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Semiotik und Sprachwissenschaft

Semiotik und Sprachwissenschaft



1. Die Semiotik als Grundlagenwissenschaft



Die Semiotik als Grundlagenwissenschaft liefert für die Aus­einandersetzung mit der Sprache unrzichtbare Begriffe und über­greifende Konzepte.

Die Zeichenlehre oder Semiotik erhält ihren Namen vom grie­chischen Wort semeion = Zeichen und hat eine Geschichte, die bis zum griechischen Philosophen Aristoteles zurückreicht.

Semiotik bezeichnet die allgemeine Wissenschaft von den Zeichen. Sie macht Aussagen darüber,

· was Zeichen zu Zeichen macht;

· sie beschreibt die unterschiedlichen Zeichenarten und Zeichen­systeme und

· sie beschäftigt sich mit dem Gebrauch, den Zeichenbenutzer (Menschen und Tiere) von den ihnen zur Verfügung stehenden semiotischen Ausdrucksmöglichkeiten machen.

Die semiotischen Überlegungen waren und sind im Rahmen der Philosophie bis in unser Jahrhundert hinein auf die Sprache gerichtet, und sie stellen fast ausschließlich die für die Logik und Erkenntnistheorie wichtigen Aspekte in den Vordergrund. Bereits von Anfang an wurde erkannt, dass sprachliche Aussagen komplex sind. Eine Aussage ist im einfachsten Falle eine Verbindung von Namen und Begriffen durch die Kopula ist. Ein Beispiel aus der antiken Philosophie ist der Syllogismus: Sokrates ist ein Mensch. Hier ist Sokrates ein Name und Mensch ein Begriff, wobei ‘Sokrates’ und ‘ein Mensch’ weder als wahr noch als falsch eingeschätzt werden können. Die Aussage selbst aber kann als wahr oder falsch gelten d.h. sie trifft auf die Welt zu – es gibt einen Sachrhalt, der durch diese Aussage bezeichnet wird - oder nicht. Die Frage, die sich nun stellt ist, wie sich die beiden Zeichen Sokrates und Mensch auf das beziehen, was sie bezeichnen, was ihren Zeichencharakter ausmacht. Dabei wird klar, dass mit ‘Mensch’, dem Begriff, eine Klasse von Gegenständen zusammengefasst wird, dass aber der Name individualisierende Funktion hat. Somit kann man die Aussage nicht umkehren und sagen: Alle Menschen sind Sokrates.




Ansätze zu semiotischen Fragestellungen hat es auch in anderen Bereichen gegeben, in denen nicht nur die sprachlichen sondern auch andere Zeichenformen einbezogen wurden, so dass wir heute eine Semiotik der Musik, der Malerei, der Mode usw. haben.

Um zu rdeutlichen, wie sehr unser Leben von der Semiotik bestimmt wird, stellen wir uns folgende Situation vor.



Wir möchten eine Reise in ein fremdes Land planen: wir holen eine Karte des betreffenden Landes hervor und rsuchen jetzt diese Karte – die ein konntionelles Zeichen für das betreffende Land ist – zu interpretieren. Auf der Karte sind in Blau die Flüsse gekennzeichnet, in Grün die Ebenen, in Braun die Berge; größere Ortschaften erscheinen anders gekennzeichnet als kleinere. Wir legen unsere Reiseroute fest, indem wir die Zeichen auf der Karte – die Straßen und Autobahnen, die Flughäfen – interpretieren. Nun möchten wir die Reise telefonisch buchen. Wir heben den Hörer ab (das Telefongerät ist ein Zeichen für die Möglichkeit des Fernsprechens) und hören ein Signal, das wir deuten müssen: die Leitung ist frei, wir können eine Nummer wählen, - die Nummer der Reisegesellschaft, - die wir wiederum erfahren haben, nachdem wir im Telefonbuch andere Zeichen interpretieren mussten. Wir formulieren sprachlich unseren Wunsch auf eine Reservierung.



Viele andere Zeichen müssen wir noch “deuten”, bevor wir unsere Reise antreten können.

Dieses einfache Beispiel beweist, dass wir uns mit unter-schiedlichen Arten von Zeichen oder Zeichensystemen kon­frontieren müssen, ja dass geradezu alles um uns herum von Zeichen beherrscht wird.



Menschliches Leben in einer Kultur kann und muss als die Orientierung in einem ganz bestimmten Netzwerk von Zeichen­systemen aufgefasst werden; und das Sich-Bewegen-Können in einem anderen/fremden Land darf nicht etwa reduziert werden auf das Beherrschen der in diesem Land gesprochenen Sprache, die für den ausländischen Benutzer eine Fremdsprache ist, sondern vielmehr als die Vertrautheit mit einem anders bezogenen Netzwerk von Zeichensystemen.

Wir können sagen, dass das, was wir eine Kultur nennen, nichts anderes ist als ein hochkomplexes und hochkompliziertes Netzwerk von Zeichensystemen.



Dies lässt sich schon an einem anderen
sehr einfachen Beispiel ranschaulichen:


Die Tatsache, dass in der deutschen Sprache die Bezeichnung ‘Unkraut’ für die Vielzahl von unterschiedlichen Pflanzen existiert, die auf dem Feld und im Hausgarten unerwünscht sind, hatte und hat zur Konsequenz, dass diese Pflanzen überall dort, wo sie auftreten, unnachsichtig entfernt und auch mit chemischen Mitteln rnichtet werden. Die Trennung der Pflanzen und Kräuter in nützliche und in ‘Unkräuter’ ist aber in der Natur überhaupt nicht gegeben; es handelt sich vielmehr um eine in die Natur hinein­getragene Wertung durch den Menschen, die von dem Nützlichkeitsdenken bestimmt ist. Für ein große Zahl von Tieren z.B. stellen diese sogenannten ‘Unkräuter’ eine Hauptnahrungsquelle dar, deren Reduzierung bzw. Verschwinden für die betreffenden Tiere von existenzbedrohendem Aus­maß sein kann.



In Kulturen dagegen wie z.B. der hinduistisch-buddhistischen, die von einer Gesamtbeseelung der Natur ausgehen, wird auch die Sprache diese Weltauffassung widerspiegeln, so dass auch eine sprachlich wertende Differenzierung der Pflanzenwelt unter reinen Nützlichkeitsgesichtspunkten für den Menschen fehlt. Das Wort ‘Unkraut’ existiert in diesen Sprachen nicht, was beweist, dass das in diesem Kulturkreis lebende Individuum für den gekennnzeichneten Bereich eine andere Einstellung seiner Umwelt gegenüber einnimmt als der Sprecher des Deutschen.

(aus Spillmann,1992: 12)



Aus dem vorgestellten Beispiel geht hervor, dass bei näherem Hinsehen schon tiefgreifende Unterschiede in sehr kleinen Bereichen des Netzwerks von Zeichensystemen feststellbar sind, die letztendlich eine Kultur ausmachen.



Wichtige Beiträge zur Formulierung übergreifender Fragestellungen und zur Elierung einer unabhängigen Wissenschaft von den Zeichen leisteten die amerikanischen Philosophen Ch. H. Pierce (1839-l914) und Ch. W. Morris (1901-l979). Pierce hat die Typen der Zeichen bestimmt und die Charakteristika rschiedener Zeichenarten herausgearbeitet. Er erweitert die Perspekti insoweit, als er nicht allein den Bezeichnungscharakter der Zeichen in den Vordergrund stellt, d.h. die Tatsache, dass sie auf etwas rweisen, sondern macht auf die Funktion der Zeichen im Zeichenrkehr, in der Kommunikation aufmerksam. Ch. W. Morris hat den Prozess der Semiose (= Zeichenprozess) als den Prozess definiert, in dem etwas als Zeichen fungiert, und die Disziplinen der Semiotik folgendermaßen festgelegt:

Syntaktik = Untersuchung der (formalen) Relation zwischen Zeichen untereinander;

Semantik = Untersuchung der Relation zwischen Zeichen und Gegenständen/Designaten;

Pragmatik = Untersuchung der Relation zwischen Zeichen und ihren Interpreten/Benutzern.

Der Genfer Wissenschaftler F. de Saussure (1857-l913) richtet sein Interesse allein auf das sprachliche Zeichen. Sein Verdienst besteht unter anderem darin, dass er durch klare Definitionen das sprachliche Zeichen vom Zeichengebrauch abgrenzt und darauf hinweist, dass das Zeichen nicht nur im Verhältnis zur Realität, zum Bezeichneten aufgefasst werden darf, sondern auch im Verhältnis zu anderen Zeichen.



Von den oben genannten Wissenschaftlern kamen entscheidende Impulse für die Entwicklung der Semiotik und der Sprachwis­senschaft. Nach dem zweiten Weltkrieg sind die Semiotik und mit ihr die Kommunikations- und Sprachwissenschaften zu einflussreich­sten Grundlagendisziplinen für die Kulturwissenschaften geworden.





Semiotik und Linguistik



Die menschliche Sprache ist das komplexeste Zeichensystem. Aus semiotischer Perspekti ist die Linguistik eine Teildisziplin der Semiotik. Als Wissenschaft, die sich der Untersuchung der Sprache widmet, ist die Sprachwissenschaft die am weitesten fortgeschrittene und am weitesten ausdifferenzierte semiotische Wissenschaft.

Seit F.de Saussure, der als einer der Begründer der modernen Sprachwissenschaft gilt, gehören Reflexionen über den Zeichen­begriff zum festen Bestandteil linguistischer Forschung. Die Re­flexionen über das sprachliche Zeichen bilden sogar den Aus­gangspunkt seiner Überlegungen zu den Aufgaben und den Methoden der Linguistik.



Bevor wir auf das sprachliche Zeichen im Einzelnen eingehen, müssen wir klären, was unter dem schon eingeführten Begriff Zeichen zu rstehen ist.

3. Das Zeichen. Begriffsbestimmung



Die Zeichen, die von den meisten Menschen als solche anerkannt werden, sind Wörter, z.B. das Wort Katze; ein Verkersschild (das Zeichen, das für das Halterbot steht), Wolken am Himmel, die uns signalisieren, dass es wahrscheinlich regnen wird usw. Zwischen diesen unterschiedlichen Arten von Zeichen gibt es eine Gemeinsamkeit, und das ist die Tatsache, dass diese Zeichen alle in einer speziellen Beziehung zu etwas anderem zu stehen scheinen, dass sie – zwar auf rschiedene Weise – etwas repräsentieren oder anzeigen können.

Die sichtbarste Eigenschaft der Zeichen jeder Art ist, dass sie einem Zeichenbenutzer etwas rgegenwärtigen können, ohne selbst dieses ‘Etwas’ zu sein.





3.1 Drei Typen von Zeichen



Es ist Ch.S. Pierce Verdienst, dass er in seiner Zeichentheorie auf die unterschiedliche Art des Bezugs von Zeichen auf die bezeich­neten Gegenstände eingeht und in Abhängigkeit davon die Diffe­renzierung der Zeichen in Ikone, Indices und Symbole vornimmt.

a) Ikon: Ein Zeichen ist ein Ikon (griech.= Bild), wenn seine Beziehung zum Gegenstand auf einem Abbildrhältnis, d.h. auf Ahnlichkeiten, beruht. Z.B. Fotografien, Heiligenbildnisse in othodoxen Kirchen usw. Die Ahnlichkeit kann optischer Natur sein (die Piktogramme an Flug- und Bahnhöfen) oder akustischer Natur (die onomatopoetischen Ausdrücke: wauwau, kikeriki usw.). Ikone haben also eine abbildende Funktion.

b) Index: Ein Zeichen ist ein Index (oder Symptom), wenn es in einem Folge-Verhältnis zum Bezeichneten oder Gemeinten steht. Das Index lässt Rückschlüsse auf etwas Anderes (einen Grund oder eine Ursache) zu.

Indices haben eine anzeigende Funktion, sie rweisen auf etwas Individuelles. Z.B. Tränen indizieren Traurigkeit oder starke Emotionen, Eis niedrige Temperatur, braune Flecken an den Händen sind Symptome für eine Leberkrankheit oder für ein hohes Alter, die Stimmqualität eines Menschen ermöglicht einen Rückschluss auf das Geschlecht des Sprechenden usw.

c) Symbol: Im Unterschied zu den Ikonen und Indices ist die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten im Falle der Symbole eine auf Konntion beruhende. Der Zusammenhang zwischen dem Symbol und seiner Bedeutung ist willkürlich, unmotiviert. Es gibt keine äußeren Gründe, warum ein bestimmtes Symbol gerade diese und keine andere Bedeutung trägt oder eine Bedeutung durch dieses und kein anderes Symbol ausgedrückt wird. Die Laut- und Schriftzeichen der menschlichen Sprache sind fast ausschließlich Symbole. (Eine Ausnahme bilden die onomatopoetischen Wörter, bei denen zwischen Lautform und bezeichnetem Gegenstand eine gewisse Beziehung feststellbar ist: Kuckuck, Mieze usw. Die unterschiedliche sprachliche Gestaltung in den rschiedenen Sprachen - ham ham im Rumänischen, wauwau im Deutschen, bow-wow im Englischen - bei der Wiedergabe des Hundegebells beweist jedoch, dass die akustische “Wahrnehmung” und sprachliche Wiedergabe differiert, was das Argument der Motiviertheit relativiert).



Der Großbereich der Zeichen lassen sich diesen drei Typen unterordnen, doch gibt es auch zahlreiche Übergänge zwischen den Zeichentypen, die zum Teil auf Interpretationsschwierigkeiten zu­rückzuführen sind. Es ist oft nicht klar, ob wir ein Phänomen als (für uns relevantes) Zeichen rstehen sollen oder nicht. Wir sind oft runsichert, wenn wir Zweifel im Zusammenhang mit der Deutung bestimmter Zeichen hegen; ist z.B. der Satz: Ruf mich doch mal an! eine wirkliche Aufforderung anzurufen, oder nur der Ausdruck einer Höflichkeitsformel? Die Interpretion ist kulturspezifisch: in Rumänien ist diese Aufforderung bei weitem nicht so rbindlich wie in Deutschland.

Viele Zeichen weisen sowohl ikonische als auch symbolhafte oder indexikalische Züge auf (das Zeichen für Theater: die weinende und die lachende Theatermaske, die Waage für Gerechtigkeit, usw.).





3. Verbale und nonrbale Zeichen



Die Sprachwissenschaft untersucht natürliche Sprachen und natürlich-sprachliche Kommunikation. Die für die Linguistik zentralen natürlichsprachlichen Zeichen werden als rbale Zeichen be­zeichnet. Bei der Kommunikation sind aber auch andere als rbale Zeichen von großer Bedeutung, die nicht-rbalen Zeichen, die wiederum in pararbale und nonrbale untergeteilt werden.

Pararbal sind Zeichen, die Informationen rmitteln, die sich im sprachlichen Ausdruck manifestieren: z.B. die Intonation, die stimmlichen Qualitäten beim Sprechen; sie rraten, ob es sich beim Sprechenden um eine Frau oder einen Mann handelt; pararbale Zeichen können den emotionalen Zustand des Sprechenden kundgeben: schnelles Sprechen kann ein Zeichen für Erregung und Ungeduld sein, lautes Sprechen Unmut rraten.

Nonrbale Zeichen existieren unabhängig von der Sprache, etwa die Gestik, die Mimik, die Körperhaltung, der Blickkontakt, in weiterem Sinne, auch Kleidung oder Frisur. Kommunikation kann allein aufgrund solcher nonrbaler Zeichen zustande kommen.

Die nonrbalen Zeichen können indexikalischer, ikonischer oder symbolischer Art sein; die pararbalen sind mehrheitlich, aber nicht nur, indexikalischer Art.





3.3. Der Zeichencharakter der Sprache



Das höchstentwickelte Zeichensystem, die menschliche Sprache, ermöglicht dem Menschen, sich auf Gegenstände zu beziehen, die in dem Augenblick der Mitteilung nicht im Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer konkret anwesend sind. Die Sprache erlaubt dem Menschen, über “Dinge” zu rfügen, die nur gedacht oder vorgestellt sind; durch die sprachliche Außerung wird Vergangenes und Zukünftiges gegenwärtig, was soviel bedeutet, dass der Mitteilungsaustausch nicht an das Hier und Jetzt gebunden ist.

Der Horizont der Gegenstände, auf die der Mensch sich in seinen sprachlichen Außerungen beziehen kann, ist deswegen unbegrenzt (rglichen mit dem des Tieres), weil “Wörter Bezeichnungen für Dinge sind. Sie sind stets rfügbar, auch für die für mich nicht greifbaren Dinge” (Pelz,51982: 18). In Sprachäußerungen “ersetzt” man das gemeinte Ding einfach durch ein zugehöriges Wort: Statt einen konkreten Tisch oder eine Katze oder Herrn K. herbeizuschleppen, wenn man auf sie hinweisen oder über sie sprechen will, “ersetzt” man sie durch die Wörter Tisch, Katze, Herr K.



Diese Relation zwischen Wörtern und Dingen nennt man den Zeichencharakter der Sprache. Er macht die Sprache zum vornehmlichsten Instrument der Ökonomie menschlichen Daseins, das dem Menschen eine maximale Ausdehnung seines Bezugsbereichs unter minimalem physikalischem Aufwand ermöglicht. (Pelz,51982: 18).

Die “Ausstattung mit Sprache” unterscheidet den Menschen vom Tier.

Durch die Sprache macht sich der Mensch die Gegenstände der Wirklichkeit zum Objekt, über das er rfügt. Mittels Sprache kann der Mensch handeln, er kann die Wirklichkeit handelnd rändern. Sprache macht den Menschen nicht nur frei gegenüber den Gegenständen der Wirklichkeit und der Naturgesetze, sie macht ihn frei von der Gebundenheit an das Hier und Jetzt. Das Tier kann sich nur innerhalb einer gegebenen Situation rhalten, es ist nicht – oder nur in geringem Maße bzw. unter mehr oder weniger künstlich geschaffenen, von außen manipulierten Bedingungen (Dressur) – in der Lage, Erfahrungen aus vorhergegangenen ähnlichen Situationen in die jetzige einzubringen. Das Erinnern, das Speichern von Erfahrungen, geschieht in Form von Sprache. Damit ist die Sprache die Bedingung für Lernfähigkeit beim Individuum, die Bedingung für das Weitergeben menschlicher Erfahrung von einer Generation zur nächsten, also für Tradition und Fortschritt innerhalb der Spezies (Hayakawa, S. I.,1976: 10–1).

Symmetrisch zu der Dimension in die Vergangenheit eröffnet Sprache dem Menschen die Dimension in die Zukunft: Er kann sinvoll, zielgerichtet handeln, weil er in der Lage ist, das Ziel seines Handelns im Voraus sprachlich zu projektieren, einen zu machen.



3.4. Sprache und Gesellschaft



3.4.1. Sprache als soziales Phänomen



Sprache ermöglicht es nicht nur dem Individuum, eigene Erfahrungen zu machen. Das Individuum hat seine Sprache gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft, die zugleich eine Kulturgemeinschaft ist. Indem es in dieser Sprachgemeinschaft aufwächst, rmittelt sie ihm kollekti Erfahrungen: Werte, Traditionen, Urteile, Vorurteile, Ansichten, sozusagen als Erbe der früheren Generationen (Hayakawa, S. I. 1976: 10-l) und die aus ihnen erwachsenen sozialen Normen, z.B. bestimmte Bewertungsmaßstäbe (etwa, dass Misserfolg in irgendeiner Form eine Schande sei).

Menschliche Sprache muss also als ein soziales Phänomen angesehen werden. Sprache und Gesellschaft bedingen einander gegenseitig: So wie ohne Sprache soziale Gemeinschaft nicht denkbar ist, setzt die Entwicklung der Sprache andererseits eben diese soziale Gemeinschaft voraus. Eine Sprache bezieht sich auf die sozialen und historischen Bedingungen einer ganz bestimmten Gesellschaft und ist der Veränderung dieser Bedingungen unterworfen; deshalb ist Sprache ränderbar und ränderlich, ist Sprache produktiv.

Demgegenüber ist die Kommunikation im Tierreich biologisch bedingt, ist definitiv fixiert und unränderlich.





3.4. Sprache und Tradition



Mit diesen Überlegungen ist nun bewiesen, dass Sprache unter allen anderen Zeichensystemen nicht nur quantitativ das bedeutendste ist, sondern vor allem einen qualitatin Sonderstatus besitzt.

Dieser Schluss ist noch aus einer weiteren Überlegung zu sichern: Eine Kultur ist als solche nur zu bezeichnen, wenn sie als Kontinuität bestimmter Verhaltensweisen und Anschauungen fassbar ist. Kultur ist an die Überlieferung, die Tradierung bestimmter Zivilisations­formen gebunden. Diese Tradierung von einer Generation auf die nächste aber ist nur möglich mittels des sprachlichen Zeichen­systems, denn rein nachahmend, imitativ ist nicht einmal das komplexe Netzwerk der Zeichen in einer Kultur zu rmitteln, die wir hier einmal als “einfache” oder “äußere” Zeichen klassifizieren wollen. So ist z.B. die Funktion eines Klingelknopfes oder die Bedienung eines Fahrstuhls ohne sprachliche Erklärungen kaum oder nicht rmittelbar. Wir können sprachliche Einübung von Zivilisationsnormen auf Schritt und Tritt beobachten, wenn wir genauer hinschauen.



Die Tatsache, dass man in Deutschland zur Begrüßung einander die rechte Hand schüttelt, wird kleinen Kindern mit der immer wiederholten, zwar dümmlichen, aber bezeichnenden Aufforderung beigebracht: “Gib dem Onkel das schöne Händchen”.



Der ganze Komplex von Verhaltensformen und Einstellungen der Welt gegenüber, die eine Kultur eigentlich ausmachen, ist ohne sprachliche Vermittlung undenkbar. Was in einer ganz bestimmten Kultur als ‘Höflichkeit’; ‘Aufrichtigkeit’ bzw. ‘Lüge’; ‘Fleiß’ oder ‘Faulheit’; ‘Mut’ oder ‘Feigheit’ angesehen und tradiert wird, ist nur sprachlich rmittelbar.



So wird z.B. ein Rumäne auf die Einladung der Gastgeberin, sich noch von der Torte zu bedienen, zuerst mit einem “Danke, nein” reagieren, und erst nach mehrmaliger Aufforderung zugreifen: denn es gehört zu den ungeschriebenen “Höflichkeitsegeln” in Rumänien, dass man sich “bitten lässt”. Wenn ein Deutscher bei derselben Aufforderung mit einem “Danke, nein” reagiert, so muss man das wörtlich rstehen.



Alle diese Einstellungen, kulturellen Wertungen sind sprachlich rmittelt.



Damit wird deutlich, dass eine bestimmte Sprache und demzufolge auch die wissenschaftliche Beschreibung dieser Sprache nicht abgekoppelt gesehen werden darf von der jeweilgen für sie ganz spezifischen Kultur. Diese Einsicht ist von eminenter Wichtigkeit: Der semiotische Prozess, das Bezeichnen und damit das Verfüg­barmachen von Dingen, von Sachrhalten und Relationen ist von Kultur zu Kultur als Prozess immer der gleiche, aber das Was und Wie, d.h. die unterschiedliche sprachliche Repräsentation von dem, was wir hier einmal ‘Wirklchkeit’ oder ‘Sein’ nennen wollen, differenziert die Kulturen.



Ein anderes Beispiel dazu:



Die rumänische Sprache bezeichnet mit ‘nepot’ bzw. ‘nepoata’ zwei unterschiedliche Verwandschaftbeziehungen, was ohne einen entsprechenden klärenden Kontext rwirren und dem Übersetzer Schwierigkeiten bereiten könnte: Denn welche Beziehung ist nun gemeint? Die direkte, die im Deutschen mit ‘Enkel’ bzw. ‘Enkelin’ bezeichnet wird, oder die kolaterale als ‘Neffe’ bzw. ‘Nichte’ ausgewiesen?



Der Grund für die beobachteten Unterschiede liegt wahrscheinlich darin, dass in Rumänien die Beziehungen zu den Kindern der Geschwister (den Neffen und Nichten) nicht weniger eng sind als zu den direkten Nachkommen; demnach rspürt der Rumäne kein Bedürfnis zu sprachlicher Differenzierung.



Sprache macht es dem Menschen möglich, seine eigene Situation, seine eigenen Sinneswahrnehmungen, seinen Standort usw. zu benennen. Doch nicht nur das – sie macht ihm dieses Benennen bewusst. Nicht nur kann der Mensch sprechen, sondern zugleich ist er sich dieses Sprechen-Könnens bewusst. Er kann über Dinge (oder über sich selbst) sprechen.







3.5. Definitionen der Sprache



Es gibt unzählige Versuche die menschliche Sprache zu definieren.

Im Folgenden wird eine Reihe von Antworten auf die Frage “Was ist Sprache?” angeführt. Sie sollen nicht nur den Begriff selbst, sondern auch die wissenschaftliche Methode des Definierens erklären helfen:



Definitionen des Begriffs “Sprache”

I. 1. Die Sprache ist ein Werkzeug des Denkens und Handelns.

Die Sprache ist die unmittelbare Wirklichkeit des Gedan­kens.(Marx)



II. 3. Die Sprache ist die Gemeinsamkeit der Außerungen, die in einer Sprachgemeinschaft gemacht werden können.

4. Die Sprache ist eine Menge von Gewohnheiten. (Bloomfield)

5. Die Sprache ist eine Menge von Sätzen endlicher Länge aus einer endlichen Menge von Elementen. (Chomsky)



III. 6. Die Sprache ist das primäre System von Zeichen.

7. Die Sprache ist ein konntionelles System von Zeichen.

8. Die Sprache ist ein System von Regeln.

9. Die Sprache ist ein Primärkode aus Zeichenvorrat und Kombinationsregeln.



IV. 10. Die Sprache ist ein Mittel der Verständigung.

11. Die Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel.



V. 1 Die Sprache ist eine Form sozialen Handelns.

13. Die Sprache ist das grundlegenste Mittel der Handlungs­steuerung.



VI. 14. Die Sprache ist sowohl Struktursystem als auch geregelte Handlungsform.

15. Die Sprache ist symbolische Interaktion.



Die Definitionen sind inhaltlich je nach ihren Kriterien in 6 Gruppen geordnet:

Die Gruppen I und IV betonen den funktionalen Aspekt, der die Sprache als ein “Werkzeug” dem Denken (psychologisch) bzw. der Verständigung (kommunikativ) unter- oder zuordnet.

Die Gruppen II und III gehen von den Teilen des Ganzen (den Elementen, Bestandteilen) aus – mengentheoretisch. Dabei zeigt II ein additis Vorgehen, das der behavioristischen Methode entspricht, während Gruppe III den Systemcharakter der Sprache hervorhebt, was der strukturalistischen Methode eigen ist.

Gruppe V zeigt eine Neuorientierung auf den Handlungsbegriff, sozusagen eine Weiterentwicklung von IV unter intentionalem Aspekt.

Gruppe VI schließlich rsucht, die Aussagen von III und IV/V zu resümieren.

Dabei erscheinen vom heutigen Standpunkt aus I und II als zu eng oder zu speziell. Auch III bis V bleiben noch einseitig. Die Definitionen in VI scheinen der komplexen Erscheinung “Sprache” am ehesten gerecht zu werden.



Methodisch-formal ergeben sich 2 Hauptunterschiede (mit 4 Kriterien):

a) zwischen Definitionen, die mehr von der Form (“Wie ist X?”) oder mehr von der Funktion (“Wozu dient X?”) eines Gegen­standes ausgehen, und

b) zwischen Definitionen, die den Gegenstand als Summe seiner Teile auffassen (“Woraus besteht X?”), und solchen, die ihn einem Oberbegriff unterordnen (“Wozu gehört X?”).



Man könnte rsuchen, alle Gesichtspunkte in einer Definition zusammenzufassen. Dies würde jedoch recht unübersichtlich werden. Man muss sich auch darüber klar werden, wozu eine Definition jeweils dienen soll, d.h. ob Vollständigkeit für den je­weiligen Zweck überhaupt rlangt wird.

Schließlich bringt jede neue übergreifende Wissenschaftsmethode oder –theorie (wie z.B. der Behaviorismus oder der Strukturalismus) auch neue Definitionen mit sich. Ein Linguist wird die Bemühungen der Vergangenheit berücksichtigen, aber die letzte Definition von Sprache ist sicher noch nicht gegeben. (Gross, 1990:20-21).



Zusammenfassend können wir jedoch behaupten, dass trotz der Vielfalt an Definitionen über Sprache sich zwei Hauptrichtungen abzeichnen, die sich jedoch nicht gegenseitig auschließen.

Je nach dem die Erkenntnis leitenden Interesse kann Sprache betrachtet werden als

a) ein Zeichensystem

b) eine Form sozialen Handelns.



3.6. Die drei Ebenen der Sprache



Der Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu weist darauf hin (Coseriu, 1988: 250), dass bei der Diskussion über das Wesen der Sprache drei Ebenen angenommen werden müssen: die unirselle, die individuelle und die historische.

Die Sprache ist eine unirselle menschliche Tätigkeit, die zwar individuell rwirklicht wird, aber stets nach historisch bestimmten Techniken (“Sprachen”). In der Tat sprechen alle normalen und erwachsenen Menschen; in gewissem Sinne sprechen sie sogar i m­- m e r (das Gegenteil zum Sprechen ist das Schweigen, das nur in Beziehung zum Sprechen begreiflich wird nämlich als noch nicht sprechen oder nicht mehr sprechen







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