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ASPEKTE DEUTSCHER ZEITERFAHRUNG

ASPEKTE DEUTSCHER ZEITERFAHRUNG

Der philosophische Tiefsinn, der seit Heraklit das Nachdenken über das "Menschheitsproblem Zeit auszeichnet, hilft diesem Versuch nur wenig. Hier geht es nicht um die Zeit schlechthin als eine scheinbar objekti Gegebenheit oder eine angeborene Vorstellung des menschlichen Bewußtseins, sondern um die soziale und kulturelle "Beziehungsform Zeit (Elias), die erst eine kontrasti Betrachtungsweise erlaubt.
Über viele der in diesem Zusammenhang wichtigen Problembereiche ist erstaunlich wenig nachgedacht worden. Das gilt vorweg für die historischen Veränderungen des Zeitempfindens, aber auch für die Alltagszeit, die in ihren routinisierten schedules, Rhythmen und Freizonen kaum bewußt wird. Die Reglementierung, ja Herstellung des Alltags durch das Diktat der Zeit, Zeitknappheit, Termindruck, Lebenstempo etc. wird zwar als allgegenwärtige Belastung empfunden und beklagt, gilt jedoch in ihrer abstrakten Zwangsläukeit als selbstrständlich und unirsell.
Historisch gesehen ist damit der vorläue Endpunkt eines längst rinnerlich-ten Prozesses erreicht, der als einschneidende Form des zivilisatorischen Zwangs bereits in der Neuzeit und vollends im Zuge der Durchsetzung des industriellen Kapitalismus alle und alles der synchronisierenden Zeitrechnung der Uhr zu unterwerfen suchte.



Die weitreichende Vereinheitlichung durch diese Uhrzeit, die "alle in eine Zeit zusammenbringt (Laermann 1975.91) ist jedoch nur eine Seite des Prozesses. Ein Vergleich wie der hier rsuchte kann sich andererseits von der begründeten These leiten lassen,

that each society, each social class, each particular group, each microsocial dement () has a tendency to operate in a time proper to itself (Gurvitch 1963,174).

In beiden Ländern hat der avancierte Standard der Industrialisierung und Automation die Vorherrschaft der linearen Zeit durchgesetzt. Aber bereits der enorme Größenunterschied zwischen den USA und der Bundesrepublik, die unterschiedliche Mobilität in ihrer jeweils anderen rkehrstechnischen Dosierung von Geschwindigkeit prägen dirgierende Raum-Zeit-Erfahrungen aus. Die unterschiedlichen Berufe, die jeweilige Schichtzugehörigkeit etwa bewahren einen eigenen Zeit; stärker als in der Bundesrepublik mischen sich in den USA zudem die unterschiedlichen Rhythmen und Zeittakte zahlreicher ethnischer Gruppen und regional bedingte Unterschiede des Lebenstempos und der Zeitgestaltung (vgl. Hall 1983a, 61f.). Am suggestivsten hält schließlich in beiden Ländern die Kunst die Erinnerung an Vorstellungen wach, die die Alltagszeit aufbrechen und Zeitwerte wie Dauer, Simultaneität. Erinnerung. Wiederholung oder Zeitenthobenheit geltend machen.
Die vorherrschenden Zeitperspektin in beiden Gesellschaften sind - glaubt man gängigen Stereotypen - grundlegend rschieden: In den USA herrscht Fortschritts- und Zukunftsorientierung, in der Bundesrepublik dagegen überwiegen Kulturpessimismus und Zukunftsangst. Das kann - ebenso wie die oft konstatierte Differenz amerikanischer und deutscher Berufs- und Lebensung - nicht abstrakt, sondern nur im Blick auf soziokulturelle. die jeweilige nationale Mentalität prägende Schlüsselphänomene diskutiert und differenziert werden.

Der Vergleich dominierender Aspekte des Geschichtsbewußtseins in der Bundesrepublik und den USA entfernt sich noch weiter von elierten Meinungen und Denkmustern. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß die zum Grundbestand der europäischen Selbstdarstellung gehörende Überzeugung von der eigenen geschichtlichen Verwurzelung und der Geschichtslosigkeit der Amerikaner einen wesentlich komplexeren Tatbestand rstellt.

Historische Bedingungen der Alltagszeit

Wie vor allem Edward P. Thompson in seiner grundlegenden Studie nachgewiesen hat. nimmt die Bedeutung der Zeit in dem Maße zu, in dem der Arbeitsprozeß synchronisiert werden muß. "Solange sich die Produktion in Heimarbeit und kleinen Werkstätten ohne weitergehende Arbeitsteilung vollzog, blieb auch das notwenige Ausmaß an Synchronisation gering, die Orientierung an den Aufgaben (...) vorherrschend (Thompson 1980. 44). Wie in diesem Stadium konkrete, vertraute Verrichtungen das Zeitmaß vorgeben, bezeugen anschaulich Wendungen wie "pater noster while, "miserere while oder "pissing while. Es herrscht die zyklische Zeiterfahrung, die - im nostalgischen Rückblick häufig romantisiert - an den Kreislauf der Jahreszeiten und Naturprozesse, an die wiederkehrenden Rhythmen sakraler und profaner Ereignisse gebunden bleibt.
Das ändert sich zunächst in England im Zuge rationellerer Arbeitsmethoden und wachsender Arbeitsteilung, die die Verflechtung und das wechselseitige Angewiesensein von immer mehr Menschen verstärken und ihre immer genauere Abstimmung erfordern. Zeit wird zur berechneten und optimal auszunutzenden Arbeitszeit, die nicht müßig verbracht werden darf.

Die Vorstellung, daß die Zeit mit Arbeit auszufüllen und Müßiggang Sünde sei, ist freilich nicht erst mit der Industrialisierung aufgekommen. So kennt z.B. auch die mönchische Askese Zeitdisziplin und -kontrolle. Seit der Manufakturperiode schaffen jedoch fortschreitende Arbeitsteilung und die Synchronisation von Arbeitsabläufen eine quantitativ und qualitativ neue Zeitauffassung.
Die Uhr mit ihrer zunehmend präziseren Zeitmessung ist das Symbol und Instrument der neuen Zeitmoral. Die Uhren rücken den Menschen im Laufe der Jahrhunderte "buchstäblich auf den Leib (Laermann 1975, 90): die zunächst vorherrschenden Turmuhren werden ergänzt durch die 1658 verbesserten Hausuhren: auf diese folgen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Taschenuhren, die die Allgegcnwart der Zeitkontrolle sichern. Aus dem Fremdzwang wird zunehmend Selbstzwang, die zur zweiten Natur gewordene "innere Uhr kann schließlich zuverlässiger funktionieren als die "äußere.
Der Übergang von der zyklischen zur linearen Zeit vollzieht sich keineswegs so spannungslos und harmonisch, wie es eine Episode im 13. Kapitel des "Siebenkäs (1797) von Jean Paul ausmalt. Für die naturale Zeitauffassung steht dort "Linnes Blumenuhr (horologium florae) in Upsal, deren Räder die Sonne und Erde, und deren Zeiger Blumen sind, wovon immer eine später erwacht und aufbricht als die andere (zit. n. Lepenies 1976.13). Von den beiden Zimmern, die der Erzähler bewohnt, kann er sowohl die Verkörperung der naturalen wie der gesellschaftlichen Zeit in scheinbar friedlicher Übereinstimmung wahrnehmen:

... in mein vorderes (Zimmer) schauete der ganze Marktplatz und die fürstlichen Gebäude hinein, in mein hinteres der botanische Garten. Wer jetzo in beiden wohnt, hat eine herrliche vorherbestimmte Harmonie zwischen der Blumenuhr im Garten und der Menschenuhr auf dem Markt (ebd.).

In der Vorbereitungsphase der industriellen Revolution ist jedoch die Durchsetzung der ünearen Zeit und der mit ihr verbundenen neuen Arbeitsdisziplin ein einschneidender und schmerzlicher Prozeß, der zunächst in England auf den Widerstand einer vergleichsweise selbstbewußten, an traditionellen Ver-haltensmustcrn festhaltenden Volkskultur stößt. Es bedurfte großer Anstrengungen, diesen Eigensinn der Alltagskultur des Volkes zu brechen. Geburt und Tod, Heirat und Jubiläum im Herrscherhaus, Kirchweih, Heiligenehrung, Wallfahrten und Brauchtermine, sie alle boten Gelegenheit, aus den Phasen intensiver bäuerlicher Arbeit auszubrechen. Die kirchlichen und staatlichen Regulierungsversuche, diese "vulgäre Zeitvergeudung mit ihren "Gefahren für Sitte, Wohlstand und öffentliche Ordnung durch maßvolle Vergnügungen zu "ersetzen, sprechen Bände. "Nothigkeit und Freudlosigkeit eines ganzen Jahres, stellt ein preußischer Landrat in einer Denkschrift mit dem Titel "Die .überhäuften katholischen Feiertage im Kreise Prüm ... fest, werden durch "Übermaß auszugleichen versucht. Er zählt im Jahre 1853 in diesem rückständigen und verarmten Gebiet nicht weniger als 204 Sonn- und Feiertage im Jahr, an denen in den verschiedenen Dörfern die Arbeit jeweils zumindest teilweise ruhte. Im festfreudigen Dezember standen allein in 37 Dörfern zehn Tage im Zeichen kirchlicher Feiern, im Januar und Februar waren es nicht wesentlich weniger. Sein Fazit lautet: "Durch Beschränkung dieser Feiertage würde gewiß der Wohlstand der Eifel gefördert werden (Palm 1966, 192). Der "freie Bauer, der früher die vielen Feiertage als Ausgleich zum "schweren Frondienst brauchte, so argumentiert der aufgeklärte preußische Staats-Moralist, sollte durch die Kirche nicht länger genötigt sein, "so viel Zeit zu seinem eigenen größeren Nachteil zu vergeuden (ebd., 200).
Die "barocke, ausschweifende Festkultur der vorindustriellen Gesellschaft wird erstmals durch die Zunftregeln der städtischen- Handwerker eingeschränkt. Bis heute ist die Erinnerung an den "Blauen Montag in der Sprache lebendig geblieben: "Blau macht, wer nicht zur Arbeit geht, das "Montagsauto ist wegen seiner Mängel, die lustlose Arbeiter nach dem Wochenende produzieren, gefürchtet. "Obgleich die Zünfte im 19. Jahrhundert rasch ihre lebensprägende Rolle verloren, als moderner Staat und bürgerlicher Wirt-schaflsliberalismus sie in ihren Kompetenzen beschränkten oder auflösten, überlebten ihre Muster gerade an Feierabend und Festtag lange (Blessing 1984,357). Was zunächst selbstverständliches Recht der Gesellen war, "Montag zu halten, also zum Ausgleich intensiver Arbeit "blau zu machen, wird zunehmend eingeschränkt.
Anders als in England, wo, wie Thompson gezeigt hat, vor allem die puritanischen Moralisten die Leitlinien der "Umerziehung vorgaben, ist in Deutschland und insbesondere in Preußen dieser Prozeß der Zeitregulierung entscheidend von der spezifischen Staatstradition, den regulierenden Eingriffen des Staates, beeinflußt. Aber auch eine Arbeiterbewegung, die sich für Modelle der "sinnvollen Gestaltung der arbeitsfreien Zeit und für ein von Handwerkstraditionen geprägtes Arbeitsethos stark machte, treibt diesen Prozeß voran. Arbeitszeitverkürzungen - wie 35-Stunden-Woche oder Verlängerung des Urlaubs - sind bis heute zentrale Forderungen der deutschen Gewerkschaften. Trotz dieser starken Nivellierung dürfen jedoch die nach wie vor spürbaren regionalen, auf konfessionellen Traditionen beruhenden Unterschiede nicht übersehen werden. Eine aktuelle Anekdote mag dies (auch in kontrastiver Perspektive) verdeutlichen: Ein bayerischer Ministerialbeamter, der in Verhandlungen mit einem amerikanischen Elektronikkonzern auf die besondere Freizeitqualität seines frommen Landes verwies, wo sich protestantisch-fränkische und katholisch-bayerische Feiertage mehr als in anderen Bundesländern häufen, soll damit eine amerikanische Firma veranlaßt haben, sich im baden-württembergischen Sindelfingen anzusiedeln, wo nach protestantischer Tradition die Feiertage etwas seltener sind.

Eine genauere Chronologie der Ausbreitung und Durchsetzung der veränderten Zeiterfahrung in Europa braucht hier nicht geliefert zu werden. In Deutschland ist Johann Gottfried Schnabels bereits zitierter utopischer Roman "Insel Felsenburg (1732) eines der frühesten literarischen Zeugnisse für die das ganze Leben durchdringende Zeitkontrolle. Als Beispiel ein scheinbar beiläufiges Detail: Nach der ersten Nacht im "Lust-Revier der entdeckten Insel wacht der Held Albertus erst "etwa zwey Stunden nach Aufgang der Sonnen auf, und es heißt: "Ich schämete mich vor mir selbst, so lange geschlaffen zu haben (...) (Schnabel 1969,94). Auch im "irdischen Paradies der fernen Insel tickt die Uhr, bestraft ein gleichsam eingebauter Selbstzwang das Überschreiten der Schlafzeit mit Scham.
Nicht zufällig demonstriert der Deutsche Max Weber jedoch den "Geist des Kapitalismus vor allem an dem Amerikaner Benjamin Franklin. Der hier herangezogene lange Passus aus "Advice to a young tradesman (1748), einem Dokument von "nahezu klassischer Reinheit, beginnt mit der längst sprichwörtlich gewordenen Maxime: "Bedenke, daß die Zeit Geld ist (...) (Weber 1920.31). Bereits hier deutet sich an, daß die Zeitmoral erfolgreich nach Amerika importiert worden ist und unter den besonders günstigen Bedingungen von konsequenter Industrialisierung, Puritanismus und Fortschrittsoptimismus Vorbildcharakter für die westlichen Industrienationen erhalten wird. Benjamin Franklins eigener Tagesplan wirkt noch vergleichsweise gemächlich: "sechs ganze Stunden sind dem Geschäft gewidmet: sieben Stunden schläft er: die übrige Zeit beschäftigt er sich mit Beten, mit Lektüre, mit geselligen Zerstreuungen (Sombart 1913.1484). Im 19. Jahrhundert sehen die Tagespläne bedeutender Unternehmer schon ganz anders aus. William Manchester berichtet in seiner Biographie "Krupp. Zwei Generationen (1968) über Gustav Krupp:

Gästen, die über Nacht auf dem Schloß blieben, wurde bekanntgegeben, das Frühstück werde um 7.15 Uhr serviert. Erschienen sie erst um 7.16 Uhr. standen sie vor den verschlossenen Türen des Speisezimmers. Gustav selbst frühstückte genau 15 Minuten lang, und dann eilte er mit großen Schritten nach draußen, wo sich die Kutsche - oder ab 1908 der Wagen - genau in dem Augenblick in Bewegung setzte, wenn seine Füße nicht mehr auf der Erde standen. In seiner Tasche trug er ein kleines Buch mit sich herum, in dem der Stundenplan für jeden Tag in allen Einzelheiten vorgezeichnet war: So viele Minuten für dies, so viele für das. Es war sogar ein Termin zur Ausarbeitung des Stundenplans für den nächsten Tag (...) berücksichtigt (zit. n. Jeggle 1977.117).

Die kapitalistische Produktionsweise ist zweifellos der Motor der Veränderung des Zeitbewußtseins. Der an ihr beobachtete Prozeß einer wachsenden Inter-dependenz der Menschen, der zugleich ihre Koordination in eine immer größere räumliche und zeitliche Ferne erzwingt, ist jedoch nicht nur der Trend eines sozialen Teilbereichs, sondern kennzeichnet die Entwicklungsstruktur der neuzeitlichen Gesellschaft überhaupt. Mit der funktionalen Differenzierung des sozialen Lebens vermehren und durchkreuzen sich die unterschiedlichsten Zeitpläne und Zeitansprüche in einer immer komplexeren Gesellschaft und zerteilen, zerstückeln und verplanen den zeitlichen Lebensablauf.

Gegenzeiten

Die Erfahrung des beschleunigten Wandels, von Bewegung und Veränderung läßt nun auch die Zeit als dynamische Kraft der Geschichte erscheinen: "Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte, formuliert der Historiker Reinhart Koselleck, der die "Verzeitlichung der Geschichte in mehreren Veröffentlichungen belegt hat (Koselleck 1979,321).
Nicht zufällig registriert das Grimmsche Wörterbuch für die Epoche um 1800 mehr als 100 neugeprägte Komposita mit Zeit: z.B. Zeit-abschnitt, -anschau-ung, -bewegung. -dauer, -entwicklung, -epoche, -ereignis, -gang und Zeitgeist. Im Bereich der politischen Terminologie entstehen neue "Bewegungsbegriffe mit dem ismus-Suffix (z.B. Liberalismus, Republikanismus, Sozialismus, Kommunismus), die nicht mehr verbürgte Erfahrungen aus der Vergangenheit registrieren, sondern Vorgriffe auf eine erst zu schaffende Zukunft sind. "Sie beruhen auf der Erfahrung des Erfahrungsschwundes, weshalb sie neue Erwartungen hegen oder wecken müssen (Kosclleck 1979. 345). Wörter wie "Fortschritt oder "Entwicklung, gleichfalls Neuprägungen aus der Zeit um 1800, werden zu Schlüsselbcgriffen, da sie in besonderem Maße Erwartungen auf eine nicht nur andere, sondern auch bessere Zukunft versammeln.
Dennoch darf man sich die Vorstellung von Zeit und Geschichte im 19. Jahrhundert nicht ausschließlich als eine lineare, auf einen unbegrenzten Zukunftshorizont bezogene Fortschrittsbewegung denken. Die beschleunigte Veränderung, der Bruch mit den Traditionen setzt zugleich das historische Denken frei, der Vorgriff auf die Zukunft verbindet sich mit dem Bedürfnis nach einer vergegenwärtiglen Vergangenheit. Allen Säkularisierungsprozessen zum Trotz schrumpft auch die christliche End- und Heilserwartung nicht zur Bedeutungslosigkeit; in der Literatur und in geschichtsphilosophischen Entwürfen tritt auch die Zyklik als Anschauungsform historischer Zeit in Konkurrenz zur linearen Fortschrittsperspeklive.
Wo immer Freiräume blieben oder spezifische Lebens- und Arbeitsbedingungen dies erlaubten, hat es eine restlose Herrschaft der sozialen Zeit über die innere, erlebte Zeit nicht gegeben. Widerstand regt sich vor allem in der Literatur, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zunehmend kritischer Distanz zur bürgerlichen Welt ihre autonome Eigengesetzlichkeit hervorkehrt. So riskiert der junge Friedrich Schlegel etwa in seiner "Lucinde (1799) eine "Idylle über den Müßiggang und preist die Faulheit "als einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb (Schlegel 1984.35). Und Eichendorff entwirft in seinem "Taugenichts die Utopie einer vom Leistungsprinzip unberührten Figur, deren anstößige Unbrauchbarkeil vom Lesepublikum freilich nur verharmlosend verstanden werden konnte. Der Zustand der Langeweile fällt nicht erst im 19. Jahrhundert aus der geschäftigen Zeit, verschließt jegliche Zukunftsaussicht und läßt alles leer, gleich-gültig und beliebig erscheinen. Solche in der Weltschmerzdichtung eines Byron, Musset, Lenau oder Leopardi verbreiteten Themen und Stimmungen faßt in ironischer Übertreibung z.B. Georg Büchners Lustspiel "Leonce und Lena (1836) zusammen. Das abschließende Traumbild eines Staates, in dem die Arbeit strafbar ist, setzt in diesem Lustspiel, anders als bei Jean Paul, die sozialisierte Zeit außer Kraft und kehrt zur naturalen Zeiterfahrung zurück: "wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monde nur nach der Blumenuhr. nur nach Blüte und Frucht (3. Akt, 3. Szene).
Zurück jedoch zu den vorab erwähnten Formen der Zeit- und Geschichtserfahrung, die die Orientierung an Zukunft und Fortschritt widerrufen oder modifizieren. Der christliche Glaube an die Überwindung irdischer Zeit durch die Ewigkeit ist keineswegs nur noch ein Stoff für biedere Erbaulichkeit. Johann Peter Hebels Kalendergeschichte "Unverhofftes Wiedersehen (1811). für Ernst Bloch "die schönste Geschichte der Welt, bezeugt dies besonders eindrucksvoll.

In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge hübsche Braut und sagte zu ihr: "Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet (Hebel 1977.22).

Acht Tage vor der Hochzeit kehrt jedoch der Bräutigam aus dem Bergwerk nicht wieder. Ein halbes Jahrhundert vergeht, das Hebel in einer berühmt gewordenen Raffung überbrückt. Eine lange rhythmisierte Aufzählung welthistorischer Ereignisse geht gleitend von der großen Geschichte in die des Alltags, von der Gleichförmigkeit des Vergehens in die überdauernde Tätigkeit der Bauern und Handwerker über. Da wird tief unter der Erde der Leichnam eines Jünglings geborgen, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit (ebd., 23).

Erkannt wird der Tote allein noch von seiner einstigen Braut. Mit ..Wehmut und Tränen sehen die Umstehenden ein denkwürdiges Paar:
... die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach 50 Jahren die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte (ebd., 24).
Die Macht der Zeit, die sonst unmerklich wirkt, wird an der Hinfälligkeit der greisen Braut mit einem Schlage bewußt. Zugleich aber spricht die Szene durch die zeitlose Treue der Braut und die freilich nur um den Preis des Todes bewahrte Unversehrtheit des Jünglings - vom Sieg über die Zeit. Dies ist nicht das letzte Wort der Kalendergeschichte, die am Ende auch diese irdische "Zeit-losigkeit übergreift durch die gläubige Hoffnung auf die Ewigkeit.
Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: "Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehen im kühlen Hochzeitsbett, und laß dir die Zeit nicht lange werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag. - Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten, sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute (ebd., 25).
Vor allem jedoch sind es vielfältige Formen der Rückwendung zur Vergangenheit, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft der Zukunft zwar nicht prinzipiell in Frage stellen, sie jedoch nicht zur allein bestimmenden Dimension werden lassen. Wie sehr das Heimweh, die Suche nach dem Ursprung die deutsche Romantik prägen, braucht kaum betont zu werden. Zukunft ist für die romantische Geschichtsphilosophie die rückprojizierte Vergangenheit eines "Goldenen Zeitalters, dessen utopische Wiederkehr und Erneuerung erhofft wird. Die innere Handlung des Romans im 19. Jahrhundert besteht für den jungen Georg Lukäcs entscheidend im Kampf gegen die Macht der Zeit. Seine "Theorie des Romans (1920) hebt neben der Hoffnung die Erinnerung als zentrales Zeiterlebnis heraus, das eine Überwindung der Zeit leisten kann. Mit lebensphilosophischer Emphase wird hier das epische Erinnern beschworen, das die Dualität von Innerlichkeit und Außenwelt für das Subjekt aufhebt und sein Leben in organischer Einheit darstellt: "Es ist die Heimkehr des Subjekts in sich selbst (Lukäcs 1971,114).

Damit ist zugleich auch der Impuls benannt, der in den zahlreichen Autobiographien der Zeit die Erinnerung antreibt. Die Suche nach dem "Goldenen Zeitalter verwandelt sich hier vor allem in eine Vergoldung der Kindheit, die allein noch die "Heimkehr des Subjekts in sich selbst, in seine Identität zu verbürgen scheint. Zu nennen sind vor allem die populären, zum Teil millionenfach verbreiteten Werke des Genres: Ludwig Richters "Lebenserinnerungen eines deutschen Malers (1855), Wilhelm von Kügclgens "Jugenderinnerungen eines alten Mannes (1870) oder - auch nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs noch erfolgreich - Carl Ludwig Schleichs "Besonnte Vergangenheit (1920).
Es gibt zweifellos Analogien zwischen dieser autobiographischen Erinnerung der individuellen Lebensgeschichte und dem Rückgriff auf die allgemeine Geschichte z.B. in historischen Romanen oder im historischen Denken insgesamt. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen durch eine imaginäre Welt erinnerter Bilder soll Halt und Dauer verschaffen und der geschichtlichen Bewegung ihren Stillstand entgegensetzen.
Nichts anderes leistet auch die zyklische Anschauungsform historischer Zeit, die beispielsweise die Struktur vieler Werke Stifters und - weithin unbekannt -noch die Literatur der Jahrhundertwende prägt und auch die Geschichtsphilosophie eines Görres, Bachofen, Spengler oder Toynbee beherrscht. "Der Kreislauf des Lebens führt das Ende von neuem in den Anfang zurück, formuliert etwa Bachofen (zit. n. Plumpe 1984, 209). Für das zyklische Geschichtsdenken bedeuten krisenhafte Erfahrungen nicht das Ende, sondern nach der Devise "Je schlimmer - desto besser die Wende zur Erneuerung des "guten Alten und vermitteln somit brüchig die Erfahrung der Bewegung mit dem Bedürfnis nach Stabilität und Stillstand.

Geschwindigkeit

Die Zeit ist auch nicht schneller geworden, wie es die geläufige Vorstellung vom "Tempo unserer Zeit suggeriert. Norbert Elias sah vor einem halben Jahrhundert darin nur einen "Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen gesellschaftlichen Funktion verknoten (...) (Elias 1969. 337). Die Diagnose ist jedoch unvollständig und verkennt, in welchem Maße Tempo, verstanden als Beschleunigung des Verkehrs seit der industriellen Revolution. Zivilisation "verkörpert und vorantreibt. Paul Virilio, der chaotisch-genialische Cheftheoretiker der Geschwindigkeit, läßt die Herrschaft der "Dromokratie, wie er sie nennt, mit der Dampfmaschine beginnen und trifft sich dabei mit Wolfgang Schivelbusch. der in seiner "Geschichte der Eisenbahnreise (1977) von der "Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert spricht. Die ersten Eisenbahnen in England (mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 bis 30 Meilen pro Stunde) werden im 19. Jahrhundert mit einem Projektil verglichen, das Raum und Zeit vernichte. Heute schwer nachvollziehbar, bezeugen die von Schivelbusch belegten Reaktionen der Zeitgenossen die schockartige Wirkung, die von der Erschütterung des überlieferten Raum-Zeit-Kontinuums ausging. Heine schreibt in "Lutezia (1854):
Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig (...). In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orleans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee (Heine 1968, Bd. 3,510).
Dank der beschleunigten Durchdringung des zähen Raums "gewinnt man Zeit und "verliert - nach dem Eindruck der Zeitgenossen - den Raum, genauer den durchfahrenen Zwischen-Raum zwischen Abfahrts- und Zielort. Die von der Eisenbahn erschlossenen Landschaften verlieren ihr Hier und Jetzt, letzteres in einem ganz konkreten Sinn. "Es wird ihnen durch die Eisenbahn ihre lokale Zeit genommen. (...) Londoner Zeit war vier Minuten früher als die Zeit in Reading, siebeneinhalb Minuten früher als in Cirencester, 14 Minuten früher als in Bridgewater (Schivelbusch 1977, 43). Die Regelung des überregionalen Verkehrs erzwingt schließlich eine einheitliche Eisenbahn-Standardzeit, die Grecnwich-Zeit, die 1880 allgemeine Standardzeit für England wird. Auch das im Jahre 1883 in Kraft getretene System der Vier-Zeit-Zonen in den USA galt zunächt nur für die Eisenbahnen, bevor es als allgemeine Standardzeit eingeführt wurde (vgl. ebd., 44f.).

Die Revolution der Kommunikationsmittel (Telegraphie, Telefon, Radio, Fernsehen), die Erfindung des Autos und Flugzeugs bis hin zur Entwicklung von Raketen und Laserwaffen lassen die Ära der ersten Eisenbahnen längst als "gute, alte Zeit erscheinen. - Mit Blick auf den heutigen Entwicklungsstand der "Dromokratie spricht Paul Virilio vom "Verschwinden der Orte im Zeichen einer Geschwindigkeit, durch die einmal alle Städte am selben Ort sein werden: nämlich in der Zeit. Diese Welt, in der alles in Reichweite ist und gleichzeitig präsent werden kann, malt der Franzose publikumswirksam mit den düstersten Farben aus und beschwört ihr apokalyptisches Ende:

Die unmittelbare und gegenseitige Erkennung macht den geringsten Zwischenfall, die geringste Geste entscheidend für die Zukunft der Welt. (...) Von jetzt an ist alles extrem, ist das ENDE der Welt fühlbar in der Situation, die sowohl aus der Super-Durchdringbarkeit der Gelände wie aus der Hyper-Kommunikabilität der Mittel herrührt (Virilio 1978, 43f.).

Kontrastive Stich worte zur amerikanischen Alltagszeit

Europäische Beobachter bemerken überrascht, daß es im Lande des "time is money zumindest in einigen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens gemächlich zugeht. Die Geschwindigkeitsbeschränkung auf den Autobahnen erzeugt, verbunden mit der Großräumigkeit und geringen Besiedlungsdichte. einen entspannten Verkehrsfluß ohne die aggressive Hektik, die vor allem in der Bundesrepublik zunehmend zu beobachten ist. An den Flughäfen warten die Amerikaner mit erstaunlicher Geduld auf ihre nicht immer pünktlichen Flüge, und amerikanische Geprächspartner, etwa in den Universitäten, scheinen, obgleich keineswegs unbeschäftigt, viel Zeit für ihre Gäste zu haben. Das sind gewiß subjektive Impressionen, die je nach Region variieren mögen: europäische Verhältnisse eher in den Metropolen der Ostküste, ländliche Langsamkeit im Mittleren Westen (wenn das nicht schon wieder ein Topos ist). Trotz der scheinbaren Nivellierung des Zeitverhaltens in den Industriegesellschaften zeigt sich hier eine Vielfalt von kulturspezifischen Formen des Umgangs mit der Zeit, die durch unterschiedliche Faktoren geprägt ist.
Eine nicht unwesentliche Voraussetzung für eine weniger gehetzte Lebensführung sind die wesentlich längeren Öffnungszeiten der Läden, Supermärkte und Dienstleistungsbetriebe in den USA. Sie hängen nicht nur mit dem schärferen Wettbewerb und der Schwäche der Gewerkschaften, sondern auch mit der religiösen Vielfalt zusammen, die z.B. eine einheitliche Schließung am Sonntag verhindert. Die ungebrochenen demokratischen Traditionen in den USA manifestieren sich auch in den größeren Zeitbudgets, die Bürokratien und öffentliche Instanzen für die Bürger bereithalten. Man ist gewohnt, vom ausgeprägten deutschen Arbeitsethos und der eher pragmatischen Einstellung zum "job in Amerika zu sprechen. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, daß sich die Realität merklich vom Stereotyp entfernt hat. Die deutsche Fixierung auf Feierabend, Wochenende und Ferien findet in den USA keine Entsprechung. Die Arbeitszeitverkürzungen haben in der Bundesrepublik die Bedeutung der Freizeil noch gesteigert und die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit noch weiter verfestigt. In den USA wird dagegen ohne vergleichbare soziale Errungenschaften zweifellos länger gearbeitet - mit gleitenderen Übergängen zwischen Arbeit und Freizeit, öffentlicher und privater Lebenssphäre.
Eine andere Frage ist, inwieweit die alle europäischen Dimensionen sprengende Größe und Weite des amerikanischen Kontinents auch die Zeiterfahrung in den USA prägt. Die im Alltagsbewußtsein ständig präsenten unterschiedlichen Zeitzonen bedingen ein relativeres Zeitverständnis. Bei einer Vielzahl von Handlungen (Reisen, Telefonieren etc.) muß diese Relativität der Zeit ins Kalkül gezogen werden. Paul Watzlawick schreibt in seiner "Gebrauchsanweisung für Amerika:

Führen Sie Ferngespräche, so vergewissern Sie sich immer, in welcher Zeitzone der anzurufende Ort liegt. Sie selbst mögen in New York um 8 Uhr früh bereits frisch und munter sein; für Ihre Freunde in Kalifornien ist es aber erst 5 Uhr morgens, und sie dürften sich über Ihren Anruf daher weniger freuen als zur New Yorker Mittagszeit (Watzlawick 1987.111).

Man hat gleichwohl eine gelassenere Attitüde der Amerikaner im Umgang mit der Zeit konstatiert und sie mit den langen Strecken, die in Kauf genommen werden müssen, in Verbindung gebracht. Dennoch ist auch in den USA etwa Pünktlichkeit die gültige Norm: "Punctuality (the quality of being on the point) is a virtue, lateness a sin, and repeated lateness may be cause for dismissal (Landes 1983,2).








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