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Josef Winkler

Josef Winkler



1. Zu Leben und Werk




Der zweite Autor der einen Antiheimatroman und eine Kindheitsdarstellung verfasst hat, ist Josef Winkler. Winkler wird am 3.3. 1953 in dem kleinen Dorf Kamering nahe Villach im österreichischen Kärnten geboren. Er ist das vierte von sechs Kindern. Nach der Volksschule besucht er in Villach die Handelsschule, die er nicht zu Ende führt, arbeitet anschließend in verschiedenen Büros, tritt dann in die Abendhandelsakademie ein, schließt auch diese nicht ab. Er liest und schreibt schon als Jugendlicher sehr viel, kaum etwas anderes vermag ihn zu interessieren.[1]’ 1979 bekommt er ein Staatsstipendium für Literatur zugesprochen, seit 1981 ist Winkler freier Schriftsteller. 1979 erscheint auch sein erstes Buch „Menschenkind”.[2] „Der Ackermann aus Kärnten”[3], sein zweites Werk, folgt 1981. Lediglich ein
Jahr später, 1982, wird der dritte Roman, „Muttersprache”, veröffentlicht. Innerhalb von nur vier Jahren hat der junge Autor ein Romanwerk von über achthundert Seiten vorgelegt. Winkler lässt danach für kurze Zeit von seiner eigenen Kindheit als Thema ab, um sich der Kindhelt einer Bäuerin zuzuwenden, die als junge Frau während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten zur Zwangs­arbeit von der Ukraine nach Kärnten gebracht wurde. Winkler hat während eines Jahres auf ihrem Bergbauernhof gelebt, hat bei ihr als Knecht gearbeitet und zugleich die Reinschrift des „Muttersprache”-Manuskriptes angefertigt.[4] In dieser Zeit lässt er sich die Kindheitsgeschichte der Bäuerin erzählen, schreibt sie nieder und verfasst ein Anfangskapitel, in dem er seine persönliche Begegnung mit Frau Iljaschenko beschreibt. Das Buch erscheint 1983 unter dem Titel „Die Verschleppung”. Winkler lebt und arbeitet nun abwechselnd in Kärnten, Berlin, Rom. Wieder kehrt er zum Thema der eigenen Kindheit zurück: Im Frühjahr 1987 veröffentlicht er den Roman „Der Leibeigene”. So entsteht Winklers Werk aus einer Zwangslage heraus, und es bringt ihn ein permanentes Dilemma: Einer­seits muss er schreiben, kann es aber nur, wenn er sich seiner Kindheitssituation immer wieder aussetzt und sie so aktiviert, andererseits machte er aber schreibend von der schwer empfunde­nen Last seiner Kindheit Distanz gewinnen. Wenngleich am Gelingen zweifelnd nennt der Erzähler klar Selbstbefreiung als das Ziel seiner Arbeit:




Ich bin dabei, seine Kindheit, die sich zwischen zuckenden blutigen Hahnenköpfen, trottenden Pferden, tänzelnden Kalbstricken bewegte, zu ermorden. Ich werde das Kind, das ich war, umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt.[5]


„Der Leibeigene” spätestens zeigt, dass die Befreiung auf diesem Wege nicht gelingen, der Autor seelisch nicht zur ersehnten Rube finden kann.





2. Aufbau und Stil



Winklers Stil ist von äußerster Subjektivität. Es gibt keine durchgängige, regelhafte Struktur in seinen Romanen. So besteht beispielsweise „Menschenkind” aus einer Vielzahl meist kurzer und von einander unabhängiger Textsequenzen. Jede einzelne Sequenz besteht aus einem kursiv und einem normal gedruckten Teil, die bisweilen wie Bühnenanweisungen und Rollentext gestaltet sind. Ein Beispiel:




.Das Kind mit den weizengelben, lockigen Haaren spie das angeborene Blut in den Schoß seiner Mutter zurück.[6]



Immer wieder weitet er die kursiven Teile, die vermeintlichen Bühnenanweisungen also, zu eigenständigen deskriptiven oder szeni­schen Passagen aus.[7] Andererorts wieder verkürzt er den normal gedruckten ‚Rollentext’ zu einer Art Aphorismus oder zu Aussagen, die paradox oder absurd sind: „Die Angst der Ungeborenen vor den Toten.”[8] oder „Es sitzt eine Eule im Sterben.’[9]

Der ‚Ackermann’ setzt sich aus der Beschreibung der einunddreißig Häuser des Dorfes zusammen, die- entlang einer Hauptstraße und einer sich mit ihr waagerecht kreuzenden Straße aufgereiht - die Form eines Kruzifixes bilden.[10] Von jedem Haus wird gleichsam als Kapitelüberschrift die Hausnummer sowie die Anzahl der sich darin befindenden Tiere, Kinder und Kruzifixe angegeben. Die Kapitel sind von unterschiedlichster Länge, das umfangreichste handelt vom Elternhaus des Erzählers. Beispielhaft sei das kürzeste hier vollständig wiedergegeben:


„Haus 15: Kein Tier, 12 Kinder, 4 Kruzifixe”


Stoß mir das berühmte Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt, dreimal in Meaculebärde in die Brust.”[11]


’Muttersprache’ umfasst 380 Seiten ohne jegliche Einteilung, gewöhnliche Absätze ausgenommen, und ‚Der Leibeigene’ schließlich besteht aus kürzeren und längeren Textsequenzen, unterbrochen durch kürzere Zitate berühmter Schriftsteller wie E.A. Poe, Jean Genet, G. Flaubert und anderen mehr. Dabei ist zu bemerken, dass diese Zitate dem Leser nicht vermittelt werden, sie nicht mit dem vorausgehenden oder nachfolgenden Textpassus verbunden sind.


Auch die Erzählform und der Erzählerstandpunkt wechseln spontan: meist Ich-Form[12], mal abwechselnd Ich- und Er-Form[13], mal spaltet sich der Ich-Erzähler auf in Erzähler und einen Protagonisten, den Transvestiten Jakov Menschikov, den man aus dem Kontext als mit dem Ich-Erzähler identisch ausmachen kann[14], mal wird der Ich-Erzähler zum Embryo im gläsernen Bauch‚ seiner zukünftigen Mutter und schildert von dort aus, was er
sieht, denkt, fühlt and tut, mal verdoppelt sich der Ich‑Erzähler und sieht sich zum Beispiel von oben.

Dabei bemüht sich der Autor keineswegs um eine klare Trennung zwischen der Perspektive des Erzählers und der jeweiligen Figur. Vielmehr werden Ich-Erzähler und beschriebene Figur plötzlich eins, die Figur des Ich-ErzähLers ist in ihrer Perspektive zu einem Amalgam aus Erzähler/Autor und Figur geworden.

Ein weiteres Merkmal Winklerscher Prosa ist die Absenz jegli­chen Handlungsfadens und jeglicher Chronologie. Es wechseln sich sachliche Beschreibungen und Erinnerungen ständig ab mit Assoziationen, Phantasien, surrea­listischen Visionen, Trauminhalten. Diesen Redefluss unterbrechen bisweilen Gebete, Lieder, literarische Zitate. Insgesamt handelt es sich bei Winklers Stil um eine radikale stream-of‑
consciousness-Technik.

Auch dort, wo Winkler nicht direkt religiöse Sprachmuster über­nimmt, ist sein Stil geprägt von der sakralen Sprache. Schon aus einem tief gläubigen Haus stammend, war Winkler zudem acht Jahre lang Ministrant[15], sein Denken und sein Sprechen sind bis ins Innerste durchdrungen von der katholischen Vorstellungswelt und ihrem Kultus. Diese oft endlos erscheinenden Reihungen, dieses gleichförmige Hersagen von Sätzen erinnert sehr an die Monotonie der Litanei und des Rosariums. Jahrelang hat Winkler gelernt, Gebetstexte automatisch, selbstvergessen herzusagen.

Der Autor legt keinen Wert auf Trennung von Realität und Phantasie, von Logischem und Sinnwidrigem. Diese Vermischung ist gewollt: „Dieses poetische Chaos ordnen hieße, meine Welt in Unordnung bringen.”[16] Das Widersinnige in seiner Kunst entspricht den Poradoxien seines Lebens.



























3. Figurenkonstellation: Vater, Sohn und Mutter



Schon die Romantitel „Menschenkind”, „Muttersprache” und ”Ackermann aus Kärnten”(eine Bezeichnung für den Vater) weisen darauf hin, dass auch bei Winkler das Verhältnis zwischen Kind und Eltern zu den zentralen Themen gehört. Um auf Elemente des negativen Heimatromans einzugehen, gehen wir in einem ersten Schritt von der Familiensituation der Protagonisten aus.Der Vater wird als ein recht einfacher Mensch beschrieben. Beten und Arbeiten, nach diesem Grundsatz verläuft sein Leben. Die starke Verwurzelung in dieser Ordnung bringt Winkler bildhaft zum Ausdruck. Im „Leibeigenen” wird der Bauer, wenn er im Stall arbeitet, stets mit einer Monstranz beschrieben, die er sich mit einem Riemen auf den Kopf bindet. Die Oblate symbolisiert dabei aber nicht den Leib Christi, sondern den seines eigenen Vaters:


Morgens und abends während der Stallarbeit trägt der achtzigjährige Ackermann eine goldene Monstranz auf seinem kahlen Kopf, die unter seinem bärtigen Kinn mit zwei getrockneten Stutennabelschnüren befestigt ist. In der Lunula der Monstranz steckt eine geweihte Hostie, auf der nicht der Leib Christi, sondern der Wasserzeichenkopf
seines Leiblichen Vaters eingepresst ist. Die Stalltiere sind sein Heiligtum, und der seit über zwanzig Jahren in der Friedhofserde modernde Leib seines Vaters ist sein Allerheilligstes.[17]


In diesem Sinne erzieht der Vater seine sechs Kinder. Schimpfend und schlagend versucht der Vater, den Sohn dennoch zu einem strammen Bauernburschen herzurichten. Bei Josef, dem Sepp’, gelingt ihm dies jedoch nicht zu seiner Zufriedenheit. Der Sohn, bleich, mager und feingliedrig, ist in den Augen des Vaters ein Versager:


Jeder spottete über seine Blutarmut, er wird nicht lange leben, aber seine Mutter liebt ihn trotzdem. Alle spotteten sie über mein Gesicht und meine schwächliche Gestalt, die Brüder wie der Knecht vom Nachbarhof, er soll Schnaps trinken und Polenta essen, sonst wird nichts aus ihm, Speck soll er essen.[18]


Die Szenen körperlicher Züchtigungen mit, denen der Vater den Sohn zu einem Jungen nach seinem Bilde machen will, durchziehen alle Texte Winklers. Oft gibt ihnen der Autor die Form von Alpträumen oder Apokalypsen und erzielt damit eine starke, bedrohliche Wirkung:


In den blutunferlaufenen Augen der Kuh lächelt das Zahnfleisch des Vaters. Die Strohhalme sind voll gelben Eiters. Die dunklen Augen des Vaters voll schwarzer Pest.
Seine Gesichtshaut wird zu einem Stoppelfeld, über das Pferd und Kind die legendären Spuren ziehen. Seine Zähne ackern in einem Schwarzbrotstück. Sein Hass überzieht den
Rücken des Kindes. Eine blutende Hand teilt seine Seele wie der Priester den Leib Christi halbiert und Zwillingen in den Mund schiebt. Der Hass rudert in ihm, als ob er von einem Leben verfolgt würde, das einen Schiffsanker über dem Kopf immer schneller dreht, bis seine Ackerhand ausschlägt und auf den Rücken des Kindes kracht. Seine Finger halten die Wirbelsäule des Kindes umschlungen, das sich aufbäumt, schreit, der Körper des Vaters stolpert vor, blutiger Speichel tröpfelt von den Lippen des Kindes, es wirft den Kopf hin und her. Die Mähne seiner Haare steht lotrecht über dem Staub des Gottes meiner Kindheit, der in schneller Reihenfolge Kruzifixe aus den himmelgebärenden Wolken wirft, bevor das Kind, von den fürchterli­chen Schlägen zu Boden getrampelt, stöhnt und nach den wassertrinkenden Hähnen und der Mutter ruft. Der tobende Vater verliert Samen, mit ausgestreckten Händen eilt die Mutter herbei, das Geschlecht des Kindes ist vor lauter Schmerzen wieder steif geworden. Am Ende seines Leibes hockt der Tod, gefiedert wie ein Hahn, aus dessen abgeschnittenem Hals das Blut der hungrigen Dorfkinder tropft.[19]


Auch stumme Verurteilungen setzt der Vater erzieherisch ein, und auch in Winklers Beschreibung zeigt sich, nicht zum erstenmal, dass ablehnende Gesten oder Worte nicht harmloser mind als physische Gewalt:


Als du mich schlugst und dein Schlagen nichts half, hast du, anstatt mich zu töten, mit deinem halbsteifen, nach Erde riechenden Finger auf das Kruzifix gedeutet: das war schlimmer, als ich seinen Tod empfunden hatte. Ich habe auf meinen Tod gewartet, allein die Vaterhand wäre würdig gewesen, mich zu töten.[20]


Der Sohn antwortet auf die Ablehnung durch den Vater ambiva­lent: Trauer, Selbslehnung, Schuldgefühle und Todessehnsucht wechseln mit Aversion, Größenphantasien und Distanznahme zur Familie. Aber auch in der Unterwürkeit steckt ein Anteil des Aufruhrs:



Immer wieder stellte ich mir vor, David zu sein, der Goliath, den Vater, zu Boden zwingt. In den Staub fiel ich, um mich über den Vater zu erheben.[21]


Aber auch aggressive Rachephantasien erzeugt der Vater durch seine Strenge beim Sohn. Schon als kleiner Junge distanziert sich Josef von seiner Herkunft, möchte er kein Bauernkind sein. Einen großen Erfolg bei dieser Abgrenzung von der Welt des Vaters verbucht er, als, er Ministrant, später gar Erzministrant werden kann:


Ich habe diese () Welt, in die ich wuchs, nie begreifen können. Ich habe gegen sie gekämpft, ich habe sie, so gut es ging, vernichtet. Ich machte mich zum Lieblingskind des Priesters. Acht Jahre lang war ich mein Ministrant, als Diener des Dieners Gottes Gott näher ls den Menschen des Dorfes, näher als jeder andere Mensch im Dorf. Ich war Gott näher als ein Sterbender in seinem Todeskampf.[22]


Als Ministrant ist er nicht mehr der unfähige, versagende, kränkliche Bauernsohn. Als dem Diener des Priesters muss ihm der Vater den bisher verweigerten Respekt zollen, so wie es das ganze Dorf tun muss. Nun steht er über dem Vater und kann die
Kränkung durch den Vater kompensieren, indem er verächtlich feststellt, dass der Vater der eigentliche Versager ist:


Eigentlich war er nicht einmal fähig, mich als lebendiges Werkzeug der Hoferhaltung zu missbrauchen. () Ich war in der Kirche, in der Sakristei, im Pfarrhof, nie wagte es der Vater, mich von diesen heiligen Stätten zu holen.[23]


Die Mutter empfindet er als eine Helferin, die ihm im Kampf gegen den Vater bisweilen beisteht:


() und noch bevor seine Hände oder seine Blicke nach mir langten, kam die schützende Hand der Mutter, ihr Körper, den sie vor meinen stellte, um den Schlag, der mir gegolten hätte, aufzufangen. Willst du den Buben erschla­gen? Sie stellte sich schützend vor mir auf, wie Winnetou seine Hände ausbreitend vor Old Shatterhand stand, als die Kugel für den Weißen dem Indianer in die Lunge drang. Mutter, du hast mich geliebt, bevor ich gezeugt worden bin. Und in dir bin ich gestorben, mein Vater, ehe mich meine Mutter auf die Welt gebracht hat.[24]


Die Beziehung des Kindes zu Mutter und Vater stellt Winkler als ödipalen Konflikt dar, er träumt davon, die Mutter ganz alleine zu besitzen:


Schlag mich, dann siehst du mich nicht mehr, rief Mutter unter Angst und ging ein paar Schritte zurück. Schlag sie, Vater, schlag sie, dann gehen Mutter und ich
endlich von dir fort. Spitzbübisch verdrehte ich meinen Kopf und blickte der schweigsamen Mutter ins Angesicht.[25]


Das Beziehungsdreieck Vater-Mutter-Kind ist ein dominantes Motiv in Winklers Antiheimatliteratur. Dabei genießt das Verhältnis zwischen Vater und Sohn Priorität. In vielen Variationen wird das Thema der Züchtigung und Erniedrigung des Sohnes durch den Vater gestaltet. Der Junge, verbündet mit der Mutter, reagiert darauf mit Unterwürkeit, aber noch mehr mit Kampf. Die stark metaphorische Darstellung der Gewalt macht die gefühlsmäßige Not und existentielle Gefahr, in der das Kind lebt, für den Leser besonders eindrucksvol:


Als Kind umarmte er Vogelscheuchen und verliebte sich in tote Tiere, da ihm sein Vater den elterlichen Tod ver­sprach. Allabendlich läuteten Totenvögel mit ihren schril‑ len Rufen seinen Schlaf ein. Seine Mutter hielt ihm die Hand bis zu dem Augenblick, wo er in den Schlaf hinabsank, im Traum aufschrie, die Hände nach seiner Mutter ausstreckte, die den Kopf über die tiefe Grube seines Schlafes und seiner Träume gebeugt, gelassen dem fallenden Kind zusah. Die Wipfel der Fichten vergrößerten sich immer mehr. Ein nadelbehangener Ast schlug ihm geradewegs auf die Wirbelsäule. Der Vater knechtete wieder mit den Dreschflegeln seiner Erdbrockenhände den Leib des Kindes. Pferde wieherten, Haferkörner tröpfelten von ihren Lippen, ein Pflug scherte aus, die Mutter schrie Worte der Zärtlichkeit, der Vater schlug, liebend den Kalbstrick, hassend das Kind.[26]





Die Gottesfurcht



Es wurde schon erwähnt, dass Josef während acht Jahren Ministrant gewesen ist. Der Glaube und die Kirche spielen in seiner Kindheit eine große Rolle. Die folgenden Ausführungen dienen dem Versuch zu erfassen, welche Rollen Winkler dem Glauben und der Institution Kirche in seinem Dorf, seiner Familie und seiner persönlichen Kindheit zuweist.

Das ganze Dorf wird bei Winkler als ein klerikaler corpus dargestellt. Schon die bauliche Anlage der Gemeinde zeugt davon uns strukturiert auch einen Roman Winklers, den „Ackermann”:



Die geographische Anatomie unseres Dorfes lässt sich mit einem Kruzifix vergleichen. In der Mitte, wo sich senkrechter und lotrechter Balken treffen, ist das Herz des Kruzifix, der Knotenpunkt meines Romans, mein elterliches Bauernhaus.[27]



Das Leben der Dorfleute, so schildert Winkler, ist vollständig konfessionell bestimmt.

Der Priester rangiert weit über jeder weltlichen Autorität:



Der Priester, Halbgott und Träger der Autorität der Leiden Christi, hält mit seinem messerscharfen, überkreu­zenden Segen das Dorf in seiner Hand, die auch die Hand Gottes ist.[28]


Die kirchlichen Riten prägen das kulturelle Leben des Dorfes: Weihnachten, Ostern, Passionsspiele, Prozessionen, Taufen, Beerdigungen, der tägliche Gottesdienst.[29] Auch das Elternhaus Josefs ist mit Zeichen des Glaubens ausge­stattet. Es gibt, wie in allen Häusern des Dorfes, den Herrgottswinkel in der Stube, eine Ecke des Raumes, in der ein Kruzifix mit des gekreuzigten Christus an der Wand angebracht
ist. Oft ist der Winkel blumengeschmückt und gleicht so einem Hausaltar. Über dem Ehebett der Eltern hängt ein grün fluoreszierendes Kruzifix, das somit auch nachts sichtbar ist. Im Kinderzimmer hängen Heiligenbilder, die Kinder tragen goldene Schutzengel als Anhänger um den Hals. Die Familie, so zeigt sich, lebt in völliger Übereinstimmung mit dem katholischen Glauben, und die Kinder werden in dieser Hinsicht streng und vorschriftsmäßig gehalten.

Es lassen sich fünf Aspekte ausmachen, unter denen man Winklers Beschreibung des komplexen Themas der Religion in seiner Kindheit systematisieren kann: Tod, Schmerz, Schuld, Angst und Macht.Der Aspekt des Todes ist gewiss der wichtigste. Winkler gestaltet seine Kindheit als eine vom Tod beherrschte. Seine frühesten Kindheiterinnerungen sind die aufgebahrte Leiche der Enznoma sowie abgeschlagene Hühnerköpfe, die zuckend auf dem Misthaufen lagen, wenn die Mutter Hühner schlachtete .Josefs herzkranke Mutter spricht von Sterben, die Großmutter spricht ständig von den „Totenvögen” und erzählt dem Kind Geschichten von Tod und Teufel”, der tote Christus ist auf den Kruzifixen überall in Haus und Dorf anwesend, als Ministrant besucht er mit dem Priester Sterbende und Tote der Tod ist in der Kinderwelt Josefs allgegenwärtig.Mit dem Tod verbunden ist die Angst vor ihm, dem Teufel und dem Fegefeuer. Lädt das Kind Schuld auf sich, begeht es Sünden, so fühlt es sich vom Teufel bedroht und verfolgt, fürchtet es um sein Leben. Diese Bedrohung bewirkt große Lebensängste.

Auch erlebt er, dass Tote geehrt, geliebt und beweint, nicht wie er, der er lebt, verspottet, geschlagen und beschimpft werden. So bittet er Gott zwar im Gebet um Gesundheit, kennt aber auch die Sehnsucht nach dem Tode. Diese Vermischung von Tod und Leben ist ein wesentliches Strukturmerkmal von Winklers Texten bzw. der Gedankenstruktur des Protagonisten:


Weihwasser trank ich und glaubte an die Kraft Gottes, ich bat ihn, dass er meinen Leib und meine Seele, mein ganzes Leben gesund erhalten möge, aber manchmal wünschte ich mir umgekehrt, bald zu sterben, um endlich geliebt zu werden.
Immer nur soll ich mich in die Strohpuppe, ins Kruzifix, in die Maria, die ihren toten Sohn Jesus auf dem Schoß hält, verlieben, immer nur in die toten Gestalten, in die
Hostie soll ich mich verlieben, in sie hineinbeißen. () Der Priester hat von einem Paradies gesprochen, vom Leben nach dem fleischlichen Tod, es soll so schön dort
sein, es ist für mich wohl besser, ich gehe hinüber zu den anderen, die mich lieben, wenn ich am Leben, und nicht erst, wenn ich tot bin, Mame, ich geh rüber auf die andere Seite, geh du ein Stückchen mit ().[30]


Besonders Jesus ist ihm Beleg dafür, wie Tote geliebt werden. So spricht der Erzähler zu seinem Vater:


() wie der Priester das Kruzifix, so müsstest du mich lieben. Statt mich zu schlagen, hättest du mich anbeten müssen, denn ich bin ein Mensch, und er ist aus Holz.
Neidig war ich dem Gekreuzigten, der Priester hat ihn angebetet, die Gläubigen, du, die Mutter. () Warum liebtest du den Gekreuzigten mehr als den Menschen.[31]




Mit der Figur des Christus ist für Josef auch eine Stilisierung des Leidens und des Schmerzes verbunden. Das unterdrückte Kind lernt, dass der Erniedrigte erhöht wird, zu Macht gelangt, und es bezieht das Beispiel auf sich. So wird Schmerz auch zu etwas Schönem und Lustvollem. Josef liebt es, sich als Christus zu phantasieren, der sein Kreuz unter Qualen zum Golgathahügel trägt und dabei von der Dorfbevölkerung bestaunt wird. Macht und Religion, diese Verbindung ist lebendig in der Person des Dorfpriesters, der als Beherrscher, als „dornengekrönter Häuptling” des Dorfes beschrieben wird. Indem es dem Jungen gelingt, Ministrant zu werden, hat er Teil an der Stärke und genießt die Bewunderung der Dorfleute: „Ich war im Dorf zum Baten und Vertreter des Pfarrers avanciert. Es gab niemanden im Dorf, der keinen Respekt vor mir hatte.” Macht als Ministrant, Ohnmacht und Todesangst als Sünder, Schmerz und Tod als Erniedrigung und zugleich Erhöhung, so lassen sich in einer ersten Annäherung die Aspekte der Religion in den Kindheitserinnerungen Josef Winklers zusammenfassen.



5. Das kindliche Weltgebäude



Dieses Unterkapitel geht der Frage nach, welche Wechselwirkungen sich aus den familiären und religiösen Faktoren der Kindheit Josefs entstehen? Welche Einflüsse haben sie auf das Denken, Fühlen und Verhalten der kindlichen Persönlichkeit?

Es wurde gezeigt, dass in der Kindheitsautobiographik Winklers die Beziehung zu den Eltern vor allem zum Vater - sowie der kulturelle Rahmen, die Religion, als thematische Schwerpunkte erscheinen.

Als Fundament der kindlichen Persönlichkeitsstruktur gilt dabei die Beziehung des Knaben zum Vater. Josef erlebt seinen Vater als allmächtigen Mann, Herrscher über Haus, Mensch und Tier. Ihm ist er ausgeliefert:



eingekreist von den zuckenden Hahnenköpfen, dem Kruzifix an der Stallmauer, dem dampfenden Mist und Dinge und dem knirschenden Sandhaufen, dem Grabstein deiner Verwandten, der noch heute verkehrt an der Rückseite des Hauses lenht, der Tür des Klosetts und dem Eingang deiner Mühle standen wir wie Sträflinge im Hof, hier schlugst du mich, und ich fiel zu Boden, erhob mich wieder, hatte den gestreiften Schlafanzug am Leib, die Nummer vier, das viertgeborene Kind, ich wollte liegenbleiben, aber du zerrtest mich hoch, hattest vielleicht Angst, dass ich sterbe, ich spürte den faulen Atem deines Mundes an meiner Nase (), aber deine Faust war in der Lage, einen Knochen zu teilen, einen Menschen vom Tier zu trennen, mich von dir. Mir gehörte nichts, nicht einmal mein eigenes Leben, du hattest jeden Brotgroschen in der Hand, auch seinen mageren und weißen Kindeskörper.[32]



Der Vergleich mit einem Gefängnis weist auf das große Ausmaß der Gewalt auf dem Hof. Die Verzweiflung des Kindes stammt von den Erziehungsmethoden des Vaters, nämlich verbalen Verurteilungen, Liebesentzug und den Schlägen mit dem Kalbstrick, der als Züchtigungs-, Geburts- und Selbstmordinstrument leitmotivisch alle Romane Winklers durchzieht. Diese Erziehungsmethoden brechen die kindliche Persönlichkeit. Es wächst mit Josef kein aufrechter, sondern ein ängstlicher, verschlossener und unterwürer Mensch ohne jegliches Selbstwertgefühl heran:



War ich dein elender Hund, lief ich zur Haustür hinaus und suchte nach einer Hundshütte, um in aller Ruhe schlafen und fressen zu können. Du sollst den Hund des Nachbarn schlagen, während ich in der Hundehütte meine Hände streichle, mich zu lieben beginne (). last mich wenigstens zu eurem Tier werden.[33]



Noch stärker als diese Unterwürkeif beherrscht den Sohn eine ständige Angst vor dem Vater: „Die Angst vor dem Ackermann war manchmal so groß, dass ich mich im Verborge­nen aufhalten musste, nicht nur vor ihm, sondern im Verborgenen vor mir selber.”[34] Das Kind geht unachtsam mit dem Brot um, dem geheiligten Lebensmittel. Für diese Nachlässigkeit wird er vom Vater ausgepeitscht.



Der Vater hielt Speck, Brot und Messer in seinen Händen. Der Überfluss der Armut verleitete mich dazu, eine Unzahl von Brotkrumen auf den Boden zu werfen. Vier oder fünf auseinandergebröckelte Brotstücke auf dem Boden zu meinen Füßen brachten den Kalbstrick zum Tanzen. Der Knoten war hart und genau gelegt. Das Blut kannte keine Grenzen. Der Mund schäumte, der Körper verfiel in ein epileptisches Zucken, der Kopf schlug den Holzboden bewusstlos, und aus den Heiligennägeln der Fussbretter tropfte das Blut der Mutter: Sie entriss dem Vater den Kalbstrick und drängte ihn zu den Tieren heraus..[35]

Aus Furcht vor dieser realen Bedrohung treten irrationale Angste, welche sich aus der religiösen Vorstellungswelt speisen; etwa die Vorstellung, „dass es einen personalen Tod gäbe, der den Menschen holen kommt oder der Glaube, dass Gestorbene nicht wirklich totseien, sondern als „Arme Seelen”[36] weiterle-ben oder wiederauferstehen können. In Verbindung mit diesen vernünftig nicht fassbaren Vorstellungen entstehen bei Josef Horrorvisionen. Der Junge verlernt überhaupt, klar des Wirkliche vom Eingebildeten zu trennen:



Als der Volksschullehrer im Naturgeschichteunterricht an­kündigte, dass in der nächsten Stunde nicht mehr die Kriech- und Säugetiere behandelt würden, sondern der Mensch, und dabei von einem Knochengerüst sprach, das er mitbringen würde, bekam ich solche Angst, dass ich mir überlegte, wie ich dem Unterricht fernbleiben könnte, ob ich mir in die Hand hacken oder ob ich mich am Fuss verletzen sollte. Ich wusste nicht genau, ob dieses Knochengerüst, in dem ich den personifizierten Tod sah, lebte, () oder ob dieses Knochengerüst völlig harmlos, nur eine makabre Marionette war.[37]

In gleicher Weise werden nachts die Heiligengestalten auf den Bildern lebendig und fallen über das Kind her, Flecken von Menstruationsblut der Mutter auf ihrem Bettlaken nimmt der Junge als Beweis für deren allmonatlichen Tod und anschließende Wiederauferstehung, Krähen sind die Vögel des Todes[38], Fledermäuse kommen nachts ins Schlafzimmer und saugen den Kindern das Blut aus den Adern und so fort.Die harmlosesten, einem Bauernkind vertrautesten Dinge können ihn in Panik versetzen, alles Wirkliche erfasst Josef nur noch als Personifikafionen übersinnlicher Mächte:

Als ich während einer Himbeersuche auf einer Bergwiese die Zinnkanne an einen stromgeladenen Draht stieß, bekam ich einen elektrischen Schlag in den Oberarm und glaubte augenblicklich, dass es der Teufel wäre, der sich durch die Adern in meinen Oberarm einschleuste und ausschlug. Der Teufel, rief ich vor mich hin, der Teufel, schüttelte den Arm und lief von Angst getrieben in den Wald hinein”.



Auch vor dem strafenden Herrgott fürchtet er sich: dieser könnte ihn vom Himmel herunter mit Holzscheiten erschlagen. Diese Angste, insbesondere die vor dem Teufel, werden recht eigentlich dadurch gezüchtet, dass die Eltern sie als Erziehungsmittel einsetzen und dem Kind ausmalen, wer der Teufel sei, wie er aussehe, wo er wohne und dass es selbst sich in einen solchen verwandeln oder von diesem geholt werde,wenn es nicht brav sei.[39] Auch der Herrgott, Jesus und die Engel sehen und ahneen die Sünden der Kinder. Spontan bewirkt dann das Übertreten von Geboten solche Angstphantasien:

Mit auseinandergebreiteten Handen im Bett wartete ich, bis mir das Kruzifix auf den Rücken wüchse. Immer noch blickte der Gekreuzigte auf meinen feuchten Schoß. Er hatte alles gesehen. Blutgierige, violette Engel standen
um mich, während ich mein steifes Kindergeschlecht hielt. Der Gekreuzigte wird mich strafen, er wird Knittel schmeissen.[40]



Am Nikolaustag erreicht die Angst ihren jährlichen Gipfelpunkt.
Luzifer erscheint leibhaftig in Gestalt des Krampus, der den Heiligen Nikolaus begleitet. Fällt die Jahresbilanz der Folgsamkeit negativ aus, verschleppt der Krampus das Kind in die Hölle. Die Angst der Kinder wird darin in eine Art greifbar dargestellt, die ihresgleichen sucht:

Die Brutalität des Dorfes, verkleidet in einen Krampus, der den schönen Nikolaus mit den weißen Engeln begleitet, stand vor uns in der Mitte der Küche, während sich über meinem Kopf der Uhrzeiger drehte. Ich hielt mich an der Hose des Bruders rechts von mir und an der Hose des anderer Bruders links von mir fest. Am äußersten Rand saß der Aichholzeropa, rechts saß zu äusserst der Enznopa, keiner von beiden wird den Krampus zu uns Kindern
hereinlassen, keiner. Der Krampus müsste sich schon über den Tisch beugen und mich herauszerren, aber ich halte mich links und rechts an den Hosen seiner Brüder fest, und meine Brüder halten sich an meinem linken und rechten
Oberschenkel fest. Der Krampus müsste uns alle drei auf einmal
herauszerren, aber noch kann der spitze Stock des Aichholzeropos den Krampus abwehren. () Ich soh den Geschenksack (des Nikolaus, R.F.) vor mir, wagte es aber nicht - mich aus der Umklammerung der Hosen meiner Brüder zu lösen, denn noch ist der Krampus in der Küche, es kann sein, dass uns der Nikolaus eine Falle gestellt hat. In dem Moment, wo wir nach den Geschenken greifen und hinter dem Tisch sitzen, ohne dass wir einander festhalten, fasst der Krampus nach uns und steckt uns in den Korb, den er auf dem Rücken trägt. Sofort langten meine Geschwister nach den Geschenken. Nein, wollte ich rufen, nein, Michl, halt dich fest, das ist eine Falle, wenn wir die Geschenke nehmen, dann nimmt uns dafür der Krampus mit, steckt uns in den Korb und trägt uns in die Hölle hinunter, dort leert er den Korb aus, wie die Pine vom Stadel kommend die Seegespäne vor den kotbefleckten Beinen der Kühe ausleert, haltet euch fest. Ich klammerte mich noch fester an die Hosen meiner neben mir sitzenden Brüder, zwickte in ihre Oberschenkel, wagte aber nicht aufzuschreien, sondern harrte ängstlich der kommenden Ereignisse. Bete, sonst nehm ich dich mit, drohte der Krampus, und wir, meine Brüder and meine schreiende Schwester sagten halb be­sinnungslos vor Angst das Vaterunser auf, das Gegrüßtseistdumaria, Jesukindlein komm zu mir, mach ein frommes Kind aus mir. Unsere Lippen beten, unsere Kinderseelen fielen vor dem Nikolaus und dem Krampus übereinander.[41]

Auch im Zusammenhang mit dem Leben seiner Schwester Martha ist diese Krampus-Episode in der Erinnerung Winklers von großer Bedeutung. Als der Krampus, der Teufel also, die schreiende Martha hinter dem Tisch hervorzerren will, wehrt ihn einer der Großväter mit seinem Gehstock ab. Winkler erinnert sich:

Ich sehe noch heute die Finger der kleinen Martha, die sich um den Unterarm des Aichholzeropas klammerten. Ich sehe noch heute das Pendeln ihrer Zöpfe, ihren offenen, schreienden Mund, die Tränen, die ihr aus den Augen schossen, alles sehe ich vor mir und denke daran, wie sie später, wahnsinnig geworden, im ausgestorbenen Bett des Enznopas gesessen und ähnlich, aus Angst vor einem Mann, nächtelang ununterbrochen geschrieen hat, ehe sie in die Irrenanstalt eingeliefert wurde.[42]

Winkler zeigt ein misshandeltes Kind ohne Selbstwert­gefühl,, das in ständiger Bedrohung durch die Strenge des Vaters sowie durch irrationale Angste lebt, die Wahn und Wirklichkeit in seiner Wahrnehmung ineinander fließen lassen. Es resultiert daraus eine Grundstimmung der Atemlosigkeit, des Gehetzt- und Aufgewühltseins im Leben des Kindes. Dieses Lebensgefühl versteht der Autor um so lebendiger zu gestalten, als er es nicht nur auf der Ebene der kindlichen Handlungsge­genwart wachruft, sondern ihm auch durch zahlreiche Passagen, die das Leben des Autors betreffen, weitere Authentizität verleiht.

Aber der Held erleidet nicht nur, er handelt auch. Wie bei Innerhofer stellt auch Winkler sehr ausführlich dar, wie das Kind auf seine Lage antwortet. Josef, der sich zu Recht in der Position des Unterdrückten sieht, trachtet stets nach Überwindung derselben, möchte sich und den anderen seinen Wert beweisen, kämpft um sein Ansehen. Er setzt sich zum Ziel, selbst eine Machtposition zu erreichen, dem Vater die Stirn zu bieten. Einen wichtigen Stützpunkt in dieser Strategie der Kompensation findet er in der Mutter. Sie zeigt mehr Mitgefühl für Josef und nimmt ihn auch vor dem Vater in Schutz. Wenn auch sie die Kinder schlägt, und sich Josef auch dadureh maßlos gedemütigt fühlf, weiß er doch, dass sie ihn auch liebt.[43] Herzkrank, erfüllt von Todesahnungen, steht sie mehr im Bereich des Schwachen, des Lebensuntüchtigen, dem der Vater auch Josef zuordnet: „() die Mutter war schwach und krank, der Vater stark und gesund.”[44] Sie wird somit zu Josefs Verbündeten in seinem hasserfüllten Kampf gegen den Vater:

Was ist, wenn wir ihn gemeinsam töten, du und ich,Mutter? () Wir verstecken seine Leiche im Bauch des großen schwarzen Zugpferdes. Niemand wird ihn finden. Die Polizei nicht, die Magd und auch der älteste Bruder nicht, die das Pferd füttern. Nur der Atem des Pferdes wird ein wenig nach Vaterhaut riechen.[45]

Weil er sich aber nur in der Phantasie am Vater rächen kann, quält und tötet er realiter kleine Tiere. Auch seine vielbe­schriebene Todessehnsucht wird zu einer Funktion des Kampfes gegen den Vater. Indem er sich ihm unterzieht, durch ihn zu Tode kommen möchte, erhebt er sich zugleich über den Vater.
Er ist nun das Opferlamm, der Vater der Schlächter. Wie Jesus will Josef durch Selbstopferung über seinen Feind siegen. „Dass ich der Zwillingsbruder Jesu bin, wissen wir bereits.”[46]

Auch der Ministrantendienst wird ganz im Sinnzusammenhang der Opposition gegen die Vaterur beschrieben. Erstens schützen ihn die Ministrantenkleider von direkter Gewalt des Vaters:

Wenn ich in die Zelebrationsgewänder eines Erzministranten gekleidet über den Hof ging,wagte es der Ackermann nicht, mich zu züchtigen, sondern warf den blutbeschmier­ten Kalbstrick verächtlich vor seine Beine und ging seines Weges.[47]

Der Gottesdiener steht in der dörflichen Hierarchie weit über dem Bauern. So gelingt es dem bleichen und geplagten Kind, seine Schwäche zu kompensieren und seinen Wunsch nach Macht über den Vater, über die Menschen, zumindest teilweise zu verwirklichen.

Auch der Ausbau der Phantasiewelt ist mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit, Stärke, Achtung und Liebe verknüpft. Was die Realität dem Kind verweigert, gewährt ihm seine Einbildungskraft:

Während ich auf dem offenen Anger die Milchkühe hütete, deutete die Weidenrute in seiner Hand auf einen hohen Berg, dort oben, im Schloss dieser Almhütte bin ich ein Prinz auf hohem Ross, dort gehe ich für die Liebe durch die Dornen, auch wenn ich vor den Füßen der wartenden Prinzessin verblute. Ich war immer ein Prinz mit einem Schwert, der bereit war, für die Gerechtigkeit und Menschlichkeit durch die Halle zu gehen. Ich sah mich oft sterben, in einem Sarkophag liegen mit einer goldenen Krone auf dem Kopf, und alle Menschen beweinten mich, keiner durfte mich hassen. Ich fand in meinen Fantasieschlößern, dass ich in meinem Kopf gezeugt und neugeboren wurde. Wenn meine Füße auch auf der Bauernerde ausschrit­ten, wenn ich auch mit meinem jüngeren Bruder in einem Strohbett lag und allabendlich mein steif werdendes Kindergeschlecht auf seine Wirbelsäule drückte, so dass er sich manchmal umdrehte und mich schlug, manchmal mein Glied an seinem Rücken ertrug, wenn seine Augen auch abends in der Wärme des Stalls an den Flanken der Tiere hin- und herglitten und am liebsten eine Mistgabe in ihr Herz gestochen hätten, wenn auch mein Kopf sich an den Nägeln der Dorfbachbrücke verletzte, weil ich aufstehend vergass, dass ich mich unter einer Brücke befand, ich baute in meinem Kopf eine Ersatzwelt auf, die jede andere besiegte. Von nun an atmete ich tausendfach.[48]

Die Lust, Schmerzen zu erleiden und anderen zuzufügen, ist ein weiteres tragendes Motiv der Werke Winklers. Es ist deutlich geworden, dass die ganze Welt des Protagonisten grundiert ist vom Konflikt zwischen Abhängigkeit und Schwäche einerseits, Überlegenheit und Stärke andererseits. Unterwürkeit und Revolte stellen die beiden Pole der Existenz Josefs dar. Dieser Sachverhalt findet seine Entsprechung in den Gefühlen des Helden gegenüber dem Vater, wenn dieser ihn schlägt. In der folgenden, traumartigen Textsequenz verbildlicht Winkler die Anteile der Gewalt in ihrer Ambivalenz von Lust und Leid, von Erniedrigtsein und Erniedrigen, von Ohnmacht und Macht:

Er saß auf einem kohlschwarzen Zugpferd mit langem, wehendem Schwanz. () Unter seinen abgewetzten Jeans, an den Beinen, zogen mehrere blaue, angeschwollene Nabelschnüre, Striemen körperlicher Züchtigung, wie aus dem Körper getretene Adern bis zu den Zehenspitzen, wo sich hilflose Blutstropfen gesammelt hatten. Die Beine auseinandergestreckt, hockten seine Hoden, zweikörnig, auf dem Rücken des Pferdes. Aus seinem Mund drang ein Schrei, der das Pferd antrieb. () Verrückt vor Schmerzen, lächelte
er aus seiner Brennesselhaut. Die Augen glänzten wie kastrierte Sterne, die Hoden waren fest an den Körper des Pferdes gedrückt; wie fliehende Leuchtkäfer zogen sie den kurvenreichen Weg entlang. Allein schen beim Augenaufschlag des Vaters bäumte sich das Kind auf. Mit Kalbstrickblitzen zog ein Gewitter an seinem Körper auf Als er die Finger voller Erde aus dem Boden zog, glaubte er, seinen Vater ausgegraben zu haben, der immer noch mit dem Blöken eines Kalbes den Strick wie ein Lasso über seinem Kopf schwang und nach der Halsschlagader zielte. Unbeirrt von den Schlagen stand er mit steifem Geschlecht auf und ging auf den zurückweichenden Vater zu. Das Pferd fraß Hafer, der Pflug blinkte im Sonnenlicht, die rostigen Stacheldrähte schienen sich aus Angst zusammenzuziehen und starrten aus den Feldern. Milchkühe hoben ihre Köpfe, Kälber ließen von ihren Zitzechen ab, als sie sahen, dass der Junge im Zeichen des Blutes auf den alten, den Schneepflug der Seele ziehenden Vater zuging und ihm mit einer schnellen Handbewegung den zitternden Kalbstrick entriss, die rechte Handkante wie eine Pflugschar schwer und kurz über die Brust des Vaters zog, der wie ein knickender Baum zusammenbrach - seine Seele splitterte wie ein Kalb brüllte, Pferde, Pflug und Milchkühe um Hilfe rufen wollte und schließlich mit einem stolzen Lächeln um den scherigen Mund, mit dem gelben Weizenschimmer in den Augen zu Füßen des Jungen, gekrümmt wie ein vor Angst sich zusammenrol­lender Kalbstrick, dalag.[49]

In dieses hier beschriebene Beziehungsmuster ist auch die Mutter einbezogen, auch sie liebt und quält er. Einmal beschreibt Winkler, wie sich Josef als Kind leblos stellt und damit seine Mutter erschreckt. In dem Moment, als seine Mutter sich wirklich um ihn fürchtet, empfindet er Macht über sie und muss sie demütigen - „Ich kann es nicht ertragen, dass es Menschen gibt, die über mir stehen oder unter mir sind.”[50] - indem er emporschnellt und ihr ins Gesicht spuckt. Die Mutter nimmt die Demütigung hin und freut sich nur, dass dem Kind nichts fehlt.

Josef weidet sich am Schmerz. So geht er etwa zwei Jahre lang nicht zum Arzt, obwohl ihm die Zehennägel ins Fleisch wachsen. Deutlich ordnet auch an dieser Stelle der Erzähler dieses Verhalten in einen soziokulturellen Zusammenhang ein.

Für die erlittenen Schmerzen rächt sich Josef an Tieren: „Du sollst töten, wenigstens ein Tier töten, wenn dich, du Tierquäler, dein Vater schlägt.”[51] Er verstümmelt Fische mit den scharfen Zinken der Heugabel , er zerquetscht Frösche, nimmt Schwalbennester aus und tötet die Jungen. Wie ein Gott fühlt er sich hier, denn er ist Herr über Leben und Tod.

Schließlich sind auch die Darstellungen der Sexualität durch­zogen von sadomasochistischen Tendenzen. Sie sind alle in der, Sprache der Gewalt gehalten. Von Liebe, Freude, Vertrautheit und Zärtlichkeit ist in den erotischen Szenen Winklers keine Rede. Die Gewalt in der Erziehung hat auch die Sexualität deformiert:



Wie früher unter den Züchtigungen seines Vaters, wälzt sich der Körper heute in der Lust. Mit den bösen Augen der Kindheit seines Vaters betrachtet er den stöhnenden Körper unter seinem Körper. Sein Glied peitscht immer schneller in ihren Schoß. () Sie wälzt ihren Körper in alle Himmelsrichtungen. Schmerzensschreie der Lust dringen aus dem Kindermund und betäuben die Ohren seines Alters. Die Zuckungen, die er unter dem aufpeitschenden Kalbstrick lernte, setzt er im Rhythmus des Discosounds fort. Du bist der beste Tänzer, Jo. () Der Wald steht still, dunkelgrün und schweiget. Die Luft schimmert,Bremsen und Heuschrecken setzen manchmal Punkte: Bruchteile einer quälenden Nacht, in der im groben weißen Leinen sein erniedrigter Leib ruht.[52]

Gewalt, Blut, Schmerzen und Tod sind die Assoziationen des Dichters zu den Motiven Liebe und Sexualität: „Manchmal schlug die Mutter die Kante eines Scheites auf den Kopf des Huhns, () stieß ihm das Messer in den Kragen, wühlte in ihm, wie der Vater in ihrem Schoß.”[53]

Winkler gestaltet seine Kindheit als von extremen Gegensätzen gekennzeichnet. Macht und Ohnmacht, Leben und Tod, Lust und Schmerz, Realität und Wahn. Reale und irreale Angste sowie Gewalt sind die immer wirksamen, alles bestimmen­den Grundbedingungen der Existent des Protagonisten. Es wird beschrieben, wie das Kind diese Erfahrungen macht und auf sie reagiert, in der Realität und in der Phantasie sie zu bewälti­gen versucht, hin- und herschwankend zwischen Unterwürkeit und Aufruhr, gefangen in seinen Lebens- und Todesdängsten.





6. Winklers Werke – eine schwarze Messe



Der wesentliche Zwang des Autors besteht darin, immer wieder über sich selbst zu schreiben: „Wie Ich als Kind mit der Sprachlosigkeit gerungen habe, ringe ich heute mit der Sprache. Ich muss mich mit der Sprache neu erschaffen.” Dafür aber muss er immer wieder ins Elternhaus zurückkehren: „Um wieder schreiben zu können, muss ich in die Hölle zurückkehren, aus der ich mich befreit glaubte.”[54]
Ein weiterer Zwang ist es, sich von Knaben quälen zu lassen, wie es früher sein Bruder Michael und der Vater aten: „Ob an die Sielle des Ackermanns, den sich früher quälte, die pubertierenden Knaben getreten sind? Weil mich Michael quälte, liebte ich ihn. Ich kann nicht mehr leben, ohne gequält zu werden.”[55] Er kann nicht anders, als einen lebenslangen Kampf gegen den Vater zu führen:

Groß und stark stand der Vater vor mir. Ich wusste immer dass er mein Feind ist. () Ich setze meinen lebenslangen Kampf mit dem Vater fort, wenn ich vom Militär oder von der Bürokratie rede, immer ist er miteinbezogen.[56]

Der Zwang, gegen die paternalistische Ordnung in all ihren weltlichen und klerikalen Ausformungen anzukämpfen, scheint den Grundantrieb von Winklers Schaffen auszumachen. Sowohl in den Erzählkommentaren als auch in den Kindheitsbeschreibungen durchzieht diese aggressive Opposition gegen die leidbringenden Konventionen wie ein roter Faden die Werke des Autors. Auch die Konventionen sprengende Form des Textes sowie die blasphemische Sprache sind Ausdruck dieses Kampfes, der eine verzweifelte Revolte ist, an deren siegreichen Ausgang der Aufständische selbst nicht (mehr) glaubt.Die Kindheitsszenen lassen merken, wie der Held bereits sehr früh die Außenseiterrolle annimmt, in die ihn der Vater drängt. Wenn man ihn in der Welt nicht haben will, so richtet er sich in einer Gegenwelt ein, dies scheint die latente Logik des Verhaltens Josefs zu sein. Er kann den Ansprüchen des mächtigen Vaters nicht genügen, um gibt er sich alle Mühe, diesen Ansprüchen zu entsagen. Josef will sich von seiner Blutarmut nicht kurieren lassen, er will nicht im Stall arbeiten, will kein Bauernkind sein, wünscht sich die Zerstörung der Bauernwelt, betet um Feuersbrünste und Naturkatastrophen[57], bricht den weihnachtlichen Hausfrieden so demonstrativ, dass man ihn schlägt. Dabei entwickelt er einen gewaltigen Hass gegen den Vater. In seinem Hass auf das Bauernbrot, dem heiligen Lebensmittel, fakussiert Winkler die Ablehnung der väterlichen Welt, die ihn damals wie heute gefangen hält:


() denn ich habe des eigene Bauernbrot gehasst, immer gehasst und hasse es noch heute. Niemals habe ich zur Mutter gesagt, dass ich dieses Bauernbrot hasse, ich habe das Stück Brot in die Hände genommen und andächtig betrachtet, als käme es von ihrem eigenen Leib. Ich habe mich aber auch son dem Bauerebret gefOrchfet, done ich wusste, dass es heilig ist, und vor allem, was heilig ist, habe ich mich gefürchtet, es hat mir Schrecken und Angst eingejagt, hat mich aber auch beruhigt, besonders dann, wenn ich danach wieder Sehnsucht hatte, denn auch heute kann ich ohne Schrecken und Angst nicht leben.[58]

Im religiösen Bereich feiert er auch seinen Hass, beschwört Sprachbilder der Angst und des Schreckens herauf, rächt sich an dem Gott seiner Kindheit mit gewaltigen Blasphe­mien: „Während meiner Kindheit sind meine Seele und mein Körper misshandelt worden, heute antworte ich mit einem Sakrileg.”[59] Winkler feiert in seinen Texten eine Anti-Messe, eine schwarze Messe, verwünscht und verflucht alles, wie ihm selbst als Kind heilig war. Er rennt in maßloser Wut gegen die religiösen Autoritäten an, gegen Priester, Papst, Christus, Gott und die zehn Gebote, und will alles zerstören. Nun huldigt er dem Tod, und seine Heiligen sind die beiden Jünglinge Robert und Jakob, die sich gemeinsam in einer Scheune des Dorfes erhängt haben. Sie bilden das wiederkehrende Strukturelement seiner Texte. In seinen Texten findet sich Hass auf die bewunderten Autoritäten seiner Kindheit, von denen er sich um ein glückliches Leben betrogen sieht







[1] Josef Winkler,Muttersprache, Frankfurt 1982, S. 300 ff, (nachfolgend zitiert als “Ms”)


[2] Josef Winkler, Menschenkind, Frankfurt, 1979 (nachfolgend zitiert als “Mk”)


[3] Josef Winkler, Der Ackermann aus Kärnten, Frankfurt, 1981, (nachfolgend zitiert als “AaK”)


[4] l. Dazu Winkler, Ms, S.114 f.


[5] Winkler, Mk, S. 148


[6] Winkler, Mk, S. 33


[7] l. Hierzu bspw. Ms. S. 44-50, 54,58-63


[8] Ebd., S. 55


[9] Ebd., S. 26


[10] Ebd., S. 65


[11] Ebd., S. 65


[12] l. Mk. und AaK


[13] l. Mk. und Ms


[14] l.Ms, S. 360, Le, S. 236


[15] l. S. 139


[16] Mk. S.29


[17] Le, S.45


[18] AaK, S. 175


[19] Mk, S. 143f.


[20] l. Ms, S. 341, AaK, S. 79, 107 und 240


[21] AaK, S. 140


[22] Ms, S. 66


[23] Aak, S. 117


[24] AaK, S. 126f.


[25] AaK, S. 127


[26] Mk, S. 65


[27] AaK, S. 10


[28] Aak, S.13f


[29] l. Mk, S. 121f, AaK, S. 38, Ms, S. 81 und 248f, Le, S. 201


[30] Ms, S. 58f.


[31] AaK, S. 168


[32] AaK, S. 104


[33] AaK, S. 109f


[34] AaK, S. 120


[35] Mk, S. 135f.


[36] l. Ms, S. 92


[37] Ms, S. 245f


[38] l. bspw. Ms, S. 243


[39] l. Ms, S. 272-274


[40] Aak, S. 113, Le, S. 193


[41] Ms, S. 275f


[42] Ms, S. 273


[43] l. AaK, S. 126-l31 und S. 173-l75


[44] Ms, S. 123


[45] AaK, S. 128


[46] Ms, S. 140


[47] Le, S. 259


[48] AaK, S. 178


[49] Mk, S. 160-l62


[50] Ms, S. 134


[51] Aak, S. 88


[52] Mk, S. 106f


[53] Ms, S. 74


[54] Le, S. 76, vgl. auch Ms, S. 316


[55] Le, S. 249


[56] Ms, S. 308


[57] l. AaK, S. 170


[58] Ms, S. 191


[59] AaK, S. 211








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