Jeder Fleck heiliger Boden, jedes Blättchen, jeder Federschnitzel bleibt da, wo er lag, ehe der Meister entschlief; tausend Gegenstände reden m Wesen und Weben Goetheschen Geistes - wie ein Pilger über die Reise zum Heiligen Gral berichtet Karl Immermann, der auf der Wartburg verbrannte Autor, nur fünf Jahre nach Goethes Tod über die Besichtigung des Hauses am Frauenplan. Er begreift nicht, wie Goethes Körper in dem niedrigen, schmalen Bett Platz finden konnte, und bestaunt das kleine, schmucklose, grüne Arbeitszimmer mit den abgeschabten Fensterbrettern: Das also war der Ort, »n dem aus sich eine solche Fülle des glänzenden Lichts ergossen hatte. Ich fühlte mich tief bewegt, ich mußte mich zusammennehmen, um nicht in eine Weichheit zu geraten, die mir die Kraft zur Anschauung geraubt hätte!« Knapp hundert Jahre trennen seinen Bericht n dem Egon Erwin Kischs, der Weimar 1926 unseren »Naturschutzpark der Geistigkeit« nennt und die Stadt einem einzigen großen Freilichtmuseum vergleicht: Da führen bekneifte Lehrerinnen Mädchenpensionate n Vitrine zu Vitrine, indes Erbverweser auf Fußnoten durch die geweihten Räume schleichen und Makulatur auf Makulatur häufen, geschriebenes Papier in bedrucktes, bedrucktes in geschriebenes verwandeln: »Ganz Weimar ist eine zur Stadt erhobene Dichterbiographie.« Wer Einheimische frage, wie er ins Hotel komme, der erhalte zur Antwort, man müsse »am Wohnhaus der Frau n Stein rüber, bei der Bank, bei der Christiane Vulpius ihrem nachmaligen Gatten als fremdes Mädchen mit einer Bittschrift entgegentrat, nach links biegen, dann geradeaus, über die Jahre 1779 und 1784 gehen, entlang der Prosafassung n »Iphigenie auf Tauriss den zweiten Teil des >Faust- rechts und >Wilhelm Meisters Wanderjahre« links liegen lassend, und schon sei man da, beim Absteigequartier Zelters.«
Ereignisarm ist das Weimar nach Goethe, das Gegenteil einer aufstrebenden Stadt im beginnenden Industriezeitalter; alles geht seinen gemessenen Gang, die klcinfürstliche Residenz gleicht einem biedermeierlichen Stilleben. Nur langsam wächst die Einwohnerschaft - n gut zehntausend im Jahr 1830 auf knapp dreizehntausend um die Jahrhundertmitte; wie eh und je dominiert der Großherzogliche Hof mit Adel und Beamtenschaft. Kaufleute und Handwerker gewinnen nur langsam an Einfluß. Die Stadt zehrt n der großen Vergangenheit, die sie hegt und pflegt, n der sie freilich auch zu leben weiß. Friedrich n Müller, Kanzler und vertrauter Gesprächspartner des Dichters, schlägt umgehend Kapital aus dem intimen Wissen um den großen Dahingeschiedenen. Den Goethe-Gedenkreigen, der nun nicht mehr abreißen wird, eröffnet er mit zwei Beiträgen zur Charakteristik des Klassikers, kaum daß dieser einen Monat in der Fürstengruft ruht: »Goethe in seiner practischen Wirksamkeit« heißt der eine, »Goethe in seiner ethischen Eigentümlichkeit« der andere. Beide werden im Anzeigenteil des Lokalanzeigers angepriesen, als Verleger zeichnet der Weimarer Hofbuchhändler Wilhelm Hoffmann. Wenig später veröffentlicht Goethes Arzt Dr. Vogel eine Dokumentensammlung über »Goethe in amtlichen Verhältnissen«, so daß neben das Bild m genialen Künstler und Dichter erstmals Porträts des Staatsmanns und dessen Lebensweise rücken. Jahrzehnte später werden in der populären Goethe-Rezeption die verschiedenen Bilder, die m Dichter, Naturforscher, Staatsmann und Lebensgenießer, welche die Vielseitigkeit des Genius belegen, zur nationalen Riesenikone m »großen Olympier« und Titanen des Geistes verschmelzen, der sein Leben zum Gesamtkunstwerk zu stilisieren wußte. Weniger das literarische Werk als die Persönlichkeit Goethes hinterlassen den nachhaltigsten Eindruck. Johann Peter Eckermann, testamentarisch n Goethe dazu ermächtigt, gibt nachgelassene Schriften des Klassikers in fünfzehn Bänden heraus, 1836 erscheinen seine »Gespräche mit Goethe«, die zum unerschöpflichen Zitaten-Steinbruch für das deutsche Bildungsbürgertum werden sollen: Gleich, ob für Abiturfeiern, Sängerfeste oder die Einweihung einer neuen Feuerspritze, man bedient sich seines Eckermanns, findet bei ihm den rechten Spruch für nahezu alles und jedes, für Gott und die Welt, selbst philiströse Vereinsmeier glänzen mit Eckermann als vermeintlich sattelfeste Goethekenner. Der literarische Steinbruch trägt beinahe Züge des Authentischen, aber eben nur beinahe. Zwar hatte der brave Eckermann - »Ich tat nach seinem Wunsche und meiner Neigung« - nach jedem Gespräch fleißig Notizen gemacht. Seinem , sie zu veröffentlichen, stimmte Goethe im Prinzip zu, bestand indes darauf, daß dies erst nach seinem Tode geschehe. Somit fehlt die letzte Gewähr für die Korrektheit der Zitate, denn einem SPIEGEL-Gespräch, das der Interviewte korrigiert, gegenzeichnet und zum Druck freigibt, gleichen diese Gesprächsnotizen wahrlich nicht. Ein Schuß Skepsis gegenüber so mancher n Eckermann berichteten olympischen Außerung bleibt deshalb angebracht. Zum Oberaufseher über die Bibliothek der Großherzogin bestellt, hält Eckermann sich nach dem frühen Tod seiner Frau ein Haus ller Vögel, mit denen er sich, so die Weimar-Chronistin Adelheid n Schorn, »lieber beschäftigte, als mit den Menschen«.
Goethe und kein Ende - so soll er Carl Leberecht Immermann geklagt und sich aus dem »erstorbenen, erstarrten« Weimar fortgewünscht haben. Daß sich inzwischen eine Goethe-Opposition der Jungdeutschen und der Nationalen formiert, wird in Ilm-Athcn kaum zur Kenntnis genommen. »Wir Deutschen«, schreibt der Weimarer Philologe und Goethe-Vertraute Riemer, »feiern in Goethe eigentlich unsere Verklärung und Glorifikation. Das ist die Frucht und Blüte des deutschen Wesens bis jetzt.«
Deutschland in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts steht ganz im Zeichen der Heiligen Allianz, die auf Jahrzehnte einer russischen Hegemonie gleichkommt. Und seit dem Tode Carl Augusts 1828 ist die russische Allgegenwart nirgendwo sichtbarer als in Weimar, wo Maria Paulowna, die Schwester des russischen Zaren Nikolaus, alle wichtigen Entscheidungen trifft. Als der Diplomat und Schriftsteller Theodor n Bernhardi, ein Neffe und Pflegesohn Ludwig Tiecks, Mitte des Jahrhunderts nach Weimar kommt, findet er die Residenz »russisch-infiziert«. Die Zarenschwester zieht viele russische Reisende hierher, für die mit dem »Alexanderhof« ein besonderes Hotel entsteht. Später wird es »Russischer Hof« genannt. Bernhardi staunt über die vielen russischen Priester, Diakone und Sänger, die es in Weimar gibt, Russomanie, ja Adoration der Zustände im Zarenreich seien an der Tagesordnung.
Die politischen und verwandtschaftlichen Beziehungen der Großherzoglichen Familie nach St. Petersburg sind eng: Im September 1838 kommen Kaiser Nikolaus, die Zarin und der Thronfolger Alexander Nikolajewitsch zu Besuch. Weimars Bürger bestaunen die kaiserliche Familie im Theater und nehmen »großen Anteil an dem Familienglück«, berichtet Adelheid n Schorn. Zu jeder Feier des Namenstags des russischen Zaren hat sich das winzige diplomatische Korps einzustellen und eine orthodoxe Messe zu hören, die zwar erbärmlich gesungen wird, doch Bernhardi findet die musikliebende Großherzogin, vielleicht weil sie inzwischen schwerhörig ist, glücklich und »radieuse wie nie«. Der Diplomat hat seine Jugend in Rußland verbracht hat, er weiß Russen einzuschätzen und mit ihnen umzugehen.
Ob er gut denkend sei - »bien pensant« -, fragt ihn der Geschäftsträger des Zaren, ein korpulenter Hüne namens Appolonius Freiherr n Maltitz, als er ihm seine Aufwartung macht. Der russische Gesandte in Kopenhagen, Ernst Ungern-Sternberg, warnt Bernhardi r dem Spitzel Maltitz, weil dieser unliebsame Berichte über alle Personen nach St. Petersburg schicke, die nicht im Strom der Heiligen Allianz mitschwimmen. Vom russischen Hofe kämen die Denunziationen dann nach Weimar zurück und machten schlechte Stimmung gegen die Verdächtigten.
Als die Großherzogin, unter deren Titeln jener einer russischen Großfürstin nie fehlen darf, Bernhardi zu sich bittet, spricht sie ller Enthusiasmus n Rußland und verlangt, daß er ähnlich empfinde. Er hat ihr seinen Nachruf auf den 1846 verstorbenen russischen Admi-ral und Erdumsegler Adam Johann n Krusenstern zukommen lassen; nach der Lektüre zeigt sie sich pikiert, daß anerkennende Sätze über ihren Bruder fehlen - gern hätte sie »einige überschwänglich lobpreisende Redensarten zum Ruhme des großen Kaisers Nikolaus in meiner Schrift gefunden«. Noch im Tode hält die Zarentochter Distanz zum Duodezfürstentum, in das es sie verschlug. Sie will in russischer Erde ruhen. Für die Grundsteinlegung der russischorthodoxen Kapelle, die an der Südseite der Coudrayschen Fürstengruft entsteht, schafft man deshalb eigens Säcke ller Erde aus Rußland herbei. Die Wand der Gruft wird zum Fundament der Kapelle hin geöffnet, so daß eine Nische entsteht, in welcher der Sarg der Paulowna Platz findet. So liegt sie neben ihrem Gemahl, der ganz auf protestantischem Boden ruht, auf orthodoxem Terrain und bleibt dem geliebten Rußland verbunden - Nähe und Distanz zugleich.
Als kaiserliche Hoheit hat sich Maria Paulowna den königlichen Hoheiten des kleinen Weimar stets überlegen gefühlt, aber ihre Verdienste um die kulturelle Entwicklung Weimars bleiben unbestritten: Ihrer Liebe zur Musik verdankt die Stadt jenes silberne Zeitalter, das mit dem Namen Liszt verbunden ist. Nicht der Großherzog, sondern seine Gemahlin Maria Paulowna sucht an die große Tradition Weimars anzuknüpfen. Sie veranstaltet literarische Abende, auf denen Gelehrte Vorträge halten - Mediziner, Naturwissenschaftler und Kunstexperten. Unter den Professoren findet sich auch Alexander n Humboldt, der n Jena herüberkommt. Die Großfürstin ist beliebt wie rdem nur Anna Amalia. Sie bewegt sich mit Sicherheit und Leichtigkeit, ihre Konversation ist lebhaft, gewandt und elegant, ihre Gesichtszüge sind hübsch, ohne schön zu sein. Viel n der Hochachtung, die ihr die Bürger der kleinen, armen Residenz entgegenbringen, hat mit jenem ungeahnten Reichtum zu tun, den sie schon bestaunen durften, ehe die Kaisertochter mit ihrem Gemahl 1804 Einzug hielt: Damals brachten achtzig Wagen, n kleinen, zottigen Pferden gezogen und n Kosaken geleitet, ihre Aussteuer n der Newa an die Um. Unabhängig dan verfügt Maria Paulowna als russische Prinzessin über erkleckliche Summen in St. Petersburg, zusätzlich bedenkt Zar Alexander die Lieblingsschwcster in seinem Testament 1825 mit stattlichen kaiserlichen Legaten.
Wenn der berühmteste Klaviervirtuose seiner Zeit, Johann Nepo-muk Hummel, 1819 als Hofkapcllmeister nach Weimar verpflichtet werden kann, dann nur, weil sie aus ihrer persönlichen Schatulle die Hälfte seines Jahresgehalts übernimmt. Hummel unterrichtet sie am Klavier, unter ihrem Einfluß verlagert das Hoftheatcr, das schon zur Zeit Caroline Jagemanns Musikstücke pflegte, seinen Schwerpunkt mehr und mehr zur Opernbühne. Durch Stipendien, weist Wolfram Huschke nach, fördert Maria Paulowna die Aus- und Weiterbildung n Weimarer Musikern und ermöglicht damit den qualitativen Ausbau des immer noch sehr bescheidenen Klangkörpers. Zu ihren Verdiensten zählen auch die Dichterzimmer im westlichen Schloßflügel, die heute als Denkmäler des klassizistischen Weimar zu bestaunen sind; der Entwurf für das Goethezimmer stammt n Schinkel, die Goethebüste n Rauch.
Ist sie in kultureller Hinsicht also die zentrale Persönlichkeit des Weimarer Hofes, läßt die soziale Not der Befreiungskriege die Mäzenin der Künste zur sozialen Wohltäterin werden: Sie gründet ein »Patriotisches Institut der Frauenvereine«, das bedürftige Soldatenfrauen durch Beschaffung n Arbeit unterstützt; eine Arbeitsschule für zwei- bis fünfhundert Kinder mit Spinnrädern, Webstühlen und Küchen samt einer Waschanstalt entsteht, außerdem errichtet die mildtätige Großfürstin eine Bewahranstalt für verwahrloste Kinder, eine Verpflegungsanstalt für alte Bürger und ein Damenstift für unversorgte Beamtentöchter.
Trägt der Wohltätigkeitseifer der pflichtversessenen Zarentochter beinahe zwanghafte Züge, sucht sie zuviel öffentliche Lobpreisung dafür? Herzogin Luise findet derart fürstliche Pflicht des Beglückens, wie sie die Schwiegertochter zeigt, diese »Wohlthätigkeit mit Pauken und Trompeten«, abstoßend. Früher hat sie ihrem Bruder, dem Prinzen n Hessen, die Paulowna als holdselig und gütig, charmant und ller Verstand gepriesen, nun wendet sie sich grollend ab: »Die Wohlthätigkeit ist zur Mode geworden«, schreibt sie ihm. »Liebst Du diese Frauen, diese coureuses de bienfaisance |Wetteiferer des Wohltuns], die die Menschen in Kontribution (Zwang zur Beitragszahlung] setzen und ihnen das Messer an die Gurgel halten, um die Armen zu nähren und zu kleiden? Ich liebe sie nicht und ebensowenig den famosen Frauenverein, bei dem es Mitglieder giebf, die in die Häuser gehen und in allen Winkeln nach Dingen suchen, die sie für ihre edle und rührende Wohlthätigkeit brauchen können. So ist die Welt, wie wenig genügt, um eine gute oder schlechte Reputation zu haben!« In Goethes Augen aber ist sie »der gute Engel für das Land«, der überall Leiden lindert und gute Keime wecken will.
Maria Paulowna gibt sich sozial, doch wächst der Hofstaat unter ihrem erzkonservativen russischen Einfluß um ein Vielfaches. Von Petersburg Pomp und Grandezza gewohnt, macht sie Weimar zur glänzendsten unter den kleinen Residenzen Deutschlands. Der engere Hofkreis besteht aus Oberhofmarschall, Generaladjutant, Oberstallmeister, Oberjägermeister, Oberforstmeister, Oberkammerherr und Oberschenk, dazu kommen eine Obersthofmeisterin mit zahlreichen Hoffräuleins und Hofdamen. Gab es 1806 nur dreizehn Kammerherren, zählt der größere Hofkreis um die Jahrhundertmitte nach Eduard Vehse einundvierzig Kammerherren und dreizehn Kammer- und vier Hofjunker obendrein. Eine Zeitlang, so die »Augsburger Allgemeine« 1849, gibt es in Weimar gleich vier Oberhofmarschälle einen mehr als am prunkllen sächsischen Hof in Dresden unter dem verschwendungssüchtigen Grafen Brühl. Zwar zeigt sich der Weimarer Hof gastlich und gewährt Bürgerlichen Zutritt, wenn sie sich in den Künsten auskennen, über Bildung verfügen und ihre Kleidung dem Hofzeremoniell entspricht. Es herrscht Uniformzwang, wer üblicherweise keine Uniform trägt, erscheint deshalb im Phantasiekostüm, notfalls im Frack mit Degen. Als der englische Romancier und Erzähler William Thackeray Weimar besucht, das er später »Pumpernikkei« nennen wird, erwirbt er den Degen Friedrich Schillers und ergänzt sein Kostüm damit; Jahre nach ihm setzt Hans Christian Andersen den Dreispitz auf und legt den Degen an, ehe er zu Hofe geht. Doch sonst hält die Zarentochter streng auf die säuberliche Trennung n Adel und Bürgertum. Im Theater bleibt der rechte Balkon der Hofgesellschaft rbehalten, der linke wird m Bürgertum besucht. Als er hört, daß eines der altadligen Hoffräuleins einen bürgerlichen Hofrat heiraten will, rauft sich Großherzog Carl Friedrich r Entsetzen die Haare. Und die Großherzogin stellt ihrer noblen Dienerin die Aussicht, daß sie im Theater demnächst auf der bürgerlichen Balkonseite Platz nehmen müsse, als unerträgliche Erniedrigung dar.
Wie wenig die innere Politik des Großherzogs Carl Friedrich dem Ruf der Liberalität gerecht wird, der sich an die Legende m Weimarer Musenhof knüpft, zeigt sich in aller Deutlichkeit nach der Pariser Julirelution n 1830. Als es im September zu Unruhen in den benachbarten Fürstentümern Hildburghausen und Altenburg, in Schleiz gar zu Zusammenrottungen kommt, verschärft Sachsen-Weimar die Zensur und stellt mehr Beamte als sogenannte Fiskale zum Zensieren ab. Man liest nun in Weimar den »Westboten« und die »Deutsche Tribüne« aus der Rheinpfalz, die an Frankreich grenzt und wo man nachsichtiger zensiert. Als die Regierung in Weimar im März 1832 auch diese Blätter als staatsgefährdend verbietet, werden sie n Schülern des Gymnasiums weiter eingeschmuggelt. Die Gymnasiasten, 41 an der Zahl, spenden auch für den »Verein zur Unterstützung der freien Presse« in Zweibrücken, für den die »Deutsche Tribüne« die Werbetrommel rührt. In einem Bericht an den Großherzog bewertet die Weimarer Regierung diesen Verein als umstürzlerisch: Er habe »nichts Geringeres als die Aufwiegelung des deutschen Volkes gegen seine Regenten« und die »Organisation eines deutschen Reiches mit demokratischer Verfassung zum Zweck«. Drei Jahre später verschwinden die Werke n Heine und Gutzkow aus den Buchhandlungen, weil die weimarische Regierung per Verfügung m 22. Dezember 1835 die Bücher des Jungen Deutschland beschlagnahmen läßt. Beugt Carl Friedrich, der angeblich die liberalen Anschauungen seines Vaters in Ehren hält, sich nur dem Druck des Deutschen Bundes, der auf diesen Repressionsmaßnahmen besteht? Zweifel sind angebracht, auch wenn der weimarische Gesandte, Graf Friedrich Beust, beim Bundestag in Frankfurt auf Weisung seiner Regierung oft für eine liberalere Verfahrensweise plädiert.
Das Regiment im kleinen Staat führt Maria Paulowna, die ihren Einfluß freilich geschickt r dem aufs Regieren erpichten Gemahl zu kaschieren weiß. Der ist zwar pflichtgetreu wie wenige, aber unselbständig, geistig eher beschränkt und alles andere denn eine schöpferische, zupackende oder tatkräftige Natur. Gottfried Theodor Stichling, weimarischer Staatsminister und Enkel Herders, nennt Carl Friedrich einen Mann der Passivität und der Gottesfurcht reinster Art. Stellt man die für Staatsdiener gebotene Vorsicht und Liebenswürdigkeit in Rechnung, dann kritisiert er den Charakter des Großherzogs ziemlich harsch: »Die Grundlage bildete eine kindlich-reine, fromme, wohlwollende Seele, das Wort >kindlich< im strengsten Sinne genommen.«
Märchen bleiben bis ins Alter des Großherzogs Lieblingslektüre, seine Leidenschaft gilt dem Sammeln n Nippes. Glaubt man Vehse, dann ist das Tiefurter Schlößchen bis in den letzten Winkel angefüllt mit Tellern, Gläsern und Tassen, Kristallflaschen und chinesischen oden, russischen Ostereiern und Porzellanmöpsen, ersteigert auf den verschiedensten Auktionen und viele Tausende n Talern wert. Halbe Tage verbringt das kindliche Gemüt, seine Königliche Hoheit, »mit dem Rangieren dieses Chaos und Labyrinths«. Vor jedem Con-seil instruiert die Paulowna deshalb ihren Carl Friedrich eingehend und spricht alle Fragen, die zum Vortrag kommen sollen, gründlich mit ihm durch. Ihr Vertrauensmann in der Regierung, der Geheime Rat Christian Wilhelm Schweitzer, trägt formell zwar nur die Verantwortung für das Kultusressort, doch praktisch stellt er mit der Großherzogin sämtliche wichtigen Weichen. Daß eine Massenpetition der Weimarer Bürgerschaft mit Unterschriften n 2166 Einzelpersonen Pressefreiheit und die Öffentlichkeit der Landtagssitzungen fordert, schockiert die Verwaltung des Großherzogtums zutiefst. Um weitere Unterschriften zu verhindern, darf das »Weimarische Wochenblatt« auf Anordnung der Zensurbehörden sie nicht zur Kenntnis nehmen. So beklagt der anonyme Verfasser eines »Offenen Sendschreibens zur Vertheidigung der Petition um Preßfreiheit und Öffentlichkeit der Landtagssitzungen«, 1831 in Leipzig verlegt, daß Weimar trotz seiner landständischen Verfassung ein System der Herrschaft habe, »welches r hundert Jahren noch das alleingültige in allen deutschen Staaten« gewesen sei. Solange der Landtag im geheimen tage, werde es der fürstlichen Regierung immer gelingen, die Volksvertretung in ihrem Sinne zu manipulieren: »Wenn die Sitzungen der sogenannten Volksvertreter bei verschlossenen Thüren gehalten werden, so ist das Volk mit der Repräsentation offenbar auf demselben Flecke, auf welchem es ohne Repräsentation war.« Wie so häufig, bleibt es in Weimar ruhig, während es in Jena gärt. Als um die Jahreswende 1832/33 Studentenunruhen ausbrechen, besetzt Weimarer Militär die Universitätsstadt. Es kommt zu blutigen Straßenkämpfen. Vier Studenten werden zu Festungshaft verurteilt, vier weitere relegiert und vierunddreißig ausgewiesen.
Zwar wird mit Christian Bernhard n Watzdorf 1843 schließlich ein eher Liberaler an die Spitze der Justizverwaltung berufen, der die rhandenen Spannungen als Gefahr für den Fortbestand der Monarchie bewertet und sie gütlich beilegen will. Doch gegen den streng konservativen Geheimen Rat und Paulowna-Vertrauten, der inzwischen zum Leiter der inneren Verwaltung aufgestiegen ist, kann er sich nicht durchsetzen. Carl Christian Schweitzer, der erbitterte Gegner liberaler Reformen, zeigt sich zunehmend nervös. Daß am 20. Mai 1843 hundert der »demokratischen Demagogie« verdächtige Jenaer Studenten zur Aufführung des »Götz« erscheinen, wirkt schockierend, und als gar einige während der Vorstellung Kuckuck rufen, gilt ihm dies als relutionärer Akt. Kein Zweifel: Unter Schweitzer exekutiert das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach die reaktionären Beschlüsse des Deutschen Bundes nicht nur pflichtgemäß, sondern mit besonderem Eifer. Das ändert sich erst, als mit der Relution ein liberaleres Ministerium berufen wird, dem Schweitzer weichen muß.
Aber was heißt schon Relution in Weimar? Was anderswo große Wogen schlägt, zeigt sich in der Ilm-Residenz nur in leichten Wellen. »Die Liebe des Volkes zu dem Fürstenhause war zu warm und zu dankbar«, schreibt die fürstentreu gesonnene Adelheid n Schorn, »als daß einige Schreier und Wühler hätten Unglück anrichten können.« Sie nennt keine Namen. Doch gehört zu denen, die sie als Wühler bezeichnet, zweifellos der Buchdrucker Anton Tatz, welcher Flugblätter mit relutionär-republikanischer Tendenz veröffentlicht, aus denen schließlich das kurzlebige »Weimarische Volksblatt« herrgeht. Seine Zeitung wird zum Organ des radikalen Weimarischen Märzvereins, fordert das allgemeine Wahlrecht und will der »rohen Gewalt und der Lüge« des Konstitutionalismus kämpfend entgegentreten, um den demokratischen Gedanken »allseitig zu entwik-keln«. Damit stellen Tatz und sein Herausgeber, der Schriftsteller und Journalist Heinrich Jade, zweifellos die radikal-republikanische Speerspitze der Relution in Weimar dar - und doch hüten selbst sie sich r jedem persönlichen Angriff auf den Großherzog.
Geschieht dies aus Angst um die persönliche Sicherheit? Die Sorge ist nicht unberechtigt. Als sächsische Truppen, die Ruhe und Ordnung in Ostthüringen sichern sollen, wider Erwarten auch in Jena einmarschieren, nutzt die Weimarer Regierung die Chance und läßt Heinrich Jade und seinen Gesinnungsfreund, den Sozialtheoretiker Wilhelm Adolph Lafaurie, verhaften. Jade muß eine Gefängnisstrafe verbüßen, später flieht er wegen der Anklage des Hochverrats.
Ist deshalb nie n Sachsen-Weimar die Rede, wenn die Flugblätter oder das »Volksblatt« Fürstenknechtschaft attackieren, sondern immer nur m Schreckbild Preußen und dem verhaßten Metternich-schen System? Wer Jädes Zeitung heute liest, dem sticht r allem die grenzenlose Verachtung der Hohenzollcrn in die Augen. Als Friedrich Wilhelm IV die ihm durch Simson n der Nationalversammlung in der Paulskirche angetragene Kaiserkrone ablehnt, höhnt das »Volksblatt«: »Wäre es nicht blutiger Ernst, man möchte es für eine Karnevalsposse erklären. Auf der einen Seite ein beliebiger Mensch, namens Hohenzollern, auf der anderen Seite Millionen, Millionen! Diese Millionen - seit Jahren bitten, flehen, winseln sie um Aufhebung eines Zustandes, der sie zum Vieh machte; die Millionen winseln und flehen - und der eine - will nicht.« Einen scharfen Blick für die Zeit, die Wünsche der Massen, Lebendigkeit, Frische und Volkstümlichkeit bescheinigt Fritz Körner in seiner Untersuchung über die »Zeitungsgeschichte in Weimar« diesem Blatt: In Angriff und Abwehr sei es »geistll, klar, satirisch und schneidend« gewesen, man könne n »Mustern journalistischen Könnens sprechen«. Die Zeitung geht im Oktober 1849 ein.
Gibt das Weimar n 1848 im nachhinein Goethe recht, der meinte, Demokratie und Relution seien überflüssig, solange nur der Untertan Zugang zu einem aufgeklärten und leutseligen Fürsten habe, der sich erläutern lasse, wo die Bürger der Schuh drückt? Mikrokosmen wie Weimar werden n Fürsten zum Anfassen regiert, die Gesellschaft des Hofes und jene der Stadt durchdringen einander, und das Fürstenhaus stellt den entscheidenden Wirtschaftsfaktor dar. Das ist nicht nur in Weimar, sondern auch in anderen thüringischen Kleinstaaten der Fall. Als rübergehend n einer Republik Thüringen die Rede ist, in der die bisherigen Duodezfürstentümer aufgehen sollen, nominieren die Coburger Demokraten ihren Herzog Ernst II. als künftigen Präsidenten. In Weimar versteht sich selbst der ins Ministerium berufene Führer der liberalen Landtagsopposition, der Rechtsanwalt Oskar n Wydenbrugk aus Eisenach, als Monarchist, wenn er auch die konsequente Umwandlung des aufgeklärt-absolutistisch regierten Großherzogtums in eine konstitutionelle Monarchie verficht.
Wie die Relution an der Um verläuft, daß die Masse der Weimarer Bürger ihren Fürsten eher r den Relutionären schützen denn danjagen will, schildert der Schauspieler und Regisseur Eduard Genast sehr anschaulich in seinen Memoiren: Nach einer Versammlung auf dem Marktplatz, auf der die Demokraten ihre Forderungen proklamierten, sitzt er mit Demokraten und Konstitutionellen im Gasthof zum Anker in der Windischen Gasse. Man streitet über die künftige Ordnung, als plötzlich die Tür aufgeht und ein Weimaraner ruft: »Heraus, ihr Bürger, das Gesindel stürmt das Schloß.«
Alle Gäste im Anker, welcher Partei sie auch angehören, springen auf und stürzen zum Schloß, »um ihren Fürsten und sein Haus zu schützen«, schreibt Genast. »In kurzer Zeit waren über fünfhundert Bürger versammelt, die alle Eingänge zu den fürstlichen Gemächern besetzten. Als Erkennungszeichen, da es bereits zu dunkeln begann, hatte jeder Bürger sein Taschentuch um den Arm gebunden. So standen wir nun wie eine Mauer im Fonds des Schloßhofs. Der Lärm und das Geschrei waren betäubend, und doch wären fünfzig Bajonette hinreichend gewesen, dem tollen Spuk ein Ende zu machen, aber der gütige Fürst hatte jeden Eingriff des Militärs untersagt. Zunächst versuchten die Minister durch versöhnende Worte und Versprechungen die rasende Menge zu beruhigen, aber alles war vergebens, bis man den Landtagsabgeordneten Wydenbrugk, den Mann des Volkes, herbeigeholt hatte. Dieser wußte durch eine energische Rede die wenigen Schlimmgesinnten zum Fortgehen zu bewegen. Als er m Schlosse herkam, wurde er n zwei Exaltierten auf die kräftigen Schultern eines großen Mannes gehoben, und unter Jubelgeschrei folgte die größere Menge diesem Triumphzuge, aber die Hefe, der es um etwas ganz anders zu tun war, als Rechte und Freiheiten zu beanspruchen, blieb. Da übernahmen es die Bürger, in geschlossenen Reihen die zerlumpte Rotte durch die Barriere des Schloßhofes hinauszujagen.« Anderntags wird in Weimar eine Bürgerwehr gegründet, die das Fürstenpaar mit einem donnernden Hoch begrüßt, wann immer es zum Inspizieren kommt. Genast gehört ihr an, er trägt nun einen kurzen grünen Waffenrock mit schwarzem Samtkragen und gelben Metallknöpfen, ein Käppi und einen Ledergurt samt Patronentasche. Exerzierplatz ist die Sternwiese gegenüber Goethes Gartenhaus. »Was würde wohl der alte Herr zu diesem Treiben gesagt haben?« fragt der Schauspieler und zitiert, was der Theaterdirektor Goethe gelegentlich auf Proben geäußert hat: »Nun, das wächst ja recht erfreulich heran!« Er kennt seinen Goethe, der nichts mehr haßte als Umsturz und Anarchie.
»Je aufgeregter die Zeit ist, desto inniger muß das Band zwischen Fürst und Volk sich knüpfen«, heißt es in einer landesfürstlichen Bekanntmachung, nur dadurch könnten »die ruchlosen Bestrebungen einzelner bekämpft werden«. Kein Zweifel: Genast und die Mitglieder der Bürgerwehr verhalten sich ganz so, wie es der Großherzog n seinen Untertanen erwartet. Die »Weimarische Zeitung« wird ein wenig unabhängiger, denn ein »hohes Staatsministerium« hat die Fortführung des Blatts, wie es selbst ller Stolz meldet, »ohne die geringste oder andere Instruktion in die Hände des zeitherigen Redakteurs und der zeitherigen Verleger gelegt«. Praktisch avanciert die Zeitung damit m bloßen Sprachrohr der Regierung zum offiziösen Blatt mit konservativer, regierungsnaher Tendenz. In einem der ersten Leitartikel befürwortet es ein »Aufruhrgesetz«, welches das neue liberale Ministerium erläßt: »Wenn ein gesunder Sinn allein seine Hebel an die Massen ansetzt, wenn das Volk in fester, dem deutschen Charakter so eigentümlicher Gesinnungstreue sich um seinen Monarchen schaarend«, die Forderung nach politischen Reformen in verfassungsmäßiger Weise auch laut erhebt, dann, so heißt es da, »fürchten wir nichts«. Die Redaktion verficht eine großdeutsch-nationale Linie, will aber eine monarchistisch-konstitutionelle Regierung mit einem starken Bundesoberhaupt. Auch Carl Friedrich hat versprochen, sich für eine Nationalverfassung einzusetzen und meint, mit der Wiedereinführung der Pressefreiheit habe er genügend Reformwillen bewiesen, um nach hergebrachter Art weiter zu regieren. Er sei bedächtig gewesen, im Grunde unpolitisch, meint der Historiker Friedrich Facius, »zudem so gealtert, daß er das turbulente Geschehen der Märztage nicht begreifen konnte«. Unter dem Einfluß der Pauiowna hält er deshalb trotzig an seinem alten Ministerium fest, das so treulich die Beschlüsse der Heiligen Allianz exekutierte. Es bedarf erst eines weiteren Volksauflaufs im Schloßhof am 11. März, bis er endlich kapituliert, den Rücktritt Schweitzers und seiner anderen Minister ankündigt und das Märzministerium mit Watzdorf und Wydenbrugk ernennt.
Was n den Märzereignissen in Weimar bleibt, ist r allem die Überführung der Domänen, über die bislang ausschließlich das Fürstenhaus verfügte, in staatliche Verwaltung, wobei die Besitzverhältnisse bezeichnenderweise ungeklärt bleiben. Der Großherzog hat sich hinfort mit einer Zivilliste zu begnügen, welche der Landtag freilich großzügig auf zweihundertachtzigtausend Taler im Jahr festsetzt. Damit wird die wirtschaftliche Machtstellung des Fürstenhauses begrenzt und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur konstitutionellen Monarchie getan. Beim Wahlgesetz dagegen werden die freiheitlichen Vorschriften für die Landtagswahl m November 1848 im Zuge des Erstarkens der Reaktion und auf Aufforderung des Deutschen Bundes energisch zurückgeschnitten. Ab 1852 gilt ein Dreiklassen Wahlrecht, das an das Bürgerrecht und damit an Grundbesitz, Vermögen und Einkommen gebunden ist: Der Landtag besteht aus je fünf direkt gewählten Vertretern der Großgrundbesitzer und den hochbesteuerten sogenannten »Tausend-Thaler-Männern«, dreiundzwanzig Abgeordnete werden n den Gemeindebürgern indirekt über Wahlmänner bestimmt. Nur zu verständlich, wenn die liberalen Landtagsabgeordneten aus Protest ihre Mandate niederlegen. Doch bewirken sie damit nichts, denn dieses Wahlrecht gilt im Großherzogtum bis ans Ende des Jahrhunderts, bis 1896, unverändert fort.
Das Weimarer Fürstenhaus wittert nun die Chance, das Domänenvermögen der staatlichen Verwaltung wieder zu entreißen, um wie früher frei darüber zu verfügen. Doch selbst der Landtag, in dem jetzt eine liberal-konservative Mehrheit das Sagen hat, blockiert diesen Versuch und stimmt nur der Rückgabe eines geringen Teils, r allem der Schlösser und Parks, als sogenanntem Krongut zu. Das Wiedererstarken der konservativen Tendenzen veranlaßt Oscar n Wydenbrugk, den führenden liberalen Politiker des Großherzogtums, 1852 aus dem Staatsministerium auszuscheiden.
Politisch ist das Weimar unter Carl Friedrich und der Pauiowna wahrhaft kein Musterländle, auch wenn es sich in Fragen der Kunst liberal zeigt und ein »Silbernes Zeitalter« erlebt, als Franz Liszt es rübergehend aus seinem Dämmerzustand reißt. Daß Weimar sich nach Kräften für den in Abwesenheit zum Tode verurteilten Dresdner Hofkapellmeistcr Richard Wagner eingesetzt habe, gehört jedenfalls ins Reich der Sage. Wagner hatte im Mai 1849 in Dresden auf den Barrikaden gestanden, die nach den Anweisungen des Architekten Johann Gottfried Semper errichtet wurden, des Erbauers des nach ihm benannten Opernhauses. Als begeisterter Relutionär soll der Hofkapellmeister sich damals gerühmt haben, er allein sei verantwortlich für den Brand im Prinzenpalais - so jedenfalls verzeichnet es eine sächsische Polizeiakte. Sic wird ihm m sächsischen Ministerpräsidenten nach der Begnadigung gezeigt, die Wagner zu einem Dankbesuch in Dresden veranlaßt hat. Doch dies geschieht viele Jahre später, als der Musiker längst Weltruhm erlangt hat und Sachsen nicht mehr umhin kann, sich seinem großen Sohn gegenüber großzügig zu zeigen. Im Frühjahr 1849 jedoch befindet sich der königliche Kapellmeister Wagner auf der Flucht r der sächsischen Polizei und kommt über Chemnitz nach Weimar, wo er sich n seinem Freund, dem großherzoglichen Hofkapellmeistcr Liszt, Hilfe erhofft. Der nämlich hat als Zwölfjähriger die Februar-Relution 1830 in Paris erlebt und schwärmt seither für eine gerechtere Welt und die Ideen Saint-Simons.
Der französische Graf hat unter Washington gegen die britischen Kolonialherren gekämpft, will alle Fürsten und Monarchen stürzen, die Produktionsmittel in Gemeinschaftsbesitz überführen und träumt n einer neuen Leistungshierarchie, die sich aus gebildeten Bürgern rekrutiert. Aber Liszt ist nicht minder n dem religiösen Sozialreformer Abbe Felicite de Lamennais fasziniert und sucht, als er nach Weimar kommt, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eher im Christentum. Den Zielen der Relutionäre bringt er Verständnis entgegen, auch wenn er inzwischen n ihren Mitteln, dem Umsturz, abgerückt sein mag. Seine »Heroi'de funebre«, einst als Relutionssymphonie begonnen und unter dem Eindruck des Scheiterns der 48er-Bewegung in Weimar zu Ende komponiert, ist nach Meinung seines Biographen Werner Felix nur als großartige Trauermusik für die Opfer der Relution zu verstehen. Natürlich hilft der berühmte Klaviervirtuose dem verfolgten Wagner so gut er kann, erkennt er doch früh dessen immense Begabung und nennt ihn »eine neue, glänzende Erscheinung in der Kunst«. Spürt er instinktiv das genial Irrationale, das extrem Deutsche der Wagnerschen Musik, wenn er seinem früheren Sekretär Belloni nach Paris schreibt, der Sachse sei ein »schädelspaltendes Genie, wie es für dieses Land paßt«?
Liszt macht im Hotel »Erbprinz« Quartier für Wagner und empfängt ihn freundlich auf der Altenburg, wo er inzwischen mit seiner Fürstin Sayn-Wittgenstein residiert. Doch das offizielle Weimar hält sich gegenüber dem unerwünschten Gast bedeckt. Da sächsische Truppen Unruhen in Ostthüringen niederschlagen und selbst nach Jena marschieren, scheint es wenig ratsam, den mächtigen Nachbarn im Osten zu reizen. Widerwillig duldet Regierungschef Watzdorf, der als konstitutioneller Monarchist für entschiedene Republikaner wie Wagner wenig Sympathien hegt, seine Anwesenheit im Herzogtum nur solange, bis der offizielle Steckbrief aus Dresden eintrifft: Darin wird die Verhaftung und Auslieferung eines 37 bis 38 Jahre alten Brillenträgers n mittlerer Statur mit braunen Haaren wegen »wesentlicher Teilnahme an der in hiesiger Stadt stattgefundenen aufrührerischen Bewegung« gefordert. Freunde Liszts verstecken Wagner in Magdala, besorgen ihm einen falschen Paß auf den Namen Dr. Widmann und ermöglichen ihm die Reise über Zürich nach Paris. Zwar verwendet sich Großherzog Carl Alexander später für die Begnadigung Wagners in Dresden. Doch fehlt es ihm an Mut, dem verfolgten Komponisten auch nur zeitweise Asyl im eigenen Lande zu gewähren. So bittet er König Johann n Sachsen 1856, er möge gestatten, daß sich Wagner einige Zeit in Weimar aufhalte, und seine Gesandtschaft anweisen, n Fahndungsersuchen abzusehen. Als die Bitte abgelehnt wird, fügt er sich. Wagner bleibt in der Schweiz.
Nach Goethe hat niemand in Weimar einen größeren künstlerischen Einfluß als Franz Liszt, der zwar politisches Asyl für Wagner nicht durchsetzen kann, aber wenigstens der Musik des »schädelspaltenden Genies« durch seine Aufführungen im großherzoglichen Hoftheater zum Durchbruch verhilft. Den Anfang macht ein Konzert im Herbst 1848, in dem er die Ouvertüre des »Tannhäuser« rstellt. Es folgt die Aufführung der ganzen Oper am 16. Februar 1849, dem Geburtstag der Maria Paulowna. Liszt beweist damit Mut, denn weder haben Publikum oder Kritiker die Oper bei der Dresdner Uraufführung 1845 positiv aufgenommen, noch hat eine andere Bühne sie bisher zu spielen gewagt. Doch zeigt er mit der Wahl gerade dieses Stoffes auch taktisches Geschick. Wagner hat ja in seinem Libretto die Gestalt des gelehrten, singenden Ritters Tannhuser mit der des-Minnesängers Heinrich n Ofterdingen verschmolzen und die mittelalterliche Sage m mythischen Venusbcrg mit den mittelhochdeutschen Gedichten m Sängerkrieg verwoben, der zur Zeit des Landgrafen Hermann n Thüringen auf der Wartburg spielt. Wenn dieser als einer der besten deutschen Fürsten gepriesen wird, darf sich der Regent n Weimar also angesprochen fühlen, zumal die Paulowna ihren Sohn, den Erbherzog Carl Alexander drängt, sich der Erhaltung und Restaurierung der Wartburg anzunehmen. So ist dem »Tannhäuser« eine freundliche Aufnahme in Weimar gewiß, die Oper gehört bald zum festen Repertoire und wird mit vierunddreißig Vorstellungen in zehn Spielzeiten zum meistaufgeführten Musikstück des Hoftheaters.
Auf der Flucht in Weimar hat Wagner, hinter einem Vorhang versteckt, Gelegenheit, Probearbeiten Liszts an seinem Werk im Hoftheater zu beobachten. Geradezu enthusiastisch bedankt er sich später bei dem Freund: »Kein Theater der Welt hat es noch zu unternehmen für gut befunden, meine seit vier Jahren erschienene Oper >Tannhäuser< zur Aufführung zu bringen; Sie mußten aus aller Welt Enden erst am Sitz eines kleinen Hoftheaters sich auf einige Zeit ansiedeln, um zugleich zum Werke zu greifen, damit ihr schwergeprüfter Freund endlich etwas weiterkomme.«
Anders dagegen Liszts Erfahrungen mit dem »Lohengrin«. Im Fest-Kalender des musealen Weimar nach Goethe sind inzwischen nicht nur die Geburtstage der fürstlichen Familie, sondern auch jene der Klassiker verzeichnet und bieten, Freude oder Pflicht, mehr oder weniger willkommene Anlässe für Festrstellungen. So spricht am 28. August 1850 anläßlich der Goethefeier zum 101.(!) Geburtstag des Dichters der Schauspieler Jaffe einen Prolog n Dingelstedt, danach folgt die Uraufführung n Wagners »Lohengrin«. Ein Platz in der Fremdenloge kostet einen Taler und zehn Silbergroschen, ein Sitz in der Parterreloge ist schon für zwanzig Groschen zu haben.
Liszt schreibt mit dieser Aufführung, die vier Stunden dauert, Musikgeschichte. Gäste aus aller Welt sind angereist - der Komponist Giacomo Meyerbeer, Experten und Opernliebhaber aus London, Paris und Brüssel. Die internationale Kritik zeigt sich beeindruckt, die großherzogliche Familie applaudiert, aber das provinzielle Weimarer Publikum mit seinem konventionellen Geschmack bleibt lau und reserviert, es zeigt wenig Sinn für das Avantgardistische der Wagnerschen Musik und fühlt sich n ihr überfordert. Kein Wunder, wenn ein erboster Liszt dieses Publikum in einem Brief an die Fürstin Wittgenstein als eine »große Null« bezeichnet. Dabei waren die Arbeiten am »Lohengrin« n Anfang an mit Zweifeln belastet. Übersteigen die Anforderungen Wagners nicht die bescheidenen Mittel, die in Weimar verfügbar sind? Reicht das Ensemble dieses mittleren Stadtheaters überhaupt aus, die »hochideale Färbung« des Werks einigermaßen gültig darzustellen? Hatte man nicht schon die Hauptrolle des »Tannhäuser« mit einem Dresdner Sänger besetzen müssen, um der Oper über den Sängerkrieg auf der Wartburg zum Erfolg zu verhelfen? Liszt selbst, der in zehn Jahren als Weimarer Opernkapellmeister sein Orchester nur n fünfunddreißig auf neununddreißig Mitglieder aufstocken kann, will das Handtuch werfen und schickt die »Lohengrin«-Partitur, die er n Wagners Frau in Dresden erhalten hat, an den Musiker ins Zürcher Exil weiter. Doch Wagner läßt nicht locker: Liszt solle die Oper aufführen, »gleichviel wenn es selbst nur in Weimar ist: ich bin gewiß, Du wirst alle möglichen und nöthigen Mittel dazu herbeischaffen, und man wird sie Dir nicht abschlagen«.
Wagner kalkuliert richtig: Der Charme des Frauenlieblings Liszt verfehlt seine Wirkung auf die musikverständige Großherzogin nicht. Maria Paulowna spielt nicht nur ausgezeichnet Klavier, sie weiß wie ein Kapellmeister Partituren zu lesen und zu transponieren. Aus ihrer Privatschatulle stiftet sie zweitausend Taler, eine damals unerhörte Summe für eine einzelne Inszenierung. Dennoch hat Liszt mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die n Wagner rgeschriebenen vier Heerhörner sind nicht aufzutreiben und müssen durch Trompeten ersetzt werden. Glaubt man Eduard Genast, der als Opernregisseur Liszt »auf der Bühne treulich zur Seite« steht, dann entbehrt diese Uraufführung nicht der unfreiwilligen Komik. So zeigt der Sänger des Lohengrin - »der Mensch kann nicht mehr geben, als er n der Natur empfangen hat« - bedenkliche dramatische Schwächen: »Trotz meiner Bitten und Mahnungen, die Szene im Schlafzimmer so platonisch wie möglich zu halten, wozu schon die keuschen Töne des Komponisten anleiten, zog dieser Lohengrin seine Elsa fast fortwährend an sich, so daß es ihr schwer wurde, den Worten: >An meine Brust, Du Süße, Reine< nachzukommen.« An dieser Brust lag sie ja längst!
Liszt selbst weiß um die Mängel dieser Uraufführung. In einem Brief an die Paulowna zählt er sie sämtlich auf: Da haben ein Dutzend Chorsänger gefehlt, um die »prächtigen Chöre dieses Werkes« richtig zur Wirkung zu bringen; aus Mangel an Statisten habe sich die »Lächerlichkeit« nicht vermeiden lassen, daß im zweiten Akt ein Marsch gespielt wird, »ohne daß ein feierlicher Zug über die Bühne schreitet«. Zerlumpte Dekorationen, Kostüme aus Stoffen, »als man sie gewöhnlich auf den Sofas der Hotels garnis findet«, geradezu ärmlich der Kahn und der Schwan - das alles paßt nicht zu den »glänzenden Vorstellungen«, welche »die Musik in den Gemütern erweckt«. Dazu ein völlig überfordertes Ensemble: »Eine ganze Anzahl n Mitgliedern des Theaters ist m Alter geschwächt, in den Dürftigkeiten des Provinzbetriebes versauert, ohne eine Ahnung dan, was anderwärts getan und geleistet wird, zufrieden, wenn sie ihres Abendbrots sicher ist, während es an jungen Leuten fehlt, die einen Namen zu erobern haben, Vergleiche anstellen können und sich n jener Glut beseelt fühlen, ohne die es fast besser ist, überhaupt nichts anzufangen.«
Im Exil bei Luzern kann sich Wagner kein eigenes Urteil bilden, doch entnimmt er Berichten und Kritiken, daß Schauspieler und Sänger es am nötigen Temperament haben fehlen lassen. So schreibt er an Genast, er müsse die Darsteller mehr »in das rechte dramatische Feuer« bringen, ein Feuer, das »leider bei der jetzigen Sängergeneration gänzlich erloschen zu sein scheint und nur durch unerhörtes Anfachen n außen wieder zum Brennen zu bringen sein wird«. Liszt und sein Helfer Genast fachen nach Kräften an, aber der Erfolg beim Weimarer Publikum bleibt aus: Melodielos sei die Oper und viel zu lang, n der Masse der Musik werde man fast erdrückt. Liszt scheint bereit, den »Lohengrin« ganz aus dem Repertoire zu nehmen, zumal Wagner Kürzungen zunächst ablehnt. Gestreng fordert der Komponist in einem Brief an Genast die Erziehung des Publikums zur »Kraftübung im Kunstgenuß« und weist auf das Vorbild der alten Athener hin: die » saßen n Mittag bis in die Nacht r der Aufführung ihrer Trilogien, und sie waren ganz gewiß nichts anderes als Menschen«. Als er schließlich doch Streichungen erlaubt, wird sein »Lohengrin« weiter gespielt, doch die Anerkennung gilt eher der Wag-nerschen Musikrelution denn der notwendigerweise unllkommenen Art der Inszenierung.
Wenn dieser »Lohengrin« schließlich doch zum Erfolg wird, spielt eine ausschlaggebende Rolle dabei die Eisenbahn, an deren Streckennetz Weimar seit 1846 angeschlossen ist. Die Kunde n dieser sagenhaften Oper hat in ganz Deutschland die Runde gemacht; um sie zu erleben, strömen Musikliebhaber und Wagner-Bewunderer in die Ilm-Residenz und füllen das Hoftheater bis auf den letzten Platz. Ihr Applaus gleicht Begeisterungsstürmen, immer wieder rufen sie den Maestro Liszt auf die Bühne. Im Sog der fremden Besucher besinnen sich langsam, aber immerhin, selbst die spießigen Weimaraner eines Besseren.
Franz Liszt ist ein Glücksfall für Weimar. Er bringt weltmännischen Glanz, den Ruhm des besten Klaviervirtuosen seiner Zeit und einen Hauch französischer Romantik in eine enge Stadt, die n der Vergangenheit zehrt. Sein Leben gleicht einem Roman: Als Neunjähriger erstmals auf der Bühne am Klavier, als Fünfzehnjähriger verwöhnter Liebling aller Pariser Salons, danach triumphal gefeiert in den großen Städten des Kontinents. Ein Haupt mit edlen Zügen, wallenden Haaren und einem Profil wie Dante, die ur schlank, zart und elegant - diesem Ungarn, der meist französisch spricht, liegen die Frauen zu Füßen. Die blaublütigsten Hofdamen reißen sich darum, ihm die Noten umzublättern.
Als er im November 1841 zum erstenmal in Weimar gastiert, ist der Enthusiasmus so groß wie seit anini nicht mehr. Maria Paulowna schenkt ihm einen kostbaren, mit Smaragden besetzten Taktstock. Ein Jahr später, als er bei den Vermählungsfeierlichkeiten des Erbgroßherzogs spielt, wird er zum »Hofkapellmeister in außerordentlichen Diensten« ernannt - ein unbesoldetes Ehrenamt, das ihm keine Verpflichtungen auferlegt, aber doch die Möglichkeit einräumt, die Kapelle »zu seinen Leistungen aufzufordern und zu benutzen«, wenn er in Weimar weilt. Genau darin liegt die Verlockung, welche Liszt, den weltberühmten Pianisten, nach einigen weiteren Gastspielen 1848 schließlich ganz nach Weimar zieht. Seiner Sache als Virtuose sicher und des ewigen Reisens leid, will er nun mit dem Orchester arbeiten, sich zum Dirigenten entwickeln und auf das Komponieren konzentrieren, zumal ihn Carl Alexander mit begeisterten Elogen in Versuchung führt. »Erleuchten Sie mir die Welt durch Ihr Licht, damit ich durch Ihre Augen sehen kann «, schreibt ihm der Thronfolger 1846. Im Jahr darauf bittet er Liszt, ihn bei der Reform des Weimarer Operntheaters zu unterstützen. Der gefeierte Künstler folgt der Einladung im Frühjahr 1848, macht Weimar für einige Jahre zum Zentrum der neuen Musik in Deutschland und wird zum Begründer der Neudeutschen Schule.
Mit ihm blüht das Weimarer Konzertwesen auf, in harter, unermüdlicher Arbeit hebt er die Qualität des Orchesters, auch wenn sie ihn nie ganz befriedigen wird. Er ist kein bequemer Kapellmeister, der sich damit begnügt, Takt und Tempi rzugeben. Auf dem Dirigentenpult des Hoftheaters steht nun ein »Führer ll Feuer und Energie«, schreibt Genast, der alle musikalischen Feinheiten aufzufinden und zur Geltung zu bringen weiß. Explosiver Rhythmus ist ihm wichtiger als der Takt. Mit seinen Händen, Körperbewegungen und seinem Gesichtsausdruck reißt er die einzelnen Musiker des Orchesters »mit auf die Höhe, auf der er selber steht«. Für heutige Besucher philharmonischer Konzerte mag das selbstverständlich sein, für die damalige Zeit war es relutionär und brachte Liszt nicht selten abfällige Kritiken ein. Eine zeitgenössische ungarische Karikatur zeigt den Maestro mit weit geschwungenen Armen, wildverzückten Gesichtszügen und langen, ungebändigten Haaren, einmal in die Knie gehend, sich duckend und die Arme nach rn ausgestreckt, dann wieder auf den Fußspitzen stehend, mit den Armen sich himmelwärts reckend. Das ist der neue Liszt, der seine Musiker wie Löwen bändigt und sich m Virtuosen zum berühmten Dirigenten wandelt, der bald als Gast nach Karlsruhe, Düsseldorf und Braunschweig, nach Wien und Budapest, nach Prag, St. Gallen und Rotterdam gebeten wird. Er fördert r allem zeitgenössische Musiker, so Robert Schumann, aber nach seinem Fariten Wagner hat es ihm r allem Hector Berlioz angetan, der in seiner französischen Heimat nicht recht reüssieren will. Liszt gefällt dessen Überdimensionierung des Orchcsterklangs, welche einige abschätzig als Monstermusik bezeichnen; daß der Franzose eine Art programmatische, auf Inhalte verpflichtete Musik komponiert, die er sogar in seinen Programmheften erklärt, um die Hörer auch ja in die n ihm gewünschte Richtung zu drängen, zieht ihn besonders an. In den eigenen sinfonischen Dichtungen versucht er ja selbst die Bindung der Musik an die Literatur und komponiert »Programmusik«. Gleich dreimal, 1852, 1855 und 1856, kommt der französische Komponist zu Berlioz-Wochen an die Um, dirigiert seine Werke selbst und gibt Wohltätigkeitskonzerte zugunsten n Witwen und Waisen.
Und natürlich immer wieder Wagner, mit dem ihn wachsende Freundschaft und bald auch Verwandtschaft verbindet, welche die Eintracht einige Jahre erheblich stört. Denn Liszts Tochter Cosima, die erst seinen Schüler Heinrich n Bülow heiratet, lebt ab 1869 mit Wagner zusammen, noch ehe sie n Bülow geschieden ist, gebiert ihm drei Kinder und führt Wagners Erbe, die Bayreuther Festspiele, als energische und effiziente Oberspielleiterin bis zu ihrem Tod 1930 zu unerhörtem Erfolg. Ihr Vater, nach seinem Weggang aus Weimar in Rom zum franziskanischen Abbe geweiht, zeigt für das Verhalten der Tochter zunächst wenig Verständnis, was die Beziehungen zu ihr und zum alten Freund Wagner auf Jahre erheblich belasten muß. Aber das heißt weit rgreifen. Erst einmal führt Liszt im Rahmen einer Wagner-Woche 1853 als dritte Wagner-Oper in Weimar den »Fliegenden Holländer« auf. Und um ein Haar hätte das Wagnersche Bayreuth auch nie das Licht der Welt erblickt. Als ihm nämlich Wagner n seiner Arbeit an den »Nibelungen« berichtet und erklärt, die kolossale Tetralogie sprenge den Rahmen herkömmlicher Bühnen, ist Liszt überzeugt: Ein neues Festspielhaus muß her, und kennt auch den Ort, an dem es zu stehen hat. Wagners »Nibelungen«, schreibt er 1856 an Carl Alexander, müßten in Weimar zur Uraufführung kommen, denn das Werk werde seinen Strahlenglanz über die ganze Welt werfen und »unser Zeitalter beherrschen als die monumentalste Leistung der gegenwärtigen Kunst«.
Wäre es nach Liszt gegangen, hätte sich das Festspielhaus in Bayreuth, das etliche Jahre später ersteht, n rnherein erübrigt, denn Carl Alexander wäre mit dem Bau einer speziellen Bühne für Wagner in seinem Ilm-Athen eingesprungen. Wer um den nationalistischen Weihrauch weiß, den kommende Generationen in Weimar allein schon um die Klassiker wallen lassen, dem ist der Gedanke geradezu unerträglich, der Großherzog wäre Liszts Anregungen gefolgt. Dann nämlich wäre Weimar zur zentralen nationalen Kult- und Weihestätte eines Doppelmythos n Klassik und Richard Wagners Musikdramen geworden, obschon diese mit Goethe, Schiller oder Herder nun wahrlich nichts verbindet. »Goethe oder Wagner. Beides zusammen geht nicht«, schreibt Thomas Mann an Julius Bab. Und selbst Adolf Bartels, der geradezu widerwärtig antisemitische Barde der deutschen Literaturwissenschaft, den es Ende des 19. Jahrhunderts nach Weimar zieht, zeigt sich befriedigt, daß Liszts Idee gescheitert ist: »Wagner und Goethe vertragen sich kaum.«
Zwar zeigt sich Carl Alexander aufgeschlossen wie stets und rührt erste Gespräche über den möglichen Standort für das neue Festspielhaus. Doch scheitert der hochfliegende an den beschränkten Mitteln, die der Königlichen Hoheit zur Verfügung stehen. Nicht anders ergeht es Liszts Entwurf für eine »Fondation Goethe«, mit der er Weimars kulturpolitisches Profil schärfen, es zum Zentrum der deutschen Gegenwartskunst machen und ihm jenen Platz in Deutschland sichern will, den Florenz in Italien einnimmt.
Derzeit erweise man Weimar die Pietät einer Reliquie, schreibt Liszt in seiner Denkschrift, mit der er die Klassiker-Stadt aus ihrer musealen, rückwärts gerichteten Existenz erlösen und ihr die Funktion eines zeitgenössischen Zentrums der Künste geben will. Nach dem Vorbild der antiken olympischen Spiele soll die Stiftung alljährlich eine große Versammlung nach Weimar einberufen, um alternierend die besten Werke der Literatur, der Malerei, der Bildhauerkunst und der Musik mit nationalen Preisen auszuzeichnen. Liszts Ziele sind betont gegenwartsbezogen, selbst an Sonderwettbewerbe für Architektur und sozialen Wohnungsbau für Arbeiter ist gedacht. »Gegenwärtig ist Weimar nur ein geographischer Punkt«, beschwört er den Großherzog, »ein Asyl, das geehrt wird der Hoffnungen wegen, die den glanzllen Erinnerungen nachfolgen könnten, ein neutraler Platz, offen für eine Blütezeit, die sich dort entfalten sollte.« Bewußt richtet er seinen Appell an den Repräsentanten eines fürstlichen Hauses, das nach seiner ganzen Tradition verpflichtet sei, besondere kulturelle Aufgaben für ganz Deutschland zu übernehmen. Als Komponist, Dirigent und Organisator des Musiklebens versucht Liszt, »den Nationalgedanken liberal und demokratisch zu interpretieren und ihn mit dem Geist der Universalität und des Kosmopolitismus zu verschmelzen«. Damit stellt er, so Monica Marquardt in ihrem Beitrag »Weimar als geistige Lebensform«, eine »für Deutschland seltene, aber doch notwendige Balance zwischen nationaler Identität und Weltoffenheit« her. Weimar ist ihm das »Vaterland der Seele«, wie er einmal seinem Fürsten schreibt, aber er fühlt als Ungar und ergreift mit sinfonischen Dichtungen wie der »Hungaria« deutlich für Kossuth, die Relution und die nationale Unabhängigkeit Partei. Begeistert geht Carl Alexander auf Liszts Idee einer »Fondation Goethe« ein, aber nach den ersten organisatorischen Vorarbeiten verläuft das Projekt im Sande. Dem Großherzog fehlt es an der Beständigkeit und dem Durchsetzungsvermögen, die ein so ehrgeiziger verlangt.
Als Liszt, der Mann vieler skandalumwitterter Liaisons, sich in 1848 in Weimar niederläßt, kommt er natürlich nicht allein. Bei einem seiner vielen Wohltätigkeitskonzerte, die er überall in Europa gibt, hat er im Winter zur in Kiew die Fürstin Carolyne n Sayn-Wittgenstein kennengelernt. An Schönheit kann sie sich mit der Gräfin Marie d'Agoult nicht messen, jener französischen Schriftstellerin, die 1835 ihren Mann verließ, um neun Jahre mit dem damals schon berühmten Virtuosen zusammenzuleben, eine Verbindung, aus der Cosima Wagner herrgegangen ist. Aber die kleine, zierliche, gesellschaftlich gewandte polnische Aristokratin besitzt eine umfassende Bildung, treibt philosophische Studien und verfügt über einen eminent scharfen Verstand. Sie ist ebenso reich wie unglücklich - m Vater hat sie ein Gut mit dreißigtausend Leibeigenen geerbt, wurde indes schon als Siebzehnjährige in eine Ehe mit dem ungeliebten Sohn des zaristischen Feldmarschalls Wittgenstein gezwungen. Kaum hat sie die Scheidung beantragt, folgt sie mit ihrer Tochter dem angebeteten Liszt nach Weimar, wo sie mehr als ein Jahrzehnt die Altenburg, jenes hoch über der Um am Wege nach Jena gelegene schmucklose, an einen riesigen Kasten erinnernde Haus, in einen Salon umwandelt, in dem sich bald die künstlerische Avantgarde Deutschlands trifft. Die Gastfreundschaft Liszts und seiner Fürstin werden weithin gerühmt. Da liege Harmonie in der Luft, sagt Friedrich Hebbel, einer der vielen Besucher -das Gespräch werde zum »Goldgewebe«, als »traumhaft-phantastisch« bezeichnet er eine der großen Gesellschaften auf der Altenburg, bei der Liszt Zigeuner-Rhapsodien spielt: »Am Klavier ist er ein Heros; hinter ihm, in polnisch-russischer Nationaltracht mit Halbdiadem und goldenen Troddeln die junge Fürstin, die ihm die Blätter umschlug und ihm dabei zuweilen durch die langen, in der Hitze des Spiels wild flatternden Haare fuhr.«
Doch Liszt und seiner Fürstin ergeht es nicht anders als Goethe mit seiner Christiane: Die verzopfte Weimarer Gesellschaft findet ihr Zusammenleben anstößig. Hat sich Carolyne anfangs der Unterstützung der Paulowna erfreut, die sich bei ihrem Bruder für die Beschleunigung des Scheidungsverfahrens einsetzt, fällt die »unsittliche« Dame umgehend in Ungnade, als Zar Nikolaus sich uneinsichtig zeigt. Er hält die Fürstin für eine dangelaufene Demokratin, läßt ihren Besitz beschlagnahmen und fordert sie per Dekret zur Rückkehr in die russische Heimat auf. Seither wird sie m Hof geschnitten und erhält keine Einladungen mehr. Formell hat das Hofmarschallamt ohnehin nie zur Kenntnis genommen, daß Liszt fröhlich und frei mit seiner Carolyne auf der Altenburg zusammenlebt. Bis zuletzt werden - um den frommen Schein wenigstens r sich selbst aufrechtzuerhalten? -die Briefe Carl Alexanders an seinen Hofkapellmeister im »Erbprinz« abgegeben, wo Liszt die ersten Monate nach seinem Eintreffen in Weimar gewohnt hatte. Als Carolyne die festliche Enthüllung des Dios-kurenstandbilds im September 1857 r dem Hoftheatcr aus einem Zimmer am Theaterplatz betrachten will, ergreifen bereits anwesende Damen mit allen Anzeichen des Entsetzens die Flucht. So wird die Altenburg, der Mittelpunkt des musikalischen Europa, schließlich zu einer Art liberaler Insel inmitten n »Philisterei und Residenzlerei«, wie Hoffmann n Fallersieben das konservativ-spießige Weimarer Umfeld verächtlich nennt, zum gesellschaftlich geächteten Freiraum, den man großen Künstlern gewährt, weil ohne sie die erträumte kulturelle Renaissance Weimars schlecht denkbar ist. Wie einst Goethe unterhält nun auch Liszt seinen eigenen Hof. Nicht nur Schüler wie Hans n Bülow, Komponisten wie Peter Cornelius oder Besucher wie Hector Berlioz oder Smetana verkehren hier, viele Maler und Bildhauer, Dichter und Schauspieler kommen zu den Matineen, Soireen und Künstlerfesten auf die Altenburg. Zu den Gästen zählen Gustav Freytag, Franz Grillparzer und Bettina n Arnim, Alexander n Humboldt und Hoffmann n Fallersleben, Karl Gutzkow und Clara Schumann, Moritz n Schwind und Ernst Rietschel, nicht zu vergessen der Weimarer Schauspieler und Regisseur Eduard Genast sowie Weimars damaliger Kunstpapst, der Maler Friedrich Preller.
Die Gründung des »Neu-Weimar-Vereins« durch I.iszt und August Heinrich Hoffmann, der sich nach seinem Geburtsort »n Fallersieben« nennt, zielt auf kulturelle Erneuerung durch gezielte Förderung des Musiktheaters, verstärkt jedoch durch eine Art freiwilliger Ghet-toisierung die Isolation dieser illustren Minderheit n der philiströsen Weimarer Gesellschaft wie m Hof: Union nach innen, Exklusion nach außen, so will es Liszt. Sein Freund Hoffmann legt im zehnten Vereinsgebot fest: »Bleib' Alt-Weimar für sich, wir bleiben für uns und es ist uns jeder Heimische fremd, aber willkommen der Gast.«
Der Dichter des Vormärz und des Deutschlandliedes (aber auch n »Alle Vögel sind schon da« und »Ein Männlein steht im Walde«) wurde 1842 n der preußischen Regierung seines Amtes als Professor für deutsche Literatur in Breslau enthoben und steckbrieflich verfolgt. Nach vielen Umwegen kommt er auf Vermittlung Bettina n Arnims 1853 nach Weimar und wird n Carl Alexander mit der Herausgabe eines »Weimarischen Jahrbuches für deutsche Sprache, Literatur und Kunst« beauftragt - eine Aufgabe, die als erster, wenn auch zögerlicher Schritt in Richtung der Lisztschen »Fondation Goethe« gedacht ist. Der Großherzog trägt sich offenbar mit dem Gedanken, in Weimar eine Akademie für deutsche Geschichte und Literatur zu begründen. Das macht Hoffmann Mut,
»Daß man nicht mehr Weimar die Stadt
der Toten heißt,
Sondern künftig Weimar
ls Stadt der Lebendigen preißt.«
Es währt nicht lange, und der unstete Carl Alexander verliert die Lust an dem Projekt. Es übersteigt seine Mittel, und bald weiß er mit Hoffmann nichts mehr anzufangen, zumal gegen den Liberalen bei Hofe immer wieder Intrigen gesponnen werden. Von Fallersleben verläßt 1860 das »Residenzdorf, diesen Tummelplatz der hungrigen kleinlichen Hofräte« in der Gewißheit:
»Die Firma >Goethe und Schiller< ist
Erloschen schon seit langer Frist.
Doch gibt es hier noch Krämergesellen,
Die wissen so sich anzustellen
Als wäre die Firma n altem Ruhm
Ihr rechtlich erworbenes Eigentum.
Sie bringen zu Markte sonder Scham
Ihren eigenen dürftigen Hökerkram
Und versichern den Leuten noch dabei,
Daß die Firma noch nicht erloschen sei
Einmal muß doch abgeschlossen
Unsere Glanzperiode sein;
Drum stehn in Erz gegossen
Weimars Dichter insgemein.
Drum lasse sich auch Niemand
Weiter hier als Dichter sehn:
Göthe, Schiller, Wieland und Herder
Sind genug für Ilmathen.«
Ein Jahr später, 1861, geht auch Liszt. Er folgt seiner Fürstin, die aus Rußland endlich ein Scheidungsdekret erhalten hat und es m Papst bestätigt sehen will, damit es wirksam werden kann. Aber schon 1859 hat er sein Amt als Hofkapellmeister niederlegt, weil er bei der Premiere des »Barbier n Bagdad«, einer ihm gewidmeten komischen Oper seines Schülers und Freundes Peter Cornelius, ausgepfiffen wurde. Der für Ilm-Athen unerhörte Theaterskandal, bewußt n »Alt-Weimar« gegen »Neu-Weimar«, gegen die neue Musik und die Freunde und Schüler des ungarischen Maestros inszeniert, verletzt Liszt zutiefst. Weil das Stück zur mit durchschlagendem Erfolg in München und Karlsruhe aufgeführt worden war, vermutet Liszt zu Recht, daß es sich um eine organisierte Aktion gegen ihn handele, der ja die Premiere gegen den Widerstand des Theaterintendanten Din-gelstedt durchgesetzt und die Vorstellung selbst geleitet hatte. Er erscheine den Weimarern als überflüssig, man begegne ihm allseits mit Mißgunst und sähe ihn nur zu gerne »in einer alltäglichen, spießbürgerlichen Existenz untergehen«, schreibt er dem Großherzog und spielt damit auf das beleidigende Verhalten gegenüber der Fürstin Sayn-Wittgenstein an.
Auch wenn Carl Alexander bei der Aufführung des »Barbiers« lange applaudierte, darf sich Alt-Weimar doch der Unterstützung einflußreicher Hofkreise, der Lokalpresse und der Weimarer Gesellschaft sicher sein, denen die ganze Richtung Liszts nicht mehr schmeckt und denen seine angeblich skandalöse Lebensführung seit langem ein Dorn im Auge ist. Liszt dagegen kann nur auf die Hilfe des eigenen kleinen, elitären Zirkels rechnen. Untergründig aber geht es, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, um die gleiche Frage, an der schon der Theaterdirektor Goethe scheiterte: Um die Vorherrschaft n Schauspiel oder Musiktheater an einer Bühne, der nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen. Goethe wollte das Schauspiel als Schwerpunkt und gab auf, weil die Mätresse und Nebenfrau seines Freundes Carl August mehr Singspiele und Opern durchsetzen konnte, als er für richtig hielt. Liszt will den Schwerpunkt Oper und kapituliert, weil der neue Intendant Franz Dingelstedt das Musiktheater zugunsten einer Schauspiel-Renaissance lange r dem Premierenskandal um den »Barbier n Bagdad« zurückzudrängen versteht.
Zwar söhnt sich Liszt einige Jahre später mit Carl Alexander aus. Im Alter, n Carolyne getrennt, der die Scheidung durch die Kirche nicht bewilligt wurde, kommt er während des Sommers nach Weimar, wohnt in der ehemaligen Hofgärtnerei, gibt Unterricht am Piano und nimmt kein Honorar dafür. Er ist korpulent geworden und spricht dem Alkohol zu, hat große Warzen im Gesicht und die Zähne fallen ihm aus. Weil er Tonsur trägt und die Kleidung des Klerikers, sprechen Spötter n einem Mephisto in der Maske eines Abbe. Doch sein Ruf zieht Schüler aus ganz Europa, ja selbst aus Amerika nach Weimar, die bei dem berühmtem Virtuosen in die Schule gehen wollen. Ein- oder zweimal spielt er auch bei Hofe, aber in der Öffentlichkeit hält er sich zurück. Richtungskämpfe, kulturpolitische Ambitionen, der gescheiterte Aufbruch zu einem neuen Weimar - das alles liegt hinter ihm. Gewiß ist Weimars zweite kulturelle Blüte, das sogenannte silberne Zeitalter, an seinen Namen geknüpft. Aber dieses Zeitalter verliert viel n seinem Glanz, längst ehe der alternde Maestro in der Hofgärtnerei Wohnung nimmt - schon mit seinem Rücktritt im Jahr 1859.