Gegenstand der Analyse ist der von Ijoma Mangold rfasste Artikel Das neue Subpro-
letariat, röffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Februar 2005. Im Überschriften-
teil heißt es: "Inwieweit profiliert die NPD vom "White Trash"?"
Als Aufhänger wählt der Autor eine Bemerkung Edmund Stoibers, dass zwischen der
Massenarbeitslosigkeit und dem "Erfolg der NPD" ein Zusammenhang bestehe und ihm
vorgeworfen wurde, er wolle damit am rechten Wählerrand "fischen". Mangold glaubt, dass Stoibers Bemerkung darauf hinweise, das sich in unserem Lande "ein Milieu herausgebildet (hat), das soweit außerhalb der Gesellschaft lebt, dass es durch keine der demokratischen Parteien erfasst wird". Er meint ferner, dieses gesellschaftliche Phänomen könne mittels des Terminus "Massenarbeitslosigkeit - sei ihm doch zu ungenau, zu wolkig - nicht richtig erfasst und ausgedrückt werden. Der Ausdruck "Subproletariat" treffe den in Rede stehenden Sachrhalt genauer.
Der Verfasser charakterisiert "das Subproletariat" zunächst so: Seiner Meinung nach handele
es sich dabei um "eine regelrechte Unterschicht (hier spricht er noch im Singular), die nicht
einfach arm ist (in der weiteren Darstellung wird dies - das Lebenmüssen in Armut - weitge-
hend in Frage gestellt bzw. sehr stark abgeschwächt), weil sie wenig rdient, sondern insge-
samt an der Dynamik, der Lebensweise und den Chancen der Mehrheitsgesellschaft nicht par-
tipiziert". Der in diesem Zusammenhang gegebener Hinweis auf "früher" (die relevante Men-
schengruppe sei das, was man schon in zurückliegender Zeit hatte und eben Subproletariat
nannte) lässt beim Leser Fragen aufkommen (etwa dahin, in welcher geschichtlichen Periode
das "Subproletariat" in Deutschland, möglicherweise auch in anderen europäischen Ländern, existierte und wann es dann aus welchen Gründen wieder rschwunden sein soll). Seine Behauptung, das "neue Subproletariat" könne man "genau beschreiben und erfassen",
macht neugierig, hofft man doch auf empirisch abgesicherte Sachkenntnis des Autors.
Gleich darauf rückt die NPD wieder ins Blickfeld, und zwar - bezüglich der Verurteilung
(Achtung) von Rechtsradikalismus und Ausländerhass durch "aufrichtig-bemühte Kommen-
tatoren", mit den Worten Mangold "hilfloser Floskeln" dies offenbare: "Man" hat "überhaupt
kein Bild mehr vom Adressaten einer solchen Achtung". An dieser Stelle des Beitrags erfährt
der Leser, dass die NPD aus den neuen Unterschichten Wähler rekrutiert, die aber am "Spiel
der gegenseitigen sozialen Anerkennung gar nicht teil(nehmen)", weshalb angedrohter Lie-
besentzug durch das Eslishment wirkungslos bliebe.
Anschließend beschäftigt sich Mangold mit der - in Deutschland angeblich weit rbreiteten,
eine "anthropologische Konstante" darstellenden - "Xenophobie" (wörtlich übersetzt: Angst
vor Fremdem). Bei der von ihm aufgegriffenen NPD-Programmatik spricht er dann aber
vom "Ressentiment gegen Ausländer", was wohl etwas anderes bedeutet als "Angst" vorIhnen. Viel wichtiger sei für die NPD hingegen das Thema "Harz IV" (auf deren Argumen-
tation und rbale Attacken braucht nicht weiter eingegangen zu werden, da sie neben derIm Artikel behandelten Thematik liegen). An anderer Stelle weist Mangold selbst darauf
hin, dass das am "unteren Rand der Gesellschaft" existierende "Milieu" in Wahrheit wenig
mit Harz IV zu tun habe.
Nunmehr geht die Betrachtung des "Subproletariats" in dem Bestreben weiter, den Ver-
such zu unternehmen, das Wesen dieser - in Deutschland wieder präsent gewordenen -
sozialen Unterschicht(en) aufzuhellen.
Gleich zu Beginn macht der Autor einen Vorschlag, den man nach den vorangegangenen
Ausführungen (= Rolle des Armseins der "Subproletarier") nicht erwartet: "Es wäre viel-
leicht sogar hilfreich, die neuen Unterschichten nicht als arm zu bezeichnen. Denn das ist
nicht der Kern des Problems." Worin letzterer bestehen soll, wird mit den Worten um-
rissen: "Das Unglück der neuen Unterschichten ist nicht ihre materielle Versorgung, sondernIhre gesellschaftliche Exklusion". Die zum Subproletariat zählenden Menschen sind folglichIn anderer Hinsicht vom Normalbürger ausgeschlossen (ausgegrenzt), existieren insoweit neben der sog. Mehrheitsgesellschaft . Dahin gestellt sei, ob gesagt werden kann, das Subpro-
letariat bzw. dessen "Milieu" befände sich weit "außerhalb der Gesellschaft" (wie eingangs
von Mangold behauptet). Der gesellschaftliche Ausschluss zeige sich u.a. darin, dass die Unterschichten den Bildungsinstitutionen systematisch rloren gehen, "physisch rwahrlo-
sen" und ihre Sozialformen überaus insil sind. Diese Charakterisierung gipfelt in der
Feststellung, die Unterschichten seien "unproduktir "Ballast", eben das, was man früher in
Amerika "white trash" nannte. Im letzten Abschnitt benennt Mangold weitere gemeinsame
Eigenschaften der eigenständigen Sozialklasse "Subproletariat", sie seien Audruck ihrer
"sehr einheitlichen Lebensformen" (z. B. übermäßiger Fernsehkonsum, Kinderreichtum bei
labilen Familienrhältnissen, starker Hang zum Rauchen, ungesunde Ernährungsweise
u.a.m.).
Zur Verdeutlichung dessen, dass es in Deutschland die beschriebenen Unterschichten über-
haupt gibt, entwickelt der Verfasser folgende Argumentationslinie: These 1: "Nur durch
Bildung kann man heute an der Gesellschaft partizipieren.." These 2: In dieser Hinsicht sei
Deutschland "so schlecht wie kaum eine andere Industrienation". These 3 :Wegen des Aus-
schlusses von weiterführenden Bildungswegen gibt es für das neue Subproletariat "keine
Perspekti eines sozialen Aufstiegs", womit sich der Staat und seine Repräsentanten längst
abgefunden haben (deren Mittel: Ruhigstellung durch Sozialleistungen).
Am Schluss des Artikels weist der Autor darauf hin, dass die im "Milieu" vorherrschenden
Prinzipien der Lebensführung "in erschreckender Weise dirgieren" und der Sozialstaat den
Unterschichten gegenüber nach dem (altrömischen) Motto "Brot und Spiele" rfahre. Das
gesamte Dasein des Subproletariats ist für ihn "sinnentleert".
Im Grunde genommen geht es Mangold um die Klärung der Frage, ob die am untersten
Rand der Gesellschaft Lebenden - das neue Subproletariat - ein Reservoir für die NPD
sein könnte. Immerhin erinnert man sich in diesem Zusammenhang daran, dass vor allem
während der Weltwirtschaftskrise Arbeitslose massenweise zu Symphatisanten der Na--
tionalsozialisten wurden. Die Schlussaussage lautet: "Die Sinnentleertheit eines solchen
Daseins (der Unterschichten - J.A.) muss keineswegs automatisch zum Rechtsradikalis-
mus führen." Sie beinhaltet aber auch eine politische Forderung: "Die demokratischen Par-
teien sollten diese Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, sonst macht man der NPD die Ar-
beit zu leicht." Der Verfasser will offenbar durch die Veröffentlichung seines Artikels
auf das bewegende soziale Phänomen aufmerksam machen, nicht aber konkrete Vor-
schläge dahin unterbreiten, wie die Betroffenen aus ihrer objektiv misslichen Lage heraus-
kommen könnten.
Der Artikel wurde in einer typisch journalistischen Ausdrucksweise rfasst. Mangold gebraucht zahlreiche Fremdwörter, die mir das Verstehen dieser Problematik erschwerten. Die Zielgruppe beläuft sich in erster Linie auf die Politiker, die diese Schwierigkeit in der Öffentlichkeit nicht wahrnehmen bzw. nicht wahrnehmen wollen.
Anzumerken ist, dass die Verwendung der Ausdrücke ""Fremdenhass", "Xenophobie" und "Ressentiment gegen Ausländer" semantisch nicht exakt auseinandergehalten wurde. Einige von Mangold gewählte Formulierungen halte ich für überspitzt, teilweise garadezu für rfehlt (z. B. "bizarre Meinung", "ermüdende Schuldzuweisungen", "hilflose Floskeln" ).
Die Ausführungen von Mangold lassen nicht immer klar erkennen, ob er die Außerungen
anderer aufgreift bzw. wiedergibt oder den eigenen Standpunkt präsentiert. Dies betrifft u.a. den Rückgriff auf den - für mich ein Schimpfwort darstellenden - Ausdruck "white trash". Es bedarf doch wohl keiner großen Begründung, dass die Bezeichnung von deutschen
Staatsbürgern und anderen bei uns lebenden Menschen als "Abfall" oder "Müll" mit der
Würde des Menschen unreinbar ist, also das bedeutendste Grundrecht (vgl. Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes) rletzt. Hier hätte man sich eine klare Distanzhaltung des Autors gewünscht. Auch die Bezeichnung der analysierten Unterschicht als "unproduktir Ballast" rletzt die Menschenwürde.
Das von Mangold gezeichnete Bild des Subproletariats musste wohl wegen der redaktionellen
Vorgabe des Textumfangs lückenhaft bleiben. So ist offen geblieben, wie groß die Zahl der
zu dieser Unterschicht Gehörenden ist und wie deren Biografien typischer Weise aussehen
(z. B. familiäre Herkunft, Verhalten und Leistungsstand in der Schule, Möglichkeit der Ab-
solvierung einer Lehre, Freizeitrhalten im Jugendalter, Zeitpunkt und Dauer des sozialen
Abstiegs usw.)
Der Leser kann nur rmuten, dass es sich bei den Betroffenen um Langzeitarbeitslose han-
delt, die nicht wegen ihres Alters (über 50 Jahre), sondern wegen ihres niedrigen Bildungs-standes in die Klasse der Subproletarier abgeglitten sind. Muss aber jeder, der aufgrund zu geringer Qualifikation dauerhaft nicht unbedingt "marktfähig" ist, ein sinnentleertes Leben führen?
Dem nachdenklichen Leser drängt sich auch die Überlegung auf, dass es in einer menschlichen Gesellschaft, in dem es ein "Subproletariat" gibt, selbstredend auch ein
Proletariat geben muss und dieses sich ebenfalls durch gemeinsame (Klassen-)Merkmale
auszeichnet oder - mit der Diktion Mangolds gesprochen - sich in der Existenz eines weitgehend rselbstständigtem "Milieus" manifestiert.