Schiller als Kampfgenosse Hitlers, Goethe als Sportsmann und Verklärer der Uniform - Weimar unter dem Nationalsozialismus ist eines der finstersten Kapitel deutscher Geschichte, nahezu gnadenlos wird der Mythos Weimar für die nationale und totalitäre Idee ausgebeutet und instrumentalisiert. Der schöne Schein der Klassik dient nationalsozialistischer Kulturpolitik als Legitimation und Feigenblatt. Weimar wird für die geistige Wehrerziehung des »Dritten Reichs«, als Veranstaltungsort für Kulturlager der Hitler-Jugend, NS-Studententage, großdeutsche Dichtertreffen oder Reichsbuchwochen miß-braucht.
Den Beginn solcher Indienstnahme markiert der 175. Geburtstag Schillers, den Hans Severus Ziegler 1934 im früheren NS-Blatt, das nun »Thüringische Staatszeitung« heißt, als Schöpfer eines deutschen Idealismus feiert, »dessen Kristallisation das herrliche Gebilde unseres Reichs geworden ist«. In Schiller erspürt der Nationalsozialismus das Nordisch-Heroische, das er dem lk so gern anerziehen will, den »geistigen Führer«, den Kämpfer und den Dichter der »männlichsten Männlichkeit«. Im Frack nimmt Hitler am feierlichen Staatsakt teil, um ihn geschart Würdenträger des »Dritten Reichs« in Uniform, seine Mittelloge im Nationalthcater ist mit einer großen Hakenkreuzflagge drapiert.
Es sei ein armseliges und kleinliches Ideal, hat Schiller einmal gesagt, nur »für eine Nation zu schreiben«. Aber weil kein Toter, auch der größte Dichter nicht, sich gegen falsche Freunde wehren kann, reklamiert Festredner Joseph Goebbels den »bewundernswerten Gestalter deutscher Kraft und dichterischer Gnade« schamlos für die nationalsozialistische Bewegung: »Er war einer der Unseren, Blut von unserem Blut und Fleisch von unserem Fleisch.« Hätte Schiller nur in dieser Zeit gelebt, daran läßt der Minister für Agitation keinen Zweifel, wäre er »der große dichterische rkämpfer unserer Revolution«, eben der nationalsozialistischen geworden. Das ist nicht so weit vom NS-Schwulst eines Hans Fabricius entfernt, jenes Reichstagsabgeordneten der NSDAP und Hofbiographen Wilhelm Fricks, der 1932 geschrieben hatte: »Schiller als Nationalsozialist! Mit Stolz dürfen wir ihn als solchen begrüßen.« Nach Fabricius schöpfte der Dichter Schiller sein Urteil aus den Urkräften des Blutes: »Gott, lk, Vaterland, Familie, - Blut und Boden - Ehre, Heldensinn und wahre Freiheit, -das waren die Werte, die seine deutsche Seele ihm als unveräußerlich kündete.«
Goethe nimmt die Nationalsozialistischen Erziehungsanstalten der NSDAP vorweg, wenn er in den »Wahlverwandtschaften« schreibt, Männer sollten von Jugend auf Uniform tragen, »weil sie sich gewöhnen müssen, zusammen zu handeln«. Das meint jedenfalls Baidur von Schirach und zitiert seinen Goethe 1937 in Weimar, als er die Schillerbund-Festspiele für die HJ okkupiert, um sie als Weimarfestspiele der deutschen Jugend fortzuführen: »Man erziehe die Knaben zu Dienern am Staate und die Mädchen zu Müttern, und so wird es überall wohl stehen.« In seiner Rede »Goethe an uns« lobt er den Dichter als Sportsmann, der noch als Greis im Garten seines Hauses mit Pfeil und Bogen schoß, der frische Luft und freies Feld schätzte und Reiter, Schwimmer, Fechter und Bergsteiger in einem war - mens sana in corpore sano. Daß der Geheimrat schon in seinen mittleren Jahren beträchtlich korpulent gewesen ist, daß Carl August ihm eine besonders brave Mähre hat geben lassen, damit sie den ungeübten Reiter nicht abwerfe, stört ihn nicht oder ist ihm unbekannt. Als Anwalt von Turnübungen für die studierende Jugend wird Goethe schon von Ernst lkmann im Goethejahrbuch 1936 vorgestellt. Walthcr Linden macht ihn da gar zum Verfechter der olympischen Erziehung: »Lebendige Einschmelzung der Leibesübungen in das Erziehungsganze« sei Goethes pädagogisches Ideal. Der Autor von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« habe gewußt, daß die Entwicklung des Körpers der Stählung des Willens diene.
Heroischer natürlich Schiller, der sich mit seinen Werken für nationalistische und nationalsozialistische Agitation allemal leichter und ohne Zuhilfenahme abstruser Umwege wie bei Goethe mißbrauchen läßt: »In Schillers soldatischer Natur«, so Linden 1934 in der Zeitschrift »Deutschkunde«, »lebt jener echte Ordensgeist, der auf Unterwerfung und Gehorsam heldischer Kriegsnaturen gerichtet ist.« Offenbarung des echten Weimargeistes nennen die Nationalsozialisten derlei groteske Interpretationen. Wilhelm Fehse spricht gar von »Goethes deutschem Prophetentum«. Wie ein reinigendes Gewitter habe der Nationalsozialismus jene verblendete und wahnwitzige Deutung Goethes hinweggespült, die ihn zum »segnenden Propheten einer liberalistischen Wahnbeglückung« machte, eine Deutung, der »Blut und Rasse Wahngebilde waren« und die, versteht sich, »aus jüdischem Geiste« erfolgte.
Er liebe Weimar, ja er brauche Weimar, wie er Bayreuth brauche, hat Hitler schon 1928 Hans Severus Ziegler, dem Chefredakteur der Thüringer Parteizeitung erklärt. Kaum an der Macht, gibt der Tyrann sich als Mäzen und bewilligt im Handumdrehen, wofür die Republik kein Geld geben wollte: einen Anbau zum Gocthe-Nationalmuseum. Weil eine Lotterie die Mittel nicht im nötigen Umfang aufbringen konnte, klebte an der Bauke der Ackerwand gut ein Jahr das böse Pasquill: »Hier horstet still der Pleitegeier,/ Finanzministers Goethefeier.« Daß er diesem Zustand ein Ende macht, sichert Hitler den Applaus des ganzen gebildeten Weimar: »In der letzten Stunde des Tages, an dem Friedrich Schiller vor einhundertfünfzig Jahren geboren wurde, vernichtete Adolf Hitler mit einem Federstrich Trauer und Schmach«, jubelt Wolfgang Cioetz in der Schrift »50 Jahre Goethegesellschaft«. Und als diese Goethegesellschaft, der Museumsanbau ist inzwischen vollendet, sich zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens in der mit Goethebüste und Reichsadler samt Hakenkreuz dekorierten Weimarhalle versammelt, schickt Julius Petersen als ihr Präsident dem Reichskanzler eine Dank- und Ergebenheitsadresse mit dem Goethezitat: »Manches Herrliche der Welt/ Ist im Krieg und Streit zerronnen./ Wer beschützet und erhält,/ Hat das schönste Los gewonnen.« Der Berliner Germanist macht den Namensgeber seiner Gesellschaft gar zum Mitläufer, als er vor den Versammelten erklärt, Goethe hätte ohne jeden Zweifel »das im Werden begriffene Deutschland« begrüßt.
Doch sind die grausamen Wunden, die Hitlers Liebe dem Stadtbild Weimars geschlagen hat, bis heute nicht zu übersehen. Das protzigbrutale Gauforum mit seinen monumentalen Werksteinbauten, welches sich Fritz Sauckel, der Gauleiter des Schutz- und Trutzgaus Thüringen, errichten ließ und das ein Prometheus aus Bronze von Arno Breker schmücken sollte, wirkt als Fremdkörper imperialer Blut-und-Bodcn-Archirektur, das sich der Klassikerstadt einfach nicht einfügen will. Es durchschneidet den alten Grüngürtel Weimars und verdeckt mit seiner Überbauung den natürlichen Lauf des Asbachtals. Für eine Anlage, die als Regionalresidenz der Partei und riesiger Aufmarschplatz get ist, mußten 139 Häuser abgerissen werden. Altes und Morsches habe nun einmal zu weichen und Schönerem Platz zu machen, meinte der »Völkische Beobachter«.
Schöneres? Zerstörerisches für das Stadtbild ist kaum vorstellbar. Am Glockenturm, den Hitler dem Architekten Hermann Giesler aufzwang, hängen ab Sommer 1945 Stalinplakate, denn die massiven Gebäude dienen der sowjetischen Militäradministration als Unterkunft. Daß diese gern dort residiert, nimmt nicht Wunder, vom Stil her haben nationalsozialistische und stalinistische Architektur viele Gemeinsamkeiten. Giesler, nach Speer und Troost einer der führenden Baumeister des »Dritten Reiches«, hat sich Hitlers Aufmerksamkeit durch den Bau der Ordensburg Sonthofen gesichert und soll das Donau-Ufer von Linz umgestalten, das sich der »Führer« als Alterssitz erkor. Er entwirft auch den Neubau des Hotels »Elephant« in Weimar, das sich, anders als sein Gauforum, dem Stadtbild und den Fassaden am Marktplatz einfügt. Stammgast Hitler geht mit ihm die Pläne durch, korrigiert, regt an und äußert Wünsche, die selbstverständlich umgesetzt werden. Seit 1925 bis zum Kriegsausbruch vergeht kein Jahr, in dem er nicht mehrmals nach Weimar kommt, mit seiner Entourage im »Elephant« absteigt und ihn als Parteizentrale oder provisorische Regierungskanzlei nutzt. Alte Kämpfer in Thüringen betrachten das Hotel als Hitlers Weimarer Wohn- und Amtssitz, eine Art Führerpfalz in der Mitte Deutschlands, geographisch ideal gelegen und für Gauleiter aus allen Teilen des Reichs schnell zu erreichen. Zum Gautag 1938 schmückt eine Hakenkreuzstandarte den Führerbalkon des Neubaus im ersten Stock, und eine jubelnde Menschenmasse auf dem Weimarer Markt skandiert: »Lieber Führer, bitte, bitte - lenk auf den Balkon die Schritte.« - »Lieber Führer, komm heraus, aus dem Elephantenhaus.«
»Das Buch - ein Schwert des Geistes« heißt das Plakat zur Buchwoche 1935, »Bücher in Reihe und Glied« titelt die Thüringische Landeszeitung »Deutschland«; 1940 lautet das Motto dann »Buch und Schwert«. Nicht in eines der traditionellen Buch- und Verlagszentren, sondern in die Klassikerstadt legt Joseph Goebbels die nationalsozialistische Jahres- und Leistungsschau deutschen Schrifttums, weil er den Mythos Weimar für massenwirksame Kulturproanda nutzen will. Weimar gilt als »unversiegbare Schöpfstelle erhabenen Geistes«, Feder, Schwert und Pflug werden hier als »der deutsche Dreiklang« gefeiert. Völkische Dichtertage, seit Anfang der dreißiger Jahre von einem Kreis um Börries von Münchhausen, dem Gegenspieler der von Alfred Döblin geleiteten Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste auf der Wartburg veranstaltet, werden als Ergänzung zu den Buchwochen nach Weimar verlegt und von Goebbels zu Großdeutschen, später sogar Europäischen Dichtertreffen geweitet. Als die Dichter und Schriftsteller sich 1940 versammeln, tragen viele Feldgrau. Oberstleutnant Universitätsprofessor Dr. Kurt Hesse referiert über den »Beitrag des deutschen Schrifttums zur soldatisch-kämpferischen Leistung des Krieges«.
Ein Jahr später, im Zeichen jener nationalsozialistischen Agitprop-Fiktion von der »Nation Europa«, die einig gegen den Bolschewismus kämpft, kommen Dichter aus fünfzehn Nationen an die Um, darunter der Flame Felix Timmermanns, Verfasser des »Jesuskind in Flandern«, der Schweizer Bestsellerautor John Knittel, Magda Gräfin Bergquist von Mirbach aus Schweden und der Franzose Drieu la Rochelle. Hans Carossa, zum Präsidenten der neu gegründeten Europäischen Schriftstcllervereinigung berufen, spricht von der Veranstaltung als einem »Kongreß unfreier Schatten« und läßt sich schon bei der zweiten Tagung im Jahr darauf entschuldigen. Edwin Erich Dwingcr referiert im Oktober 1942 über den »Bolschewismus als Bedrohung der Weltkultur«, der alles auf der »tiefsten Ebene« silisiert habe. Die sowjetische Bevölkerung nennt er ein ausgemergeltes, mickriges lksgemisch und vergleicht sie einem »Haufen böser Termiten«. Gleichzeitig macht er gegen den Amerikanismus Front, weil dieser Flachheit, Außerlichkeit und Betriebsamkeit verkörpere. Und Wilhelm Schäfer, Verfasser der »Dreizehn Bücher der deutschen Seele«, feiert in seiner Festrede im Weimarer Nationaltheater den Krieg als den großen Gestalter, weil ein lk »Kraft des Befehls aus innerer Tiefe« sein Schicksal vollziehe.
Goethe würde »das höchste Glück seines Daseins genießen«, wenn er eine Festspielaufführung für die Hitler-Jugend sähe, denn ihr Jubel nach einer »Iphigenie«-Aufführung habe sage und schreibe fünfundzwanzig rhänge erzwungen. Das schreibt Hans Severus Ziegler in einem Programmheft des Deutschen Nationaltheaters, dessen Dramaturg und Schauspielleiter er 1933 wird, um dann 1935 die Generalintendanz zu übernehmen. Der einstige Bartels-Sekretär gibt immer wieder Sondervorstellungen für Organisationen von Partei und Staat - aus Anlaß der HJ-Verpflichtungsfeier Mozarts »Zauberflöte« oder, was heute wahrhaft komisch wirkt, für Pimpfe »Das tapfere Schneiderlein«. In geschlossenen rstellungen bietet er der SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Buchenwald neben unterhaltsamen Operetten wie Lortzings »Zar und Zimmermann« und »Wiener Blut« von Johann Strauß betont nationale oder völkische Stücke, die verdientermaßen längst auf dem Müllhaufen der Literaturgeschichte gelandet sind - etwa das nationalistisch indoktri-nierende Schauspiel »Blücher« von Max Geysenheyner oder das Blut-und-Boden-Drama »Thors Gast« von Otto Erler, bei dem er selbst Regie führt. Ziegler sucht nach Werken, die aus der »Zeitatmosphäre unseres gewaltigen völkischen Umbruchs und unserer Schicksalswende heraus die elementaren Probleme« darstellen. Elementar an Erlers Stück ist offenbar, daß der Held, ein junger germanischer Mönch namens Thyskcr, den es auf eine Insel der Nordmänner verschlagen hat, der »Stimme von Blut und Sippe« folgt. Er entscheidet sich für die blonde Thurid, für ihren heidnischen Donnergott und gegen den christlichen Glauben.
In der Spielzeit 1941/42 fahren die Schauspieler des Nationaltheaters samt Dekorationen sogar zur SS nach Buchenwald hinauf, um eine Oper und ein Schauspiel aufzuführen. Auch bei der Inszenierung der Bartels-Tragödie »Catilina« führt Ziegler selbst Regie. Zum achtzigsten Geburtstag seines Lehrmeisters im November 1942 opfert das Nationaltheater sogar den besten Spieltag der Woche, den Samstag, für eine »Festliche Kundgebung zu Ehren des völkischen rkämpfers« mit der Ouvertüre des »Freischütz«, Reden von Gauleiter Sauckel und Ziegler sowie Gedichten des Jubilars. Ebenfalls an einem Abend im November 1942 spricht Alfred Rosenberg, zuständig für die ideologische Erziehung der Partei, auf der weltanschaulichen Feierstunde »Stirb und Werde«.
Ziegler personifiziert den bösen Geist des rechtsgewendeten Weimar vor und in der Nazizeit. Während des Kapp-Putschs marschierte er als Zeitfreiwilliger gegen die Republik; als Bartels-Sekretär organisierte er die völkische Knappenschaft, der sein Ziehkind Baidur von Schirach angehörte; als Chefredakteur des »Nationalsozialist«, der nach dem »Völkischen Beobachter« zweiten Zeitungsgründung der NSDAP im Reich, schrieb er giftige »Abrechnungen« mit jüdischen Theaterkritikern des Konkurrenzblatts »Deutschland«; als stellvertretender Gauleiter organisierte er den Reichsparteitag von 1926 in Weimar; als kulturpolitischer Berater Wilhelm Fricks entwarf er den berüchtigten »Neger-Erlaß« und riet zur Berufung Schultze-Naum-burgs an die neue Kunstlehranstalt. Erklärt sich sein und Baidur von Schirachs ideologischer Übereifer damit, daß beide amerikanische Mütter haben und deshalb meinen, sich völkisch besonders bewähren zu müssen?
In seiner Kindheit lernte Ziegler in Eisenach Klavier und Orgel spielen und fühlt sich seither in musikalischen Fragen als halber Experte. Auf Wunsch von Goebbels stellt er für die Düsseldorfer Reichsmusiktage im Mai 1938 eine Ausstellung »Entartete Musik« zusammen, die er selbst als »Abbild eines wahren Hexensabbath des frivolsten, geistig-künstlerischen Kulturbolschewismus« bezeichnet. n Düsseldorf aus geht sie dann nach Weimar, wo sie als Ergänzung zur Ausstellung »Entartete Kunst« gezeigt wird, die auf ihrer Rundreise durch das Reich 1939 auch in die thüringische Gauhauptstadt kommt. Auf dem Titelblatt der Broschüre, die durch die Ausstellung führen soll, prangt ein schwarzer Saxophonist mit wulstigen Lippen und negroiden Zügen, im Knopfloch des Fracks ein Davidstern. Juden, heißt es in Zieglers »Abrechnung«, seien schon seit den Zeiten Heines und Börnes ein Ferment der Dekomposition gewesen: »Wer die Grenzen der Klangkombination dauernd verschieben will, löst unsere arische Tonordnung auf.«
Der »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Kurt Weill, die Jazz-Oper »Jonny spielt auf« von Ernst Krenek und Arnold Schönbergs »n Heute auf Morgen« werden verworfen, weil »Atonalität als Zerstörung der Tonalität Entartung und Kunstbolschewismus bedeutet«. Atonalität ist jüdisch und anarchisch, international und entdeutscht, der Dreiklang und die Tonalität dagegen sind gemütstief, germanisch und deutsch. Wer in die Schule Beethovens gegangen sei, könne unmöglich über die Schwelle der Werkstatt Schönbergs gehen, schreibt Ziegler, »wer sich aber länger in dieser Werkstatt aufgehalten hat, verliert notwendigerweise das Gefühl für die Reinheit des deutschen Genies Beethoven«. Ausgerechnet im Verlag des Großvaters, des amerikanischen Musikverlegers Gustav Schirmer, erscheinen jedoch die Werke Schönbergs, den abzulehnen für den Schwiegersohn »eine völkische Ehrenfrage« ist. Zu den Wunderlichkeiten der westdeutschen Nachkriegsentwicklung gehört, daß Ziegler, der nicht nur als Schreibtischtäter, sondern als »Reichsredner«, Redakteur, Generalintendant und Gaukulturwart einer der fanatischsten nationalsozialistischen Proandisten gewesen ist, in Essen unbehelligt als Privatlehrer, ab 1954 als künstlerischer Leiter des privaten »Kammerspiels« und danach als Lehrer und Erzieher an einem Internat in Norddeutschland tätig sein kann.
Hans Severus Ziegler indoktriniert, Gauleiter Ernst Friedrich (Fritz) Christoph Sauckel kommandiert. Nach der vorgezogenen NSDAP-Machtübernahme in Thüringen praktiziert er, was Hitler für das restliche Reich erst ein dreiviertel Jahr später anordnen kann, und fühlt sich als Schrittmacher auf dem Gebiet der Rassepolitik. Schon im Dezember 1932 ruft Sauckel in einer Rundfunkansprache zum Boykott jüdischer Geschäfte auf und befiehlt die Wiederholung am 1. April 1933, um sich der jetzt reichsweiten Aktion anzuschließen. Als erster deutscher Ministerpräsident schafft er in Weimar ein Landesamt für Rassewesen und bestellt Professor Karl Astel, den Erfinder der nationalsozialistischen Ahnentafel, zu seinem Leiter.
Weimar unter dem Nationalsozialismus heißt, nach dem Schicksal der Juden zu fragen, die in der Stadt Goethes und Herders lebten. Die auf Luther zurückgehende, von Carl August ausdrücklich bestätigte restriktive Zuzugspolitik im früheren Großherzogtum hat ihre Zahl geringgehalten. So bestimmte die »Judenordnung« von 1823, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt, daß »weder Juden-Familien noch einzelne Juden und Jüdinnen« im Großherzogtum aufgenommen werden durften. Zu den wenigen Juden, die kulturell führende Positionen in Weimar einnahmen, gehören Julius Wähle, lange Zeit Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, sowie Eduard Lassen, Hofkapellmeister und Komponist zur Zeit Carl Alexanders.
Eine Synagoge, welche Sauckels Sturmtruppen hätten anstecken, einen Betsaal, dessen Inventar sie hätten zertrümmern können, gibt es in Weimar nicht, denn die jüdische Gemeinde zählt nicht einmal fünfzig Köpfe. So demolieren SA und SS, als der von Staat und Partei befohlene Novemberpogrom 1938 anhebt, mangels anderer, lohnenderer Objekte, das letzte »nichtarische« Handelsgeschäft in Weimar, das Spielzeug und vor allem Puppen anbietet. Die Besitzerin Hedwig Hetemann, stadtbekannt als die »Puppenfrau« von der Teichgasse, wird im September 1942 nach Theresienstadt deportiert. n den zwölf Weimarer Juden, die man im November 1938 verhaftet und nach Buchenwald verschleppt, wird einer im Konzentrationslager ermordet, ein zweiter bringt sich um, ein dritter stirbt nach der Entlassung an den Folgen der Lagerhaft. Harry Stein und Erika Müller haben an das Schicksal des in Weimar fast völlig vergessenen weltberühmten Cellisten Eduard Rose erinnert, der von 1900 bis 1926 als Konzertmeister der Weimarer Staatskapelle wirkte. In einer Petition bittet er den Polizeipräsidenten, ihn vom Tragen des gelben Sterns zu dispensieren, weil er sich als getaufter Jude damit »eines Meineids der Kirche gegenüber« schuldig machen würde. Da er seine Eingabe nur mit Rose unterschrieben und nicht, wie die NS-rschrift bestimmt, den Zwangsvornamen Israel davorgesetzt hat, wird der Dreiundachtzigjährige verhaftet. Als eine Haussuchung eine Lebensmittelkarte zutage fördert, auf der das Kennzeichen »J« ausradiert ist, stellt man ihn wegen Urkundenfälschung und Verstoß gegen die Verordnung über jüdische rnamen vor Gericht. Bis zur Deportation nach Theresienstadt im September 1942 lebt er in der Belvederer Allee 6, einem der zwei Ghettohäuser, welche die Stadt Weimar eingerichtet hat. Die Hausbesitzerin, die in Weimar früher gefeierte Sängerin Jenny Eleischmann, nimmt sich mit ihrer Nichte das Leben, als sie von ihrer bevorstehenden Deportation ins Generalgouvernement erfährt.
Was ist schon ein Mustergau, zu dem er Thüringen ausbauen will, ohne dort stationierte starke SS-Verbände, fragt sich Fritz Sauckel und bewirbt sich bei Himmler um die Errichtung eines Konzentrationslagers für Mitteldeutschland. Folgt man Peter W. Becker, dann hat sich Sauckel in Nürnberg zugute gehalten, daß er nie ein Buch gelesen hat, was ihn als Gauleiter für Weimar natürlich besonders qualifiziert. Albert Speer hielt ihn für geistig überfordert, als Hitler ihn zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz bestellte und Sauckel fortan Millionen von Zwangsarbeitern im besetzten Ost- und Westeuropa für deutsche Rüstungsfabriken requiriert - eine Tatsache, die ihn in Nürnberg an den Strang gebracht hat.
Im Jahr 1937 erfüllt Himmler seinen Wunsch: Ein dreizehntausend Mann starker SS-Totenkopf-Verband wird nach Weimar verlegt und bewacht ein KZ mit Folterkellern, Genickschußanlage und Krematorium, das zunächst für achttausend Häftlinge ausgelegt ist, doch sich während des Krieges zu einem eigenen Terror-Imperium mit Zehntausenden Häftlingen entwickelt, das sich mit achtzig Außenlagern für ober- und unterirdische Rüstungsfabriken über ganz Mitteldeutschland verbreitet. Bis Kriegsende gehen zweihundertvierzigtau-send Häftlinge durch die Hölle von Buchenwald, vierzigtausend von ihnen werden erschossen, zu Tode gequält oder verhungern.
Das Böse kann Formen annehmen, daß sich die Feder sträubt, sie zu Papier zu bringen, meint der Buchenwaldhäftling Eugen Kogon. Hinter den Gitterstäben einer terroristischen Disziplin herrschte »ein Dschungel der Verwilderung, in den von außen hineingeschossen, aus dem zum Erhängen herausgeholt, in dem vergiftet, vergast, erschlagen, zu Tode gequält, um Leben, Einfluß und Macht intrigiert, um materielle Besserstellung gekämpft, geschwindelt und betrogen wurde, neue Klassen und Schichten sich bildeten, Prominente, Parvenüs und Parias innerhalb der Reihen der Sklaven, wo die Bewußtseinsinhalte sich wandelten, die sittlichen Wertmaßstäbe bis zum Zerbrechen sich bogen, Orgien begangen und Messen gefeiert, Treue gehalten, Liebe erwiesen und Haß gegeifert, kurzum die tragoedia humana in absonderlichster Weise exemplifiziert wurde«.
Weimar unter dem Nationalsozialismus, das heißt nach Buchenwald fragen, nach dem Nebeneinander von deutschem Parnaß und brutalem Terror, auch nach dem Wissen, das die Bürger der Klassikerstadt über die rgänge auf dem Ettersberg hatten. Als Zieglers Deutsches Nationaltheater Franz Lehärs »Land des Lächelns« spielt, sitzt der Verfasser des Librettos, der Österreicher Fritz Löhner-Beda, im Lager oben über der Stadt hinter elektrischem Stacheldraht. Und als die deutschen Dichter sich 1938 in Weimar versammeln, erscheint einer von ihnen, physisch gebrochen, mit kahlgeschorenem Kopf: Ernst Wiechert, der Sympathien für die Bekennende Kirche äußerte und deshalb einige Monate in Buchenwald saß. Nach seiner Entlassung von Goebbels zu einem persönlichen Verhör nach Berlin bestellt, wird er, mit einer »letzten Warnung« versehen, demonstrativ zum Dichtertreffen nach Weimar beordert - zwecks Abschreckung. »Über eine solche >Behandlung< von Schriftstellern«, schreibt Burkhard Stenzel, »fiel öffentlich in Weimar kein Wort, auch nicht darüber, wie die >geistigen Waffen< unter Verwendung der Namen Goethes und Schillers zur Proierung einer lksgemeinschaft radikal gegen Regimegegner eingesetzt wurden.« Nicht gegen die Existenz eines Konzentrationslagers protestiert die NS-Kulturgcmeinde bei der SS, nur gegen die Namensgebung. »Die angeordnete Bezeichnung >K.L. F.ttersberg