorbildcharakter Amerikas für das Nachkriegsdeutschland erklärt dies allein jedoch nicht. Tiefer greifen sicher die Berufung auf die Dankbarkeit für die Wiederaufbauhilfe, für Marshall-, Luftbrücke, Carepakete und die Formel von der "Identifikation der Besiegten mit den Siegern (A. und M. Mitscherlich 1977), auf die wir noch zurückkommen. Im Blick auf deutsche Amerika-Bilder ist wohl die Faszination der amerikanischen Alltagskultur nicht minder bedeutsam. Amerika ist in fast allen Lebensbereichen der Bundesbürger präsent: Jeans und Parka, Cornfla-kes, Ketchup, Kaugummi, Hamburger und Coca-Cola, Mickymaus und Donald Duck, Barbie-Puppen, Lassie, Fury, Sesamstraße, James Dean, John Wayne und Gary Cooper, Marilyn Monroe, J. R., Sue Ellen, Elvis Presley, Bob Dylan, Michael Jackson und Tina Turner, go-ins, sit-ins, high life und happy birthday, okay, bye bye - wir brechen ab. Die Unterscheidung, was hier als deutsch oder als amerikanisch zu gelten hat, scheint illusorisch, ein Tatbestand, der schon so manchen kulturkritischen Protest gegen die "Coca-Colonisierung deutscher oder europäischer Kultur hervorgerufen hat. Max Frisch etwa läßt seinen Helden im Roman "Homo faber (1957) eine existentielle Kritik am american way oflife formulieren, die europäische Arsionen gegenüber einer Amerikanisierung in wenigen Reizwörtern konzentriert:
Schon was sie essen und trinken, diese Bleichlinge, die nicht wissen, was Wein ist, diese Vitamin-Fresser, die kalten Tee trinken und Watte kauen und nicht wissen, was Brot ist, dieses Coca-Cola-Volk, das ich nicht ausstehen kann (). Was Amerika zu bieten hat: Komfort, die beste Installation der Welt, ready for use. die Welt als amerikanisiertes Vakuum, wo sie hinkommen, alles wird Highway, die Welt als Plakat-Wand zu beiden Seiten, ihre Städte, die keine sind, Illumination, am anderen Morgen sieht man die leeren Gerüste. Klimbim, infantil, Reklame für Optimismus als Neon-Tapete vor der Nacht und vor dem Tod - (Frisch 1957.130f.).
Dieses Zitat mit seiner Abwertung z.B. der amerikanischen Eßkultur, Technik und Lebenseinstellung dürfte wohl vor allem von der jüngeren Generation als raltet und schwer nachvollziehbar empfunden werden. Als ein Register des Antiamerikanismus sind solche Töne gleichwohl auch heute noch rfügbar; die durch den Nazischock ausgelöste und auch nach der Vereinigung beider deutscher Staaten im wesentlichen anhaltende Diskreditierung des deutschen Nationalismus hat jedoch in der Bundesrepublik zu einer Angleichung an westliche Standards geführt. Man kann diese Prozesse aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersuchen: als Diktat amerikanischer Besatzungspolitik in der Nachkriegszeit und Distanzierung von der alten Deutschtümelei, als Resultat internationaler politischer und ökonomischer Verflechtung oder als Prozeß des kulturellen Wandels. Hier jedoch thematisieren wir vorrangig das Problem von Selbst- und Fremdbildern und den Einfluß der omnipräsenten amerikanischen Leitkultur auf die deutschen Bilder von Amerika.
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind in Westdeutschland mehrere Generationen herangewachsen, für die die früher ausgeprägte nationalkulturelle Abgrenzung Deutschland - USA weitgehend unwichtig wurde. Bestimmend war wohl eher die im Zuge der Westintegration entstandene Distanzierung gegenüber dem Osten und einzelnen Minderheitengruppen (Ausländerfeindlichkeit). Ob und wie jedoch die Aufnahme von Elementen der amerikanischen (Alltags-)Kultur auch die deutschen Amerika-Bilder rändert, diese Frage erlaubt keine pauschale Antwort. Von einer durchgreifenden Amerikanisierung kann jedenfalls nicht die Rede sein; was in Europa ankommt, sind ja in erster Linie nur aus ihrem ursprünglichen Lebenszusammenhang gelöste Versatzstücke. Anders gesagt: Cornflakes allein machen weder ein deutsches noch ein amerikanisches Frühstück, und es sind deutsche Ohren, die amerikanische Pop-Musik auf ihre Weise hören. Hinter der scheinbaren Allgegenwart des Amerikanischen rbergen sich selekti Bildausschnitte, denen die Vielfalt amerikanischer Lebenswelten weiterhin fremd bleibt. Zudem ist das von den Medien rmittelte Amerikabild vor allem geprägt von Autostereotypen made in USA.
Nicht ein eigenproduzierles Fremdbild konsumieren wir, sondern ein in Amerika produziertes Selbstbild. So wie wir die Amerikaner und Amerika in den Fernsehserien erleben, so sehen sich die Amerikaner selbst - zumindest in der medialen Phantasie, und die lebt bekanntlich von populären Mythen (Mikos 1987,69).
Die Augenfälligkeit von Barbie-Puppen, Disney-World und Fury ist trügerisch: über amerikanische Kindheiten rraten sie soviel wie Lederhosen über die Lebensgewohnheiten von Bayern. Trotz aller Bruchstückhaftigkeit und wechselnden Einfärbungen haben sich Kenntnis und Vorstellung von Amerika in den letzten Jahrzehnten rvielfacht, die USA sind zu einem selbstrständlichen Bestandteil westdeutschen Alltagslebens geworden. Serienproduktionen wie "Dallas, "Denr oder früher "Lassie, die ja die amerikanische Alllags-wirklichkeit auf wenige synthetische Elemente reduzieren, wirken zwar durch Requisiten, Milieus und Szenerie amerikanisch (und sind somit ein Hauptelement des deutschen Amerikabildes), als Unterhaltung im deutschen Alltagsleben werden sie jedoch kaum als fremd, sondern als rtraut aufgenommen.
Stationen deutsch-amerikanischer Beziehungen
Man kann darüber streiten, welches der beste Zugang zu Genese und Geschichte der heutigen deutschen Amerika-Bilder in unserem Kontext ist. Eine Chronik deutsch-amerikanischer Begegnungen und Beziehungen im historisch-politikwisscnschaftlichen Sinne liefert zwar ein solides, letztlich unverzichtbares Faktenfundament, birgt jedoch die Gefahr, historische Ereignisse nahezu ungebrochen auf Bildwelten zu projizieren. Ungebrochen, das meint den Verzicht auf all die im theoretischen Teil genannten Komponenten wie Gruppenspezifik, psychische Funktionen und nicht zuletzt die vielfältigen Ncuperspek-tivierungen fundamentaler Bildbestände. Zudem mangelt es ja nicht an historischen und poütikwissenschaftlichen Abrissen zu diesem Thema. Eine soziologische oder sozialpsychologische Annäherung könnte die Konstruktion von "Idealtypen versuchen, die verschiedene Amerika-Bilder (Antiamerikanismus, Atlantiker, Western- und Folkmusik-Fan etc.) repräsentieren. Dieses Verfahren wäre der Gefahr ausgesetzt, die einer Landeskunde ohnehin eigene Tendenz zur Neustereotypisierung zu begünstigen. Wir wählen daher einen Zugang zur Geschichte aktueller Amerika-Bilder, indem wir uns an "Stationen oder "Knotenpunkten orientieren, die sich im Alltagswissen als einprägsame und prägende Ereignisse festgesetzt haben. Die Einschnitte werden bestimmt von einer populären Chronologie, die geschichtliche Veränderungen gerne in Dekaden faßt ("die fünfziger Jahre) oder Ereignisse in den Blick nimmt, die die kollektive Biographie einzelner Gruppen (die "Stunde Null, die ,.68er) nachhaltig beeinflußt haben. Solche scheinbar trennscharfen Zäsuren verdecken freilich die für die Persistenz der Bilder bedeutsame Kontinuität des geschichtlichen Prozesses. Daß dabei grundlegende Amerika-Vorstellungen in jeweils neuen Perspektivierungen, Neugruppierungen und Funktionalisierungen fast unbemerkt im Spiel bleiben, darf nicht übersehen werden.
1945: Die Identifikation mit den Siegern
Am Ende des zweiten Wellkrieges lagen nicht nur Deutschlands Städte in Trümmern. Verwüstet war auch die kollektive deutsche Psyche: Die weitgehende Identifikation mit dem Nationalsozialismus und dem Führer endete schlagartig. Das Kriegsende wird von der überwiegenden Mehrheit als Niederlage, nicht als Befreiung erlebt. Margarete und Alexander Mitscherlich haben in "Die Unfähigkeit zu trauern (1977) auf die "Gefühlsstarre aufmerksam gemacht, mit der die Deutschen auf das Bekanntwerden der millionenfachen Morde an Juden. Polen, Russen reagierten. Dieses Erstarren ist ihnen das Anzeichen einer jähen emotionalen Abwendung und Entwirklichung des "Dritten Reiches. Darauf folgt in einem zweiten Schritt die Identifikation mit den Siegern. "Solcher Identitätswechsel hilft mit, die Gefühle des Betroffenseins abzuwenden, und bereitet auch die dritte Phase, das manische Ungeschehenmachen, die gewaltigen kollektiven Anstrengungen des Wiederaufbaus, vor (A. und M. Mitscherlich 1977,40).
In der Rückerinnerung an die Zeit des "Zusammenbruchs überwiegen (vor dem Hintergrund düsterer Trümmerlandschaften) überraschenderweise Bilder von lockeren, entspannten, großzügigen und großmütigen amerikanischen Siegern. Solche Bilder von - fast möchte man sagen - Sendboten aus einer anderen Welt sind gewiß inzwischen noch einmal verklärt, ihre Suggestion jedoch beziehen sie von Anfang an aus der raschen Identifikation der - ihres Selbstwerts beraubten - Besiegten mit den Siegern. Fotos als materielle Träger von Erinnerung aus dieser Zeit halten vor allem eine Geste fest: Amerikaner, die die Besiegten beschenken. Da ist als erstes und immer wieder das Bild des sauberen, wohlgenährten und lässigen Gl in seinem Jeep, umringt von ärmlichen Kindern, denen er Schokolade oder Kaugummi schenkt. Immer ist es die Geste des Gebenden und nicht - wie im Falle der anderen Besatzungssoldaten - die des (rachsüchtig) Nehmenden.
Solche Positivbilder begleiten unterschwellig auch die Übernahme der von den Amerikanern "geschenkten Demokratie und die schrittweise Integration in das Westbündnis. Die Geste des Schenkens scheint sich auf allen Ebenen zu manifestieren, in der individuellen Begegnung mit "Chewing Gum und "Lucky Strike. in spektakulären Hilfsaktionen wie Carepaketen und Luftbrücke, in dem strategisch konzipierten Wiederaufbauprogramm nach dem Marshall-Plan bis hin. wie gesagt, zur Demokratisierung Westdeutschlands und seiner Stärkung als Bollwerk gegen den Kommunismus. Die konfliktträchtige Entnazifizierung, reeducaüon oder punishmeni, und die alltäglichen Zusammenstöße mit den Besatzern, all diese negativen Erfahrungen verschwinden in der Erinnerung der betroffenen Kriegsgeneration weitgehend hinter dem positiven Gesamtbild vom amerikanischen Sieger-Freund. Wenn sich unter die Dankbarkeit und Bewunderung dieser Generation für die Amerikaner (auch hier heißen sie: "die Amis) immer wieder auch Gereiztheit und Aggression mischen, erklärt sich dies aus den letztlich doch ambivalenten Gefühlen, die die Besiegten mit den Siegern in einem machtpolitisch asymmetrischen Verhältnis verbinden.
Die sechziger Jahre
Die 60er Jahre markieren das Jahrzehnt, in dem nahezu alle bundesdeutschen Haushalte ihren ersten Fernsehapparat anschaffen. Mit den Fernsehbildern zieht eine zur Welt insgesamt erweiterte Gesellschaft in die deutschen Wohnzimmer ein. Nur nebenbei sei die ambivalente Wirkung dieses Massenmediums angemerkt: es "öffnet den Blick und stumpft ihn auch ab (Habermas 1987, 170), die Welt-Bilder rücken in die private Sphäre ein. So nahegebracht, immunisiert die Dauerpräsenz des Grauens (Kriege, Hungersnöte, Attentate) und kann doch auch aufrütteln. Ohne die bisherigen Bildlieferanten wie Pressefotos, Kino oder Wochenschau zu unterschätzen, ist unbestritten, daß die Fernsehbilder eine neue Intensität erreichen, sowohl was die Regelmäßigkeit und Reichweite angeht, als auch durch die Eindringlichkeil der immer näher an das Geschehen heranrückenden Kamera.
Mustert man die Bildbestände, die rückblickend auf die 60er Jahre im Grunde bei allen immer wieder auftauchen, dann sind es vor allem vom Fernsehen übermittelte Bilder, an denen sich Erinnerungen, Einstellungen und Emotionen kristallisieren: der Mauerbau in Berlin, ein Volkspolizist springt über den Stacheldraht in den Westen, J.F. Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus ("Ich bin ein Berliner) und im gleichen Jahr die Schreckensbilder vom Attentat in Dallas, Eichmann in seinem Glaskäfig während des Prozesses in Israel, dann in dichter Folge 1967 und 1968 die Bilder aus Vietnam (das Mädchen von My Lai), die Ermordung Benno Ohnesorgs beim Schahbesuch in Berlin, die Attentate auf Martin Luther King und Rudi Dutschke. der Black Panther-Gruß der Sprinter Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen in Mexiko und schließlich die Mondlandung von Neil Armstrong ("Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit).
Die ersten wirtschaftlichen Krisen in der Bundesrepublik, die Rückkehr der verdrängten Nazivergangenheit (Auschwitz- und Eichmann-Prozeß) und nicht zuletzt die militärischen Konflikte und Kriege von der Kuba-Krise bis zum Vietnam-Krieg erschüttern immer mehr die angeblich "heile Welt der 50er Jahre. Der Konflikt in der Bundesrepublik zwischen der Kriegsgeneration und ihren Kindern ("68er) erhält seine Explosivität nicht allein aus der verweigerten Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich, vielmehr wirken die grausamen Bilder von der Zerstörung des kleinen Vietnam durch die amerikanische Kriegsmaschinerie als Katalysator der eigenen deutschen Krise. Diese zentralen Erinnerungen sind im kollektiven Bildgedächtnis keineswegs peinlich nach deutschen und amerikanischen Akteuren und Ereignissen geschieden. Im Gegenteil, ihre Wirkung beziehen sie gerade aus der oft unbewußten Vermischung beider Bildbestände.
Kaum ein Ereignis könnte dies eindrücklicher zeigen als der spektakuläre Besuch Kennedys im Sommer 1963, der - wie man ohne allzu große Übertreibung behaupten kann - die ganze, in Bewunderung und Dankbarkeit vereinte Nation vor den Fernsehapparaten versammelte. Der berühmte Satz "Ich bin ein Berliner! besiegelte, was seit dem Amtsantritt des jugendlich-charismatischen Präsidenten wohl von allen Westdeutschen ohnehin gewünscht wurde: die Identifikation mit der Symbolfigur des freundschaftlichen, dynamisch-zukunftsorientierten Amerika, das die endgültige Überwindung der Vergangenheit verhieß. Damals scheint es nur ein Amerikabild gegeben zu haben: Kennedy als der ideale Präsident der westlichen Hemisphäre und nicht zuletzt der Bundesrepublik. Der jähe Umschlag kam nur wenige Monate später. Trauer, Bestürzung und Empörung als Reaktion auf die Ermordung des geliebten Präsidenten beleben mit einem Schlage wieder ein ganz anderes, nie restlos verschwundenes Amerikabild, nämlich das einer von Gangstern und der Mafia beherrschten Gesellschaft. Die kurze Kennedy-Euphorie ist in der Tat kaum mehr als eine Episode, gemessen an all den Konflikten, die in der Folgezeit aufbrechen und vor allem die späten 60er Jahre prägen.
Die zunächst fast blinde Identifikation vieler Deutscher mit den amerikanischen Siegern, das Sich-Hineinstürzen in den Wiederaufbau als Abwehr des Schuldeingeständnisses, die restaurative Konzentration auf das Private, all dies ist in den 60er Jahren nicht mehr ohne weiteres durchzuhalten. Damit polarisieren sich die Amerika-Bilder in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wie nie zuvor. Polarisieren meint hier nicht die populäre, aber allzu simple Aufspaltung in eindimensionale pro- oder antiamerikanische Einstellungen. Auf beiden Seiten sind die Bilder vielmehr ambivalent und beinhalten jeweils mehr als nur Amerikabezogenes, immer wird in der Auseinandersetzung um Fremdes zugleich auch Eigenes verhandelt.
Es fällt auch im Rückblick schwer, die Reaktion der schweigenden Mehrheit auf den Vietnam-Krieg angemessen zu erfassen. Glaubt man den damaligen regierungsamtlichen Erklärungen, so stand das deutsche Volk hinter der Vietnampolitik der USA. Was die ältere Weltkriegsgeneration betrifft, so scheint sie auf den ersten Blick diejenige zu sein, die aus den bereits erwähnten Gründen die amerikanische Politik am ehesten befürwortete. Ihre seelische Gemengelage dürfte jedoch komplizierter gewesen sein. Die Bilder des Vietnam-Krieges beleben wieder die verdrängten Bilder des eigenen Krieges, das mag als Abwehrreaktion die Aggressivität gegenüber den Anli-Vietnamdemonstranten verstärkt haben. Zugleich aber liefert dieser Krieg Gelegenheit zur Entlastung: Es entsteht eine geheime Komplizenschaft der Krieger, die bis dahin makellosen amerikanischen Demokraten verlieren gleichsam ihre Unschuld. Deutsche und Amerikaner erscheinen nun in dieser Hinsicht gleichermaßen desavouiert. Umgekehrt wäre es nicht minder vereinfachend, den politischen Antiamerikanismus der westdeutschen Linken als pauschale Ablehnung alles Amerikanischen mißzuverstehen. Spätestens seit Mitte der 60er Jahre schaffen die Idole der angloamerikanischen Rock- und Popszene zunächst eher unbemerkte nationenübergreifende Gemeinsamkeiten. Die Musik und die Texte in den Songs von Bob Dylan, Joan Baez, Jimi Hcndrix. natürlich auch von den englischen Beatles und den Roiling Stones geben den Rhythmus und die Parolen des internationalen Jugendprotestes vor. Die gegen das Establishment aufbegehrenden Songs des amerikanischen Underground hörten die "antiamerikanischen westdeutschen Linken im Mililärsender AFN.
Die siebziger Jahre
Mit der Beendigung des Vietnam-Krieges beruhigt sich die Diskussion um das Verhältnis der Deutschen zu Amerika. Es verliert seine Bedeutung als Katalysator für binnendeutsche und internationale Auseinandersetzungen. Das politische Geschehen verlagert sich auf die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, Interesse beansprucht nun vor allem die Verständigung mit dem anderen Teil Deutschlands und den Staaten Osteuropas. Dieser Prozeß verläuft zwar nicht ohne Irritationen zwischen der Bundesrepublik und den USA. fügt sich jedoch letztlich in ein gemeinsames Konzept der Entspannung ein.
Daß die affektive Besetzung von Pro- oder Antiamerikanismus in den 70er Jahren schwindet, hängt nicht nur mit außen-, sondern auch mit innenpolitischen Neuorientierungen zusammen. Auf die Revolutionshoffnungen der 68er Bewegung folgen Bewegungen, die sich dem Privaten. Innerlichen, der eigenen Nahwelt, das heißt auch konkreteren, gesellschaftspolitischen Problembe-reichen zuwenden. In der Literatur vollzieht sich eine "Tendenzwende im Zeichen der "Neuen Subjektivität, die sich verstärkt in einem autobiographischen Schreiben äußert und vor allem existentielle Grenzsituationen thematisiert. Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist die Veränderung des literarischen Amerikabildes, wie es sich etwa in Peter Handkes Erzählung "Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) dokumentiert. In diesem, nach dem Muster des Entwicklungs- und des empfindsamen Reiseromans gestalteten Werk sind politische Bezüge fast gänzlich verschwunden. Im Mittelpunkt steht ein von traumatischen Erinnerungen heimgesuchtes Ich, das sich im neuen Erfahrungsraum Amerika aus seiner angstvollen Lebensgeschichte zu befreien sucht. Wieder einmal soll Amerika die Hoffnung auf innere Veränderung und Neuanfang einlösen, erscheint es als das schlechthin Andere und Fremde. Zu seiner Erzählung und der Bedeutung Amerikas in einem Interview befragt, antwortet Handke:
Amerika ist das einzige, von dem man heutzutage sagen kann, es sei die Fremde, es sei die andere Welt. Für mich ist es halt auch eine Traumwelt, in der man sich selber ganz neu entdecken muß. in der man selbst ganz neu anfangen muß (Karasek 1972,87).
Es wäre jedoch verkürzt, in der Hinwendung zum Subjektiven nur apolitische Tendenzen zu sehen. Gerade im Privaten, in den Geschlechterbeziehungen, in der Problematisierung traditionellen Rollenverhaltens, in der Kindererziehung wirken die Impulse der antiautoritären Sludentcnbewegung weiter, in der Politik verschiebt sich die Aktivität von den universitären Zentren in andere Lebensbereiche: Für die Bundesrepublik ist dies die Geburtsstunde der Neuen Sozialen Bewegungen. Sie entzünden sich an konkreten Konflikten und beziehen sich jeweils auf ein Ziel (one-issMe-Bewegungen): Anti-Atomkraft. Frieden und Abrüstung, Umwelt, oder organisieren gruppenspezifische Interessen wie die Frauenbewegung. Es sind vor allem diese Gruppen, die ein anderes Amerika entdecken, nicht die ökonomische und militärische Weltmacht USA, sondern ein Land mit einer langen basisdemokratischen Tradition und einer kreativen außerparlamentarischen Opposition, die ähnliche Anliegen wie die Neuen Sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik vertritt. Statt anderer Beispiele sei nur die amerikanische Frauenbewegung erwähnt. Sie war und ist nicht nur für die deutschen Feministinnen und Frauenforscherinnen ein Vorbild in Theorie (Women Studies) und praktisch-politischer Durchsetzung von Gleichstellungsrechten - zunächst vor allem in den Universitäten, aber zunehmend auch in Wirtschaft und Verwaltung. Unbemerkter bleibt der Einfluß der amerikanischen Unterhaltungskultur auf die Amerika-Vorstellungen in der Bundesrepublik. Das hat zunächst mehr mit der weltweiten Vormachtstellung der amerikanischen Filmindustrie zu tun. Die Bildschirmhelden made in USA sind in Japan und Thailand ebenso vertraut wie in der Türkei oder Schweden. Wie bereits erwähnt, liefern diese von vornherein für den Weltmarkt bestimmten Filme eine Mischung von amerikanischen Selbststilisierungen, synthetischen Typen und auswechselbaren Milieu- und Szenenarrangements. Vermutlich modellieren solche Nebenprodukte der populären Unterhaltung das deutsche Amerikabild umfassender als alle die USA eigens thematisierenden Reportagen oder andere landeskundliche Informationen. Die 70er Jahre können als Zeit gelten, in der die amerikanischen Serienproduktionen endgültig ihren festen Platz im deutschen Fernsehen erobern. Die beliebteste westdeutsche Kindersendung ist seil Beginn dieses Jahrzehnts die "Sesamstraße, ein Hinweis darauf, wie Amerikanisches unauffällig und zunehmend als letztlich Deutsches wahrgenommen wird.
Die achtziger Jahre
Am 12. Dezember 1979 endet mit dem Doppelbeschluß der Nato zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen (eine Idee Helmut Schmidts), wenn man so will, schlagartig ein stilles Jahrzehnt deutsch-amerikanischer Beziehungen. Die Liste der nun folgenden Irritationen, Konflikte und zum Teil scharfen Gegensätze ist lang: Massenproteste und Blockaden der westdeutschen Friedensbewegung gegen Cruise missiles und Pershing-Rakclen, das Bekanntwerden des militärischen Konzepts eines auf Europa begrenzten Atomkrieges, das zynische Werbeplakat im New Yorker "World Trade Center: "Visit Europe while it still exists. die Wahl Reagans zum 40. Präsidenten der USA, seine ..launige Sprechprobe im Radio am 11. August 1984, wonach die Bombardierung der UdSSR in fünf Minuten beginne, zuvor schon die ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Gedenkfeier zum 300. Jahrestag der ersten deutschen Auswanderung nach Pennsylvania mit heftigen Demonstrationen gegen Vizepräsident George Bush; die symbolträchtige Verbrüderung zwischen Kohl und Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg im Mai 1985 - dies alles ist nur eine Auswahl von Ereignissen vor dem Hintergrund eines verschärften Ost-West-Gegensatzes, der häufig genug (Afghanistan. Grenada, Nicaragua. Libyen) mit militärischen Mitteln ausgetragen wird.
Die Ercignisgeschichte braucht nicht ausgebreitet und selbst ihre Bewertung kann hier ausgeklammert werden. Es gehl nicht um die Faktizität der Ereignisse, sondern um ihre Wirkung auf die Bilder des einen vom anderen. - In dieser Situation, in der im Gegensatz zum Vietnamkrieg nicht ein fernes, sondern das eigene Land bedroht ist. verwundert es nicht, daß die Vermischung von Antimilitarismus und Antiamerikanismus die Stimmung aufheizt. Ein radikales, wenn auch nicht repräsentatives Beispiel liefert Ulrich Irions als "antiame-rikanisches Pamphlet stilisierter Essay "Archimedes und Vatermord, in dem die geläufige Vorstellung vom Vater Europa und Sohn Amerika in eine apokalyptische Vatermordgeschichte mündet:
Es gelüstet die vermeintliche Selfmade-Nalion, mit dem Auslöschen Europas ihre parasitäre Abhängigkeit auf einen Schlag auszulöschen, ihr Herkommen ungeschehen zu machen: Vergangcnhcitsvcrnichtung. Was dem greisen Europa bevorsteht, ist ein Vatermord in noch nie dagewesenem Maßstab. (...)
Die Deutschen, allen voran ihre politischen Repräsentanten, erweisen sich im voraus als besonders dankbar für die Enderlösung Europas. Immer schon dem Sterben zugetan, kommt ihnen besonders entgegen, daß das Danaergeschenk "Nachrüstung das Etikett "Sicherheit trägt (Irion 1984,92f.).
Mit einem Schlage wird in dieser Krisensitualion wieder einmal sichtbar, wie hinter der familiären Vertrautheit mit Amerikanischem immer auch die Nega-tiwarianten des deutschen/europäischen Amerikabildes lauern. Auch Irion bemüht die bekannten Topoi vom kultur- und geschichtslosen Kontinent Amerika: er greift auf geradezu archaische Muster der Fremdwahrnehmung zurück: der Fremde als Barbar, von außen kommend und die überlegene Kultur zerstörend. In der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen stellt die Frage der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland gewiß einen Grenzfall dar. Wenn er heute, nur wenige Jahre danach, wie eine weitentfernte und gegenstandslos gewordene Episode erscheinen kann, so liegt dies an der bald darauf einsetzenden Auflösung der Nachkriegsordnung und ihres starren Blockdenkens, ein Prozeß, der inzwischen die Rahmenbedingungen der deutschen Selbst- und Fremdbilder auf eine vorher unvorstellbare Weise verändert hat. In dem Maße, in dem die Bedrohung aus dem Osten nachläßt, werden lange gepflegte Feindbilder außer Kraft gesetzt, und damit verliert auch das Komplementärbild von der Schutzmacht Amerika viel von seiner Bedeutung. Nebenbei bemerkt: Es ist erstaunlich, in welch kurzer Zeit nach einem halben Jahrhundert unangefochtener Negativstereotypisierung des Russen nunmehr nicht nur historische Gemeinsamkeiten, sondern selbst Wesensverwandtschaften zwischen russischer "Seele und deutschem "Gemüt wiederentdeckt werden.
Das Schlüsselereignis auch für unseren Zusammenhang ist die Vereinigung der BRD und der DDR geworden, und die Frage, welche Folgen sie für die deutschen Selbst- und Fremdbilder haben wird, ist ebenso zentral wie schwer abschätzbar. Man kommt im Blick nach vorn nicht aus ohne eine kursorische Skizze der internationalen Rahmenbedingungen, in denen sich dieser Einigungsprozeß vollzieht. Zwei entgegengesetzte Entwicklungen charakterisieren die Lage in Mittel- und Osteuropa. Im Osten, ausgelöst durch die Umgestaltung der Sowjetunion, gibt es eine Renaissance nationalistischer Autonomiebestrebungen in den einzelnen Sowjetrepubliken. Die ehemaligen sozialistischen Staaten haben sich aus der sowjetischen Hegemonie gelöst und orientieren sich am Westen, zugleich verstärkt sich dort - ausgehend von der EG - im politischen und ökonomischen Bereich die Integration der europäischen Staaten und läßt frühere Freund-Feind-Schemala last bedeutungslos werden. Es zeichnet sich ab. daß die Zunahme innerer Feindbilder das Verblassen der äußeren zunehmend ersetzt. Das trifft in Deutschland in erster Linie die ethnischen Minderheiten, seit einiger Zeit vor allem die Aus- und Übersiedler aus dem Osten. Für eine längere Übergangsphase wird zudem das vereinigte Deutschland sehr wohl auch ein getrenntes bleiben, wenn man das auftrumpfende Selbstbewußtsein der reichen Westler und das zerstörte Selbstwertgefühl der sich fast bedingungslos unterordnenden ehemaligen DDR-Bürger als nicht ohne weiteres zu überwindende innere Grenze ernst nimmt.
Heimatbewußlsein, Regionalismus, Individualisierung, das heißt Pluralisierung von Lebensstilen, aber auch nationenübergreifende Verflechtungen werden in diesem Buch als Elemente benannt, die einen Nationalismus traditioneller Prägung unterlaufen oder übergreifen. Ob solche Faktoren, die sich ja noch am Selbslverständnis der früheren Bundesrepublik orientieren, wirksam bleiben und der Gefahr eines neuen Nationalismus entgegenarbeiten können, ist zu Beginn des Jahres 1991 noch nicht absehbar.
Zwar hat sich die Vereinigung Deutschlands - für manche Beobachter überraschend - vergleichsweise nüchtern und ohne triumphalen Überschwang vollzogen. Es gibt jedoch Entwicklungen, die überwunden geglaubte Formen eines aggressiven Nationalismus wachrufen können. Dazu gehört das erwähnte Gefälle zwischen alten und neuen Bundesländern, soziale Konflikte also, die nach probatem Musler schon oft mit nationalistischen Beschwörungsformeln gekittet wurden. Angesichts des Zugewinns an ökonomischer und militärischer Macht ist nicht auszuschließen, daß zumindest einige Bevölkerungsgruppen nationalen Größenphantasien nicht widerstehen können und sich z.B. mit der militärischen Abstinenz außerhalb des eigenen Territoriums nicht zufrieden geben wollen. Am verführerischsten ist zweifellos der auf den ersten Blick einleuchtende Eindruck, daß eine belastende historische Phase, die spätestens mit dem Nationalsozialismus begann, nun, nach Wiedervereinigung und Rückgewinnung der Souveränität und der Regelung der Oder-Neiße-Grenze, ihren Endpunkt erreicht hat. Die im Historikerstreit bemühten Vergleiche zwischen stalinistischen und nazistischen Verbrechen zur Rclativierung der deutschen Schuld scheinen bestätigt, der Zeitpunkt, ..geläutert aus dem Schatten der Geschichte herauszutreten, ist nach Meinung vieler gekommen. Einem deutschen Nationalgefühl jedoch, das von dieser Geschichte absieht und ihr Ende proklamiert, müßte man zurecht mißtrauen. Von "Normalisierung kann und darf auch weiterhin nicht die Rede sein. Die Reihe von Borniertheiten, die sie mit sich brächte, ist vorhersehbar: Die Konzentration auf das Eigene verstärkt die aggressive Wendung gegen das Fremde, im Innern der Gesellschaft gegen ausländische Minderheiten, nach außen in Form einer Mißachtung der Notsituation in der "Dritten Welt.
Mit der beginnenden Überwindung des Ost-West-Gegensatzes zeichnen sich jedoch langfristig Konstellationen ab, in denen herkömmliche nationalstaatliche Orientierungen in transnationale Zusammenhänge eingepaßt werden müssen und können. In diesem übergreifenden Prozeß, in dem sich auch und gerade für Deutschland zusätzlich zur bisherigen Westintegration enge Verflechtungen mit Osteuropa ergeben, ist es unausweichlich, daß auch die Bilder in Bewegung geraten und sich, gleichsam wie im Kaleidoskop, neu komponieren. Die klassischen Bildkomplexe vom Erbfeind Frankreich, England und nun Rußland sind weitgehend verblaßt, damit schwindet vielleicht aber auch die Notwendigkeit zu besonderen Freundbildern, wie sie die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Zweiten Wellkrieg für sich in Anspruch genommen haben. Das muß nicht nur ein Verlust, sondern kann auch ein Gewinn sein, steckt darin doch auch die Chance der "Normalisierung. Die deutschen Amerika-Bilder wie auch die amerikanischen Deutschlandbilder könnten sich europäisieren - Deutschland erschiene für Amerikaner dann eher als integraler Bestandteil Europas. Bei aller gebotenen Vorsicht ist zu vermuten, daß bilaterale Fixierungen und die positiv wie negativ zum Teil extremen Affekte im deutsch-amerikanischen Verhältnis sich entspannen.