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Franz Innerhofer

Franz Innerhofer



1. Zu Leben und Werk



Kapitel drei und vier werden zwei österreichischen Autoren gerecht, Franz Innerhofer und Josef Winkler, die in ihren TExten das positive Bild der Heimat destruiert haben.. Es wird das diskutiert werden, was die Werke selbst an Schwerpunkten aufweisen.

Franz Innerhofer kommt im Mai 1944 in Krimml bei Salzburg (Österreich) zur Welt.. Er ist uneheliches Kind einer Landar­beiterin und deren Arbeitgebers, eines vermögenden Großbauern. Mit sechs Jahren gibt ihn seine Mutter, selbst in räumlich und materiell arger Bedrängnis lebend, zum Vater auf den Hof, wo er von 1950 bis 1961 lebt. Nach Abschluss einer Schmiedelehre besucht Innerhofer das Abendgymnasium und studiert danach Germanistik und Anglistik in Salzburg. Ein Stipendium des österreichischen Staates ermöglicht ihm die Niederschrift seines ersten Romanes „Schöne Tage”, der 1974 erscheint und seinen Autor innert Kürze zu einem bekannten Schriffsteller werden lässt. Dem Erstling schickt Innerhofer schon 1975 die Fortsetzung nach, den Roman „Schattseite”[1].1977 erscheint schließlich der dritte und vorläu letzte Teil seiner Lebensgeschichte, „Die großen Wörter”[2].Diese Trilogie erzählt Innerhofers Leben in drei großen Etappen:die elf Jahre auf dem Hof des Vaters („Schöne Tage”),die Jahre der Lehre, der Berufsschule und der anschließenden Fabrikarbeit („Schattseite”) und schließlich die Zeit der Abendschule und der akademischen Ausbildung (“Die großen Wörter”). In seinen Texten geht es um die Subjektwerdung eines eingeschüchterten Unterdrückten, dessen Entwicklung entlang der gedanklichen und sprachlichen Eroberung seiner Umwelt beschrieben ist.

Erst 1982 lässt Innerhofer mit der Erzählung „Der Emporkömmling”[3] wieder von sich hören. Man kann diese Geschichte als Fortsetzung der Trilogie insofern bezeichnen,als sie die Schwierigkeiten eines zum Akademiker Aufgestiegenen mit seiner neuen gesellschaftlichen und persönlichen Rolle zum Inhalt hat.

Für diese Diplomarbeit wurde der Roman „Schöne Tage” berücksichtigt.. Der Autor beschreibt darin seine Kindheit auf dem Vaterhof, wohin er mit sechs Jahren kommt und den er als Siebzehnjähriger wieder verlässt. Vor der Besprechung einzelner Aspekte von Innerhofers Kindheitsautobiographie soll ein Abriss des Inhalts dem Leser einen Überblick verschaffen.Innerhofer hat in einem Gespräch mit Karin Struck einmal formuliert, worum es in “Schöne Tage” geht, darum soll er hier selbst zu Worte kommen:





Holl ist ein Kind. Holl ist ein uneheliches Kind und wird, weil die Mutter selber in der Landwirtschaft arbeiten muss, zu einer Familie gegeben,die kinderlos ist, kommt von dieser kinderlosen Familie nach zwei Jahren auf einen Bauernhof, zur Mutter, -den Bauernhof führt die Großmutter, und dort zwei Jahre, und dann mit der Mutter weg, mit dem Stiefvater in einen anderen Ort, eine andere Umgebung,(), dort wieder zwei Jahre, das sind bereits drei Umwelten.Ich sag das deswegen, weil es schon zu einer völligen Verwirrung führen muss, wenn ein Kind andauernd irgendwo ‘raus und woanders hingesteckt wird. Der Holl ist mit sechs Jahren ein Bettnässer und kommt dann endgültig auf den Hof seines Vaters, weil der Vater einerseits ihn einspannen will zum Arbeiten, andererseits die Mutter auch andere Kinder hat und die Wohnung so klein ist und der Stiefvater wenig verdient. Da gibt’s dann plötzlich diesen großen Bauernhof, und es gibt diese vielen Menschen. Der Vater kommt nicht zurecht mit einen so schwierigen Kind, und er wendet einfach das alte Mittel an: Prügeln, so wie es bei ihm war und wie es auch mit den andern Kindern gemacht wurde, deswegen akzeptiert ein Mensch wie Holl,ein Kind wie Holl, den Vater um so weniger, und die Kluft ist von allem Anfang an vorhanden. Gut, da ist eine Stiefmutter. Dass eine Stiefmutter für ein fremdes Kind, das noch dazu Bettnässer ist, weniger Gefühle übrig haben wird, müsste sich auch erklären lassen, so ist dieses Kind mitten drinnen und will eigentlich immer nur weg, kann aber nicht weg,weil es immer wieder zurückgebracht wird.Es sind nicht nur der Bauer, die Bäuerin, es sind andere auch noch da, die einfach in einem Dorf wesentlich sind, es sind diese alten Funktionen, die man sowieso kennt: Pfarrer, Schuldirektor, die auch noch mitwirken, sogar die Gendarmerie auch noch, so dass man letzten Endes nicht aus kann. Deswegen habe ich auch den Begriff ‚Leibeigener’ gebraucht.”[4]



Wie es Holl, dem Kind ohne Personennamen, doch gelingt, den Weg heraus zu finden, wer und was ihm dabei wie im Wege stand, wer ihn aber auch ermutigte, welches die Bedingungen seiner Exi­stenz auf dem Hof waren und wie die dörfliche Welt im Österreich der 50er Jahre beschaffen war, all dies erzählt Innerhofer auch.







2.Erzählhaltung und Sprache





Der Held heißt Holl, er besitzt keinen Vornamen. Innerhofer war Holl, so ist zu vermuten. An der autobiographischen Aufrichtigkeit bestehen keine Zweifel. Außerliterarische Zeugnisse sowie der Wechsel in die Ich-Form im zweiten Roman “Schattseite”, sind Beleg genug. Der Kunstgriff der Er-Form vergrößert die Erzähldistanz und bewerkstelligt eine stärkere Objektivierung der Figur, des Kindes, das der Autor einst war. Er verstärkt gleichzeitig die Einsamkeit des Helden, seine Heimatlosigkeit in der Welt der Erwachsenen. Durch die Namensgebung wird auch jeder Beziehungsfaden durchtrennt, indem die Identität zwischen Held und Autor aufgehoben wird.

Der Name Holl klingt wie ein Befehl, er klingt noch „Holl” und nach ”hohl”, so als handle es sich nicht um ein menschliches Individuum, sondern um eine seelenose Hülle, die Befehle hört und ausführt. Dieser Aspekt des Unpersönlichen, der Entfremdung und der Beziehungslosigkeit unter den Menschen wird durch das Fehlen von Personenbeschreibungen hervorgehoben. Innerhofer beschreibt nie ausführlich. Gesichter und Körper von Personen, er nennt Namen, listet die Arbeiten auf, welche der Benannte verrichtet und nennt wichtige Daten seiner persönlichen Geschichte, die ihn geprägt hat. Nur darauf kommt es ihm an. Holls Aussehen wird nicht beschrieben. Er ist im Selbstgefühl zutiefst verunsichert und fühlt sich nicht einmal zu sich selbst gehörig: „Dann ging er () und glaubte, er ziehe seinen Kopf an einer Schnur hinter sich her und die Zunge schlecke die Steine ab.”[5]

Er, der einstmals Sprachlose, handhabt die Wörter mit größter Präzi­sion, keines wirkt unüberlegt, zweideutig oder gar überflüssig, Sein Stil ist nicht weitschweifend sondern sparsam, kühl und konkret. Oft gewinnt er den Wörtern ihre ursprüngliche, Bedeutung zurück, indem er Ausdrücke
leicht abwandelt. So heißt es etwa einmal in Abwandlung der Redensart „etwas verschlägt einem die Sprache”: „Fuhr der Bauer weg, atmeten alle auf, blieb er da, schwiegen sie, weil er ihnen durch seine bloße Anwesenheit einfach die Sprache verschlug.”[6] Innerhofer gibt sich also nicht mit dem verschwommenen und verwischenden ‘es’ des Originalausdruckes zufrieden, er schafft Klarheit, wird konkret. Es ist der Bauer, der wirkt, kein ‚es’, und diesen Sachverhalt deckt der Autor auf. Durch dieses Namhaftmachen kommt auch die Bedeutung des Schlagens im Verb wieder zum Vorschein und entlarvt so den Vater als (hier verbalen) Schläger. In dieser Weise hinterfragt und zergliedert Innerhofer die Wörter, er ist misstrauisch ihnen gegenüber. In gleicher Absicht spricht er an anderer Stelle nicht lediglich von wahnsinnigen Frauen, sondern präzisiert: „Um den Hof 48 herum gab es sieben religiös wahnsinnig gemachte Frauen.” Innerhofer kennt die Rolle der Sprache als Instrument von Herrschaft und Verschleierung ungerechter Zustände, und er beschreibt auch, wie Holl langsam lernt, das zu begreifen:



Er () denkt auch das Wort Schicksal. Ist das das vielgenannte Schicksal? Bin ich jetzt ein Opfer des Schicksals? Er untersucht das Wort, und es löst sich auf, in Menschen, die über ihn verfügt haben und noch verfügen, im Unverstand und mit absichtlicher Bosheit.[7]



Auch dort, wo Innerhofer mit Bildern und Vergleichen zu Werke geht, ist ihm an der Verdeutlichung des Umschriebenen gelegen:



() sein Zustand wurde einfach aus dem Tal weggedacht, wie die Behörden alle üblen Zustände einfach wegdenken. Das Offensichtliche existierte für sie gar nicht. Kein Holl-Zustand. Kein Maria-Zustand. Kein Moritz-Holl‑Huber-Lechnerleibeigenen-Zustand.[8]



Diese Sprachverwendung, welche das Alltägliche und daher nicht mehr Hinterfragte unerwartet in kritischem Licht erscheinen lässt, beherrscht Innerhofer. Die Beschreibung scheinbar harmlosester Arbeitsgänge geraten auf diese Weise zu scharfer, beißender Kritik an den Zuständen: “Es war noch August. Rund um den Vater hatten sich die Menschen in Arbeiten gestützt, an denen ihre Vorfahren schon zugrunde gegangen sind.”[9] Der Nebensatz gibt dem Geschehen einerseits seinen gesellschaftlichen und historischen Rahmen. Andererseits erzeugt er rückwirkend eine starke emotionale Wirkung in bezug auf die gemeinhin positiv besetzte Wendung ‘sich in die Arbeit stürzen’. Diese Redensart bekommt die Konnota­tion des ‚Sich-ins-Verderben-Stürzens’, und in Verbindung mit dem Verb ‚zugrunde gehen’ wird das Bild von der Landarbeit als einem tödlichen Abgrund evoziert, zu dem sich seit Jahrhunder­ten die Besitzlosen unter der Landbevölkerung ‚vorarbeiten’.

Man könnte die „Schönen Tage” als Bildungsroman lesen. Der chronolo­gische Faden ist äußerst dünn und nur bei genauester Lektüre freizulegen. Die Tatsache, dass Holl diesem „Bauern-KZ”[10] schließlich entrinnen kann, wirft die Frage auf, wie Holl das unter den gegebenen Gewaltverhältnissen überhaupt schaffen konnte. Eine Antwort, die über Allgemeines hinausgehen soll, bedarf der Interpretation des Textes, sie ergibt sich keines­wegs einfach und schlüssig aus dem Handlungsgerüst des Romans and auch nicht aus seinen kommentierenden Passagen, wie es bei einem Bildungsroman doch von der Konzeption her zu erwarten wäre.
Ein weiterer Aspekt grenzt „Schöne Tage” vom traditionellen
Bildungsroman ab: Innerhofer bringt immer wieder zum Ausdruck, dass es ihm nicht nur um die Beschreibung seiner eigenen Kindheit geht, dass vielmehr unzählige Menschen seit vielen Generationen so gehalten werden und dass Holl nur einer von vielen ist. Der Autor sieht sich als Vertreter einer sozialen Schicht, wie es folgend Sätze beweisen: „Holl war eingeschüchtert und stumm bis zu den Zehen wie alle Leibeigenen.”[11]

Was Holl einzig von anderen Figuren unterscheidet, ist sein Widerstand gegen die Gewalt. Während dieses Arbeitseinerleis entwickelt er innerlich derartigen Hass, dass er keinen Moment zögert, nach seiner Schulentlassung das Weite zu suchen. Und nicht zuletzt haben wir am Schluss nicht einen versöhnten, sondern einen hassenden Sohn vor uns. Holl trägt schwer an seiner Kindheit, von innerem Gleichgewicht, von einem Ausgleich zwischen Ich und Welt kann keine Rede sein, nicht nach Verlassen des väterlichen Hofes, nicht nach Abschluss der Lehre, nicht als Akademiker und auch nicht als erfolgreicher Schriftsteller.
Innerhofer beschreibt eine Welt, die strukturiert ist durch Herrschaft zum Zwecke der Ausbeutung. In dieser Welt leben zwei Sorten von Menschen: Herrscher und Ausbeuter auf der einen, Ausgebeutete und Beherrschte auf der anderen Seite. Holl, das Kind, gehört zur zweiten Kategorie, und Holls Geschichte zeigt, wie es sich für das Kind anfühlte, als geknechteter Mensch auf Hof 48 zu Leben.

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Romans kreisen alle um diesen
thematischen Kern. Die wichtigsten Motive sollen nun dargestellt und untersucht werden: erstens das Verhältnis Holls zum Vater, zweitens der Aspekt der Sprache, drittens die Motive Arbeit und Natur und schließlich das außerfamiliäre soziale Umfeld.





Herrschaft und Knechtschaft, Vater und Sohn



Holl kommt als sechsjähriger Knabe auf den Hof seines Vaters. „Im Mai 1950 war es dann soweit. Holl war sechs Jahre alt. Ein Bettnässer. Ein trotziges Kind”.[12] Es ist wichtig festzuhalten, dass Holls Individualität schon in den ersten sechs Jahren wesentliche Ausprägungen entwickelt hat. Mit sechs war er schon ein furchtsames, verwirrtes Kind, das mit der Welt nicht zurechtkam, wie eine Beschreibung seiner Lebensphase mit Mutter und Stiefvater zeigt:



Draußen die Kinder, neugierig und grausam, drinnen die kleine Wohnküche,(). Kaum zu essen. Der Stiefvater verdiente lächerlich wenig. Die Mutter war schwanger. Wenn es nicht regnete oder sehr kalt war, musste Holl tagsüber hinaus, raufen. Anfangs kam er meistens bald zerrissen zurück, er ging aber nicht hinauf in die kleine Wohnküche, sondern setzte sich in einen Winkel und ließ sich entdecken, schimpfen, prügeln und in die Waschküche sper­ren.[13]



Diese verstörte und auch störrische Passivität gegenüber der Umwelt und den Erziehungsmaßnamen der Erwachsenen bringt Holl schon mit auf Hof 48 in dem Dorf, das Innerhofer sinnig Haudorf nennt. Auch auf diese neue Welt reagiert Holl mit Verwirrung und Verweigerung:



Holl kannte sich hint und vorn nicht mehr aus. (…) Personen, die er noch nie gesehen hatte, gaben ihm plötzlich Befehle. Er gehorchte nicht. Er wehrte sich. Er wollte nicht neben dem Vater essen. Er wollte überhaupt nicht essen. Um nicht den strengen Blicken des Vaters ausgesetzt zu sein, lief er ihm davon. () Der Vater schlug ihn. HoLL widersetzte sich. Der Vater schlug ihn, schlug ihn wieder und wieder, bis Holls Widerstand nachließ, bis er aufgab, bis er windelweich war.
Zwei Wochen hat der Bauer dafür gebraucht.[14]



Die Reaktion des Vaters auf die Anpassungsprobleme seines Sohnes an dessen neue Umgebung besteht in gewaltsamer Brechung des kindlichen ‚Eigensinnes’. So geht es in einem fort, Schläge sind Holls tägliches Brot vom ersten Tag an. Die Erniedrigung des Kindes geht so weit, dass Holl um die vom Vater in ritueller Form durchgeführten Züchtigungen bitten und sich danach dafür bedanken muss. Der Sohn muss also die Schläge expressis verbis als von ihm gewünscht anerkennen.[15]

Es erstaunt nicht, dass Holl weiterhin stark bettnässt, es ist das Weinen des Kindes durch die Blase. Am Tage darf er nicht weinen. Hat der Vater ihn gezüchtigt, verlangt er von Holl, dass er sich „mit lachendem Gesicht”[16] wieder unter die Menschen mischt. Das Bettnässen trägt ihm eine stumme Verachtung durch die Stiefmutter ein, sowie den Hohn der Mägde. All dies zerstört Holls Selbstwertgefühl und stürzt ihn in Verzweiflung:



Holl starrte in die Finsternis und verfluchte wieder einmal seine Geburt. Aus dem tiefsten Schlaf hatte es ihm plötzlich die Augen aufgerissen. Er spürte bis zu den Schultern hinauf die Nässe und wagte vor Verzweiflung kaum zu atmen. Die Glieder waren wie tot, während der Kopf von einem Augenblick auf den andern hellwach und voll mit Schuldbewusstsein angeräumt war. Dieses Daliegen in seinem eigenen Urin war so schrecklich, (). Es vernichtete ihn jedesmal. Wenn er eine Vorstellung vom Jüngsten Gericht hatte, die Vorstellung vom schrecklichen Elend, dann waren es solche Tagesanfänge. () Er wollte aus seines Körper heraus und weg. Er hasste sich.[17]



Auch die Schule
kann er nicht nach Belieben besuchen, die Schulpflicht existiert in diesem Bauerndorf nur theoretisch. Braucht der Bauer den Jungen auf dem Feld, schickt er ihn zum Arzt, der ihn willig für Wochen krank schreibt. Hausaufgaben darf er nur entweder am Abend oder am frühen Morgen machen. Nach fünf Jahren auf Hof 48 charakterisiert der Autor den Knaben als des Bauern



() eingeschüchterter, verängstigter Sohn,der nicht redete,der auf einen Blick hin gehorchte, der um diese Zeit ein lächerlicher Mensch war, ein ELFJAHRIGER, von dem die Leute sagten, er werde einmal als Knecht auf den 48er Grundstücken sterben.[18]



Es stellt sich die Frage, was der Autor als Zweck dieser Herrschaft angibt. Wozu „wurde Holl einer Dressur unterzogen, auf Schritt und Tritt beherrscht?” Der Bauer sagt, er habe stets das Anliegen gehabt, aus Holl einen anständigen Menschen zu machen. Holl aber sieht hinter dem Tun des Bauern nichts anderes als den .


() aus ihm (Hall, R.F.) einen vollkommen willenlosen Menschen zu machen, wie ihn sich der Vater () in den Kopf gesetzt hatte, nur um das bisschen Geld, dass den Bauern eine geschundene Arbeitskraft kostete, auch noch zu sparen.[19]



Somit wird Holls Welt als eine Welt der allumfänglichen Unfrei­heit zum Zwecke der Ausbeutung seiner Arbeitskraft geschildert. Beherrscht wird sie uneingeschränkt von Holls Vater, welcher die Rolle der personifizier­ten Negation seines Sohnes einnimmt.

Das Kind reagiert mit Selbstbezichtigungen, Schuldgefühlen, Verzweiflung and Suizidgedanken. Der Sohn internalisiert die harte Verurteilung seiner Person durch den Vater. Folgende Stelle illustriert diese seelische Verfassung des erst elfjäh­rigen Kindes auf eindrucksvolle Weise:



Es ist das fünfte Frühjahr. Die Erde dreht Haudorf in den Tag. Der Himmel ist grau. Es regnet. () Holl () friert, aber es ist ihm gleichgültig, dass er friert. () Es macht Holl auch nichts aus, dass es regnet, dass ihn der Rappe auf und auf mit Dreck bespritzt, während er vor dem Rappen herwatet, weil er sich selber wie ein Misthaufen vorkommt. Er ist Lügner, Bettnässer und Kruzifixschänder in einer Person. () Durch das hinterste Stubenfenster sieht Holl im Vorbeigehen seine Leintücher. Das Essenläuten erfüllt ihn mit Entsetzen, weil er weiß, dass alle bei Betreten der Stube sofort die Leintücher sehen. Nach dem Essen geht er erniedrigt aus der Stube und füttert die Pferde. Er spürt nicht einmal, dass es regnet. Er denkt zum erstenmal an Selbstmord.[20]


Schuldgefühle, Selbslehnung und Selbstbezichtigung sind die eine Seite der ambivalenten Reaktion Holls, Hass, Ekel und Aggression gegenüber allem Väterlichen sowie Rachegelüste die andere. Wenn Holl hasst, fühlt er sich besser. Einzig in der aggressiven Abgrenzung zum Vater erlebt er sich als Subjekt: „Da hatte Holl zwei Beine, zwei Hände, zwei Augen und Ohren und einen Mund zum Essen. Da war alles, was er nicht Vater und Mutter nennen brauchte, plötzlich schön.”[21] Hass auf den Vater und Verzweiflung über sich selbst lösen einander ständig ab. Unvermittelt unterbrechen entschiedene Stellungnahmen des Widerstandes die Schilderungen des Elends, wie zum Beispiel folgende:



Der Vater hatte ausgespielt. Er war mit seinen Erzie­hungssmethoden, die ja nichts anderes als vom Großvater übernommene Dressuren waren, auf die Haut, auf den Schmerz angewiesen. () Der Bauer war von der Idee besessen,aus seinem Sohn einen willenlosen Menschen zu machen, aber er geriet ins Hintertreffen. Holl machte zwar allles, was ihm befohlen wurde, um dem Vater möglichst keine Gelegenheit zu Handgreiflichkeiten zu liefern, aber dessen Welt, dessen Vorstellungen von der Welt verabscheute er zutiefst.[22]



Der Autor wechselt die Phasen der Demütigung mit Momenten der Auflehnung. Der eben beschriebene innere Widerstand Holls ist jedoch nicht nur passiv. Vielmehr spielt sich ein Kampf zwischen Sohn und Vater ab, der sich auf mehrere Ebenen erstreckt: Zuerst zwingt Holl sich dazu, seine Schmerzen nicht mehr zu zeigen, wenn ihn sein Erzieher züchtigt. So spielt er einmal mit Leo, seinem einzigen Schulfreund. Dies hatte er nicht tun dürfen, denn Leo ist Arbeitersohn, kein Umgang für Holl. Der Bauer stellt ihn und will wissen, wo er war.



() aber Holl schwieg, ließ sich quer durch die Küche ohrfeigen und ging in die Speisekammer und stellte mit Entsetzen fest, dass neben dem Brotlaib kein Messer lag. Nirgends ein Messer, ging es ihm durch den Kopf, und hinter sich hörte er schon das Hosenriesenabschnallen. In den Bauch wollte er ihm das Messer rennen. Es dauerte lange, mit jedem Schlag wollte er aus der Haut fahren, er zählte bis dreiundzwanzig und biss sich in die Hand, um nicht zu schreien, und schrie auch nicht, deshalb schlug der Bauer so oft auf ihn ein, so wütend, aber Holl musste ihm zeigen, dass dieses Verfahren ausgeleiert war.Er blieb lange in die Nacht hinein wach.[23]



So untergräbt Holl die Wirkung der Prügel und damit die Sicherheit des Vaters, der jedoch deswegen nicht aufhört zu schlagen, kennt er doch keine anderen Umgangsformen mit Kindern, weil er selbst so gehalten worden war, wie Innerhofer mehrmals betont.

Ein zweites Mittel, sich einerseits vor dem Vater zu schützen und andererseits zugleich die eigene Position zu festigen, findet Holl darin, immer schwer zu arbeiten. So bietet er dem Bauern am wenigsten Angriffspunkte:


Nur indem er sich bis über die Ohren mit Arbeit überzog, konnte er sich wenigstens bei Tag vor den gröbsten Zugriffen in Sicherheit bringen. Zwar hatte es vieler blutig gestoßener Zehen, aufgerissener Ohrläpp­chen, brennender Wangen, Hauschürfungen, gehirnlähmen­den Geschreis und anderer Unannehmlichkeiten bedurft, bis der Bauer ihn soweit hatte, aber nun hatte Holl diese Hürden hinter sich, so dass er sich gegen die anderen Schikanen wenden konnte. Die Arbeit war seine Rückendeckung und Gesichtsmaske zugleich.[24]


Als Siebzehnjähriger beginnt er sich auch verbal gegen den Bauern zu wehren, und das geht einher mit gewaltigen Arbeitspensen. Holl sichert sich damit gegen den Vorwurf der Faulheit präventiv ab:


Nachmittags floss ihm oft das Blut aus der Nase, weil er die stärkste Arbeit mochte, aber damit steigerte er seinen Marktwert und verschaffte sich immer mehr Redefreiheit.[25]


Auch als der Bauer voller Misstrauen und trotz großer Bedenken einen Traktor und andere Maschinen anschafft, wird Holl schnell zum besten Traktorfahrer und kennt die Mechanik der Maschinen am besten. Dieser Umstand hebt sein Ansehen aut dem Hof ungemein.

In dem Masse wie Holl größer und kräfti­ger wird, kann es sich der Bauer nicht mehr erlauben, seinen Sohn willkürlich zu ohrfeigen. Der Vater verlegt sich daraufhin stärker auf die sprachliche Ebene, nennt Holl immer wieder träge und arbeitsscheu, für Holl „das vernichtendste Urteil”[26], ist sein Fleiß doch alles, was er vorzuweisen hat. Auch seine Berufspläne sieht er durch diese Diffamierungen gefährdet, er glaubt nicht, dass ein Handwerksmeister einen Lehrling annehmen könnte, dem der Ruf der Faulheit vorauseilt:



Der Bauer griff ihn also nicht mehr mit den Händen an, sondern mit Worten, stellte ihn bei jeder Gelegenheit anderen gegenüber als einen völligen Nichtsnutz hin –einen Menschen, der nicht einmal zum Arbeiten taugt. Wo konnte er als solcher hingehen? Wer würde ihn nehmen?[27]



Wenn es Holl gelungen war, Mittel und Wege zu finden, den väterlichen Schlägen zu steuern, so sind die Worte des Vaters von einer Wirkung, der sich der Sohn kaum entziehen kann. Wenn ihn der Vater kritisiert, bricht der Sohn psychisch zusammen, wie folgende Stelle belegt:



Der Bauer redete, bis Holl das Wasser aus den Augen floss. Dann ging Holl einige Stunden im Hemd auf dem großen Feld umher. Es war Frühjahr, der Talboden bleich und voll Schneeflecke. Die Heustadel leer. Er sah sich überall schon hängen, ging aber wieder zurück und in den Stall und war froh, überhaupt noch arbeiten zu dürfen.[28]


Jahrelang dominiert ihn der überlegene Vater, Holl liegt fast ständig am Boden - und dennoch kann ihn der Bauer nicht endgültig brechen, Holl verlässt den Hof, der Vater hat ihn nicht so zurichten können, dass er dies nicht mehr gewagt hatte.

Woher bezieht Holl die Kraft durchzuhalten und sich nicht mit dem Vater zu identifizieren? Woher nimmt der stumme Bettnässer das Selbstwertgefühl, um sich vom Vater distanzieren zu können?

Die Antwort gibt Innerhofer nicht selbst, der Leser reimt sie sich zusammen. Für Holl war es nicht möglich, auf Hof 48 das Gefühl der Empörung zu entwickeln, denn die Verhältnisse waren zu erdrückend. Auch die seltenen Momente
des Mitgefühls, das einige Menschen Holl entgegenbrachten, hatten dafür nicht genügt. Holl muss also von seiner Zeit auf Hof 48 bessere Zeiten erlebt haben. Allein aus dem Vergleich dieser Zeiten mit seiner Lage auf Hof 48 kann der Knabe geschlossen haben, dass es nicht richtig sei, wie man ihn nun behandelt. Nur aus diesem Wissen kann sein unbeugbarer Wille nach Verbesserung seiner Lage gespeist sein. Kurze Zeit besser gelebt zu haben, das ist es, was Holl von den anderen Leibeigenen unterscheidet, die außer Knechtschaft nichts ken­nen und denen von den Priestern „außer Arbeiten alles verboten war”.[29]

Zwei Jahre hat Holl bei Pflegeeltern gelebt, zwei Jahre mit seiner Mutter auf deren Mutter Hof und zwei Jahre mit Mutter und Stiefvater. Schläge und Liebesentzug hatte er schon bei der Mutter kennengelernt.”[30]

Die ersten sechs Lebensjahre Holls beschreibt lnnerhofer gerafft auf sechs Seiten.[31] Genau diese Zeitspanne kommt kaum zur Sprache. Konsequent die Perspekive des unverstandenen und umhergestoßenen Kindes einhaltend, schildert Innerhofer nur, was Holl verstört. An Positives kann er sich entweder nicht erinnern, oder er hielt es nicht für relevant weil die Anprangerung der Verhältnisse für ihn im Vordergrund stand.

Der erste Satz des Buches lautet: “-Der Pflege einer kinderlosen Frau entrissen, sah Holl sich plötzlich in eine fremde Welt gestellt.” Das Kind als wehrloses Objekt, das gewaltsam in verwirrende Umstände gestellt wird und daran fast irre wird. Der Satz weist darauf hin, dass es zuvor an einem Ort war, wo die Menschen es pflegten, milde behandelten. Dieses positive Grundgefühl gegenüber den Pflegeeltern wird später noch einmal erwähnt, als Holl der Mutter größte Vorwürfe macht, weil sie aus Gründen des Anstandes es nicht zuließ, dass dieses Paar ihn adoptierte, ihn aber anstandslos dem Vater überliess.
An die Mutter knüpfen sich keine guten Erinnerungen: Während der zwei Jahre auf dem Hof seiner Großmutter wusste Holl nur, „dass sie diejenige Person war, die ihm öfter eine auf den Hintern gab”. Auch im Alter von vier bis sechs Jahren wird sie als Person geschildert, die schimpft, schlägt und einsperrt, Erinnerungen an Wärme und Geborgenheit im Zusammenhang mit der Mutter finden sich im Text nicht. Einzig der Stiefvater wird ausdrücklich positiv erwähnt, er war ein milder Mensch und schlug Holl nie”: Als HolI schon nach wenigen Wochen Fluchtpläne hegt, heißt es: „Er setzte alles auf den Stiefvater. Ein milder Mensch, ein wortkarger. Der Stiefvater hatte sich früher für ihn eingesetzt.
Insgesamt gesehen ist aber doch wenig die Rede von emotionaler Silität der Beziehungen, die den Jungen hätte stärken können.

Dennoch ist es während der elf Jahre in Haudorf über lange Zeit die Mutter, von der er sich die Befreiung aus den Händen des Vaters erhofft: „Wenn Holl in den Überpinzgau schaute, erinnerte er sich oft an seine Mutter. Es kam ihm so vor, als ob er dort einen Rückhalt hätte.”[32] An anderer Stelle träumt er davon, wie er der Mutter einmal aber auch alles auflisten würde, was ihm vom Vater widerfährt. Zwei Seiten lang klagt Holl in Gedanken den Vater vor der Mutter an und schließt seinen Tagtraum ab:


() dann kann die Mutter nicht mehr sagen, bleib nur, bleib nur, halt nur durch, es wird schon besser, und später wird er dir dann vielleicht etwas geben. Ich will ja nichts, von dem will ich nichts, der soll mich in Ruhe lassen, der soll mich endlich in Ruhe lassen.[33]



Und doch melden sich auch gleich Zweifel daran, dass ihm die Mutter glauben wird, er ist sich ihrer nicht sicher. Hat Holl vielleicht mit der Mutter doch vergleichsweise Positives erlebt, aber der Autor erinnert sich daran nicht? Oder projiziert Holl gar Gefühlselemente aus der Zeit bei der Pflegemutter auf die leibliche Mutter, die ja der Hort der Geborgenheit ist? Nun, diesen Fragen ist nicht endgültig beizukommen, festhalten kann man folgendes: Wenn Holl an die Menschen noch Hoffnungen knüpft, kann dies nur durch die Annahme erklärt werden, dass Holl auch gute Erfahrun­gen mit Menschen gemacht haben muss.

Holl muss schließlich erkennen, dass ihm aus der Familie und aus den Kreisen der institutionellen Gewalten keine Hilfe beschieden ist: Bürgermeister, Fürsorgebeamte, Gendarm, Lehrer, Pfarrer, sie alle sind zu gut mit dem Bauern bekannt und zu sehr dem autoritären Prinzip verhaftet, als dass sie sich für Holl einsetzen würden. Hilfe erfährt er von seinesgleichen, den Leibeigenen und Dienstboten, denen er sich schon früh mehr als der Familie zugehörig fühlt.
Da ist zuerst der Knecht Moritz zu nennen, der alte Freund Holls. Verkörpert der Bauer Holl gegenüber die Strenge, so Moritz die Milde. Der Bauer herrscht, Moritz leidet. Ein sprachloses Einverständnis verbindet diese beiden, die Begegnungen mit Moritz sind die wenigen Lichtblicke im Alltag des Kindes. Die Beschreibung des Lebens Moritz’ durch den Autor ist von großem Mitgefühl für diesen wehrlosen, harmlosen Menschen gekennzeichnet, aus dem man gemacht hat, was man aus Holl machen wollte. Zu den letzten Sätzen des Buches zählt eine Liebeserklärung an den inzwischen gestorbenen Moritz. Holl ist seit kurzem in der Lehre und kommt zur Beerdigung auf den Hof zurück. Als er den Sarg mitträgt, denkt Holl darüber nach, wie Moritz um sein Leben gebrocht wurde und solidarisiert sich mit ihm:



Nach mir greifen sie immer noch, dachte Holl, aber mich bringen sie nicht um. Was hat Moritz nicht alles unternom­men, um sich zu befreien? Nächtelang saß er über den Uhren, hatte davon leben können, aber diese Bestien haben ihn für unmündig erklärt und sich ihn einfach angeeignet, und alle haben zugeschaut. In den Mund haben sie ihm geschissen. Beichten musste er und arbeiten. Moritz, du liegst mir leicht auf der Schulter, aber du kannst mich ja nicht mehr hören. Wir haben uns immer gut verstanden. Dir hat man das Reden abgewöhnt, und mir wollte der Bauer das Reden abgewöhnen. Noch immer sind sie hinter mir her und
möchten mich umbringen, mit allen Mitteln versuchen sie, mich umzubringen.[34]


Während Moritz eine Art emotionale Stütze war, die das Leben erträglicher machte, ist Helga der erste Mensch, von dem Holl sich wirlklich in seiner ganzen Not erfasst und verstanden fühlt. Helga arbeitet für einige Zeit nach einem Arbeitsunfall der Bauerin als Aushilfsköchin auf Hof 48. Die Schilderung dieser Zeitspanne gehört zu den beeindruckendsten des ganzen Romans und ist auch kompositorisch zentral im Sinne eines Wendepunktes in der Handlung.[35]

Neben ihrem Verständnis für den Zustand Holls ist es vor allem ihr Auftreten gegenüber der Bäuerin und dem Bauern, was sie für Holls weitere Entwicklung so bedeutsam werden lässt. Sie ist der erste Mensch, der sich für Holl einsetzt und sich dem Bauern nicht beugt, ihn und die Bäuerin in die Schranken weist, ihm das Kommando im Haus entreißt und so vor aller Augen die Allmacht des Bauern
als überwindbar enthüllt. Als erstes sagt sie der Bäuerin auf den Kopf zu, dass man Holl habe verwahrlosen lassen, also verantwortlich sei für Holls Zustand und sich nicht über diesen wundern müsse. Schließlich empört sich Helga über die Art, wie auf Hof 48 mit den Menschen umgegangen wird. Handfest bringt sie ihre Meinung zum Ausdruck. Die betreffende Szene ist von solcher atmosphäri­scher Dichte und zugleich für die Entwicklung des Helden von solcher Bedeutung, dass es gerechtfertigt scheint, sie trotz ihrer Länge fast vollständig zu zitieren:


Dann wurde es Helga auf einmal zu dumm, sie hob die Pfanne vom Herd und goss vor den Augen des Bauern, der Bäuerin und der Dienstboten die ganze Frühstücksmilch aufs Feuer. Einen Augenblick sah es aus, als stürze sich der Bauer der Milch nach ins Feuer. () Es zischte, und unten flossen Milch und Asche heraus und liefen dick und träge auseinander. Die Gesichter entsetzt, und dort so viel Herrlichkeit. Holl wäre am liebsten in die Frau gesprungen, um neu aus ihr herausschlüpfen zu können, und gleichzeitig schlürfte er den Anblick löffelweise in sich hinein. ‚So’, sagte Helga. ‚Schaut nicht so dumm! Denkt lieber nach, warum ich die Milch weggeschüttet habe.’ () Seit Tagen höre sie sich nichts als Nörgelei an. Sie habe nichts gegen diese Arbeit, aber sie habe etwas gegen Menschen, die vor lauter Arbeit nichts als Arbeit im Kopf haben und damit andere zugrunde richten. ‚Schaut euch doch alle einmal an!’ schrie sie. Ihr halbes Leben habe sie nun schon auf Bauernhöfen verplempert, und überall, wo sie hinkomme, gehe es gleich lächerlich zu. Sie sei tief traurig über die vielen, vielen Menschen, die man von Kind auf zitzerlweise umgebracht hat oder umkommen hat lassen, und immer noch begegne sie solchen Kindern. Sie könne es nicht mehr ertragen, immer und überall diesen stummen Tragödien zuschauen zu müssen..[36]


Holl klammert sich nun mit ganzer Kraft an Helga und wünscht sich sehnlichst, dass sie bleibe und alles ändere.[37] Diese Hoffnung erfüllt sich nicht. Die Begegnung mit ihr bildet aber eine Zäsur in Holls Leben. Holl hat nun ein Vorbild: einen Menschen, der unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen ist und sich dennoch frei­kämpfen konnte, sich nun von niemandem mehr kommandieren lässt. In der Folge wird auch er seiner Sache immer sicherer, er beginnt zu sprechen, zu widersprechen und zu denken: „Schön langsam”, so heißt es nach der Helga-Episode, „begann er zu begreifen, dass kein Mensch auf der Welt das Recht hat, mit seinesgleichen nach Belieben zu verfahren.”[38]
Er verbündet sich nun immer stärker mit den anderen Dienstboten seines Vaters, zum Beispiel assoziiert er sich mit Hermann Klein, einem Melker, Gewerkschaftler und Antifaschisten: Zusammen ertrotzen sie sich zahlreiche Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse, stellen Förderungen, verweigern Befehle, schlagen Krach. Sonntags gesellt sich Holl nun demonstrative zu den Kirchengegnern.” Alle sollen merken, dass die Herr­schaft des Bauern über seinen Sohn zu Ende geht.
Auch als Holl keine Lehrstelle finden kann, weil kein Handwerker es sich mit dem Bauern verderben will, ist es einer aus der Schicht der Unterprivilegierten, der ihm hilft: Sein Freund Alfred Kofler tritt ihm seine eigene Lehrstelle ab!” Mit der Lehrstelle schließlich hat er es gut getroffen, denn in der Person Helenes, der Mutter des Meisters, findet Holl wieder eine wunderbare Mentorin, die in ihrer ruhigen Sicherheit und Güte sehr an Helga erinnert:



Er hatte das alte hässliche Haus kaum betreten, und schon war er unter Menschen die sich nicht auf ihn stürzten, ihn nicht herumschufen und nicht streichelten, sondern einfach mit ihm gingen. Ohne dass er sich zu schämen
brauchte, erklärte ihm Helene (), dass er schrecklich unwissend sei. Sie habe sich sofort gedacht, ‘da kommt ein unwissender Mensch ins Haus.[39]


Helene gibt ihm Bücher, spricht viel mit ihm, leitet ihn an, führt ihn ein ins Leben. Holl blüht auf unter diesen Bedingungen, die Einmaligkeit dieser Gelegenheit ist ihm bewusst, und er nimmt sich vor, sie zu nutzen:


Ein glücklicher Zufall hat mich in dieses Haus geführt. Jetzt liegt es an mir. Ich will alles nachholen, und irgendwann werde ich diesen Bestien zeigen, dass niemand das Recht hat, andere Menschen zu besitzen.[40]


Mit dieser Perspektive beschließt Innerhofer die Geschichte Holls, die Beschreibung eines elfjährigen Ringens zwischen dem Sohn und dem Menschen, den Holl nur widerwillig Vater nennt: „Vater sage ich doch nur zu ihm, weil er mich sonst umbringt.”[41] Der Sohn hat sich durchgesetzt.













4. Sprache als Mittel der Herrschaft



Sprechen, Nichtsprechen, Bedeutung von Sprache, das Thema der Kommunikation überhaupt ist zentral in Innerhofers Kindheitsge­schichte.

lnnerhofer bescheibt dabei die Sprache als Instrument der Herrschaft des Bauern, die in seiner Wirksamkeit den Prügeln nicht nachsteht. Sie sollen auch vor Augen führen, wie, unter dem Aspekt der Kommunikation betrachtet, das Ringen zwischen Holl und Bauer auch als immerwährende Anstrengung Holls, ebenfalls in den Besitz des Instruments der Sprache zu kommen, gedeutet werden kann.

Innerhofer kennzeichnet die Sprache ale ein System von Zeichen zum Zwecke der Herrschaft. Von Verständigung im Sinne des Gedankenaustausches zwischen gleichgestellten Menschen ist im Rahmen der Familie nie die Rede: „Es wurde nicht gesprochen, sondern nur geschrieen oder heiser geflüstert, nichts erklärt, sondern nur befohlen und geohrfeigt.”[42] Diesem Sachverhalt entspricht ein aufallender Mangel an wörtlicher Rede. Nur als zitierte, stereotype Formel findet sie sich. Optisch abgesetzt vom Erzählstrom stehen nach acht Seiten die ersten wörtlichen Rede-­Fetzen: es sind Befehle:


’Do gehst her!’

‚Dort bleibst!’

‚Ruhig bist!’[43]


Diese verbalen Rippenstöße gehen oft mit physischen einher, so dass sie in Holls Erleben miteinander verschmelzen. Mit den Jahren genügt der bloße Schrei, um Holl in die Angststarre zu versetzen, die anfangs nur Schreie und Schläge zusammen auslösten:


Holl zuckte bei diesen Schreien jedesmal zusammen und glaubte für Sekunden, er sei wieder sechs oder sieben, weil ihn früher tagtäglich eine Menge solcher Schreie mit anschliessendem Abfotzen betroffen hatte. Ein entsetz­licher Reflex, der sofort für Augenblicke eine Gehirnläh­mung bewirkte und ihn gleichzeitig sein Elend wahrnehmen ließ. Ein Schrei aus dem Munde des Bauern, und er war noch immer wie aufgespießt ().[44]


Immer wieder beschreibt Innerhofer die Worte des Bauern als für
Hall vernichtend. Mit bloßen Worten kann der Bauer den Jungen in eine suizidale Lage bringen:


Der Bauer redete, bis Holl das Wasser aus den Augen floss. Dann ging Holl einige Stunden () auf dem großen Feld umher. () Er sah sich überall schon hängen, ging aber wieder zurück und in den Stall und war froh, überhaupt noch arbeiten zu dürfen ().[45]


Auch folgende Stelle zeigt das erdrückende Gewicht der Worte für Holl. Sie zeigt aber auch, wie schließlich die Erkenntnis nicht ausbleibt, dass mit Sprache seine Knechtschaft aufrecht­erhalten werden soll.

Als er eine Lehrstelle sucht, ist es wieder die Macht der Sprache, die der Bauer einsetzt, um Holl an den Hof zu ketten: Überall erzählt er Lügengeschichten darüber, wie gut es Holl auf 48 gehe, wie undankbar der Junge sei, und, um ihn unmöglich zu machen, verbreitet er für Holl peinliche Begebenheiten aus dessen Kindheit.[46]

So erfährt Holl die Macht der Sprache. Der Bauer hat in seinem Reich das Monopol auf dieses Werkzeug. Holl darf nur sprechen, wenn er gefragt ist, und er muss lernen, dass es für ihn sehr gefährlich werden kann, ungefragt den Mund aufzutun. Eine Stelle, die dies belegt und die überdies repräsentativ ist für Innerhofers Fähigkeit, die bedrückende Atmosphäre aus der Sicht des Kindes in Sprache zu fassen, sei hier zitiert:


Ob er immer noch nicht wisse, wenn er um Arbeit zu fragen habe, schrie der Vater vom Haus herüber. Jetzt musste sich Holl beherrschen, um sich nicht in ein Beantworte-Abenteuer zu stürzen. Ein Ja lag ihm auf der Zunge, aber er verspürte auch das Bedürfnis, aus Leibeskräften zu brüllen: ‚Nein, nein, nein!’ ‚Weißt du immer noch nicht, wenn du um Arbeit fragen musst?!’ schrie der Vater wieder. Und wieder schrie es in Holl (), aber er beherrschte sich, schaute dem Vater ins Gesicht und spürte wieder das Sinneschwinden, wie ihm Schritt für Schritt das Hören und Sehen verging, als strahle ihm das Vatergesicht seine
ganze Vergangenheit in den Kopf. ‚Weißt du immer noch nicht, wen du um Arbeit fragen musst?! schrie der Bauer wieder. [] Holl schwieg und spürte nach ein paar schrecklichen Sekunden den erleichternden Griff am Hemdkragen und sah sich am Vaterleib vorbei ins Vorhaus geschoben. () Jetzt war es vorbei. Aber hätte er vor dem Haus, so dicht neben der grobverputzten Mauer,() sich zu einer Antwort hinreißen lassen, würde
er jetzt bluten, () denn auf bestimmte Fragen duldete der Bauer keine Antwort. Er schrie nur immer die Frage, aber sobald Holl antwortete, schlug er ihn nieder.”[47]


Wie reagiert das Kind auf diese aufgezwungene Sprachlosig­keit? Zum einen spricht er viel mit sich selbst. Zum andern klagt er in Tagträumen oder bei wirktichen Besuchen sein Leid der Mutter. Allerdings stößt er bei ihr stets auf taube Ohren. Er kompensiert seine Unterlegenheit durch Phantasien, er sagt sich,


() es müsse doch einmal gelingen, den Vater an einen Baum zu binden, and er würde tagelang um ihn herumgehen, vor ihm stehen, vor ihm sitzen and ihm alles sagen, alles was er ihm und den Menschen, die Holl gern mochte, im Laufe der Jahre zugefügt hatte, ihm immer wieder sagen, nicht auspeitschen, nur sagen, dann würde er ihn laufen lassen, ihn einfach laufen lassen.[48]


Die Wünsche, der Mutter sein Leid zu klagen und eines schönen Tages dem Vater alles, aber auch alles zurückzugeben, lassen Holl seine reale Sprachlosigkeit erträglicher erschei­nen. Denn in der Realität ist er durch die Erziehungsmethoden der Eltern derart eingeschüchtert, dass er selbst einfachere Kommunikationssituationen nicht bewältigt. Wie sich das für Holl anfühlt, sprechen zu sollen, aber nicht zu kennen, das beschreibt Innerhofer exemplarisch, als ihm einmal ein Besucher auf Hof 48 etwas fragt:


Die Zunge ein Klumpen und oben ein heilloses Durcheinander, das das Blut hinaufsog und es durch die Gesichtshaut auszuspucken drohte. Da half dann nichts als plötzliches Hinausstürzen, und er konnte wieder denken und mit sich selber reden. Allein redete er schon viel and sagte sich auch immer wieder: Ich muss reden.[49]


Richtig erkennt er, dass er nur durch vernehmliches Sprechen zweifelsfrei deutlich machen kann, wie wenig er der schwachsin­nige „Knechtidiot” [50] ist, für den man ihn hält. Wieder sind es Helga und Hermann Klein, die ihm den emotionalen Rückhalt auf seinem Weg zum sprechenden Menschen geben. Sie sind die lebendigen Beweise dafür, dass auch Menschen der Dienstbotenklasse sich die Sprache nutzbar machen können. Helga liest und schreibt und spricht ihre Meinung fest und offen aus. Holl sieht, wie ihr das den Respekt des Bauern und der anderen Menschen auf dem Hof einträgt. Mit ihr verfährt niemand nach Belieben. Holl genießt Helgas Worte richtiggehend. Als sie einmal der Stiefmutter sagt, dass sie und der Bauer Holl hätten verwahr­losen lassen, und somit die Verantwortung für Holls Zustand richtigerweise den Eltern zuweist, heißt es anschließend:


Holl konnte lange nicht einschlafen. Zu den gleichmäßi­gen Atemzügen von draußen hörte er immer wieder diese Frau. Jeden Satz hörte er. Er wiegte die Sätze hin und her, als wären sie Findelkinder, und dazwischen dachte er immer wieder die Wörter endlich und doch ().[51]


Diese Stelle verdeutlicht, wie genau das verstummte Kind die
Sprache nimmt und erlebt, wie Holl ein fast körperliches Verhältnis zu den Wörtern pflegt.

Aber auch der Melker Klein spielt eine wichtige Rolle. Als Innerhofer ihn vorstellt, heißt es sogeich: „Hermann Klein konnte reden.”[52] Klein unterstützt Holl in seinen Befreiungsplänen und unterhält sich auch über gesellschaftliche und persönliche Fragen mit ihm.[53] So wird ouch er zu einer wesentlichen Stütze für Holl.
Ein Jahr vor seinem Abschied von Hof 48 ist Holl soweit gestärkt, dass er sich nach einigen erfolgreich verlaufenen Aktionen zur Konsequenz entschließen kann: Als kurz darauf sein zwölfjähriger Halbbruder und der Hoferbe Jorg den älteren Holl in herrischer Manier mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich befiehlt, schlägt ihn Holl ins Gesicht, packt ihn im Genick und schiebt
ihn vor sich her ins Haus, wo er den Bauern zur Rede stellt
Der Bauer schweigt, Holl spricht, ist Herr der Situation. Der Erfolg bestärkt Holl in diesem Vorgehen. Er rückt nun seinerseits dem Bauern sprachlich immer mehr auf den Leib, bringt ihn in Schwierigkeiten und erlebt so eigene Stärke
Indem sich Holl so über Monate hinweg die Sprache erobert und für seine Belange einzusetzen versteht, wird er immer mehr zum Herr seiner selbst.
Die Sprache als Kampfinstrument kennt Holl nun. Dass sie auch
Instrument der Kommunikation zwischen gleichberechtigten Menschen ist, das erfährt er erstmals wirklich als er seine Lehrstelle antritt. Er lebt mit der Familie seines Lehrherrn in dessen Haus, und die Mutter des Meisters, Helene, nimmt sich seiner menschlichen und intellektuellen Ausbildung an. Holl greift dieses Angebot emotionaler und geistiger Zuwendung dankbar auf, er genießt seine neugewonnene Freiheit und die menschliche Wärme im Hause des Meisters:


Holl hatte ein Zimmer für sich, in dem er anfing, lange bis in die Nacht hinein Bücher zu lesen, die der Meister irgendwann einmal gelesen hatte, die Helene irgendwann einmal gelesen hatte und die sie nun für ihn aussuchte. In der Küche und in der Stube saß er oft und redete mit ihr, Es gab keine heimtückischen Gespräche und Abmachungen über ihn, sondern Gespräche mit ihm. Keine Geheimnisse. Keine Benachteiligungen,sondern Gleichberechtigung. () Er hatte das alte hässliche Haus kaum betreten, und schon war er unter Menschen, die sich nicht auf ihn stürzten, ihn nicht herumschufen und nicht strichelten, sondern einfach mit ihm gingen.[54]


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sprache und ihre Funk­tionen in dieser Kindheitsgeschichte Innerhofers eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt auch für die weiteren Bände der Trilogie, insbesondere für den letzten, in dem der Autor seinen vollständigen Eintritt in die Welt der Sprache, das Literaturstudium, beschreibt. Nicht umsonst hat er ihm den Titel „Die großen Wörter” gegeben.



5. Arbeit, Menschen und Natur


Bevor ich mich mit den drei Begriffen der Kapitelüberschrift beschäftige, sollen die bisher angestellten Überle­gungen zu Innerhofers Kindheitsgeschichte wiederholt werden. Als erstes konnte ich feststellen, dass die Kindheit Holls durch die Beziehung zu seinem Vater determiniert beschrieben ist. Diese Beziehung hat die Form eines archaischen Herr—Knecht-Verhältnisses. Emotionale und intellek tuelle Verwahrlosung des Kindes gehen einher mit schweren physischen Misshandlungen. Die Geschichte zeigt, wie das Kind Holl sich im Kampf gegen seinen Vater den Weg in die Freiheit sucht und wie es dabei unerwartete und wesentliche Hilfe durch Menschen erfährt, die unter ähnlichen Umständen aufgewachsen waren. Des Weiteren wurde deutlich, dass der Aspekt des Sprechens, der Sprache und der Sprachlosigkeit ein zentrales Thema darstellt, dass Sprache so lange ein Herrschaftsinstrument des Bauern ist und bleibt, bis der Sohn seine Stummheit überwindet und durchs Sprechen den Weg zum selbstbestimmten Subjekt zu beschreiten vermag. Wir haben also Holls Geschichte als Beschreibung eines Herrschaftsverhältnisses, gestützt durch physische and verbale Gewalt als Herrschaftsmittel, gelesen und interpretiert, wie das Kind sich seinen Ausweg sucht und schließlich findet.Herrschaft und Herrschaftsinstrumente sind ebenfalls besprochen worden. Nun soll gezeigt werden, welches nach Innerhofer Sinn und Ziel dieses bäuerlichen Regimes darstellen. Der Autor begreift die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als Zweck der Herrschaft. Nichts wird so ausführlich beschrieben wie die Arbeit, sie ist das Um und Auf der Menschen in Haudorf. Eng damit verknüpft ist das Motiv der Natur. Darum soll auch untersucht werden, wie die Naturschilderungen bei Innerhofer in diesem Zusammenhang strukturiert sind. Dabei kann gesagt werden, dass die Perspektive Holls der Natur gegenüber gekennzeichnet ist durch eben den Aspekt der Arbeit einerseits und andererseits durch seine Gefühlslage den Menschen gegenüber, welche in unterdrücktem Hass gegenüber seines Unterdrücker besteht.
Für Holl bedeutet Leben Arbeiten, eingespannt zu sein in einen immer gleichen Kreislauf von programmierten Arbeitsgängen, reduziert zu sein auf die Ausführung der bestimmten Handgriffe, aller, auch der geringsten Möglichkeiten persönlicher Entfaltung beraubt zu sein:


Arbeiten, das Beherrschen von Arbeitsgängen and das Lernen und Beherrschen von Arbeitsgängen und der völlige Verzicht auf sich selbst waren das Um und Auf. Dazu gehörte das Bescheidwissen, das Wissen um jedes Gerät, das Wissen um alle Aufbewahrungsorte, im Haus, in der Machkam­mer, in den Geräteschuppen um das Haus, auf dem Zulehen, auf den Almen, das Im-Kopf-Haben, von Grundstückslagen, von Hängen, Nocken, Steinen, Pfützen, Gräben, das Im-Kopf‑ Haben von Viehbeständen, das Wissen um Viehverhalten, um Mensch-Vieh- und Vieh-Mensch-Verhalten.[55]


Die Reduktion des Menschen auf Maschinenniveau spricht Innerhofer auch deutlich im Zusammenhang mit Moritz aus, der manchmal eine Zeitlang nicht auffindbar war. Die Abwesenheit Moritz’ bemerkte man nur, so Innerhofer.


() weil etwas mit ihm ausblieb,nicht weil er ausblieb; das Ausbleiben eines Menschen fiel da gar nicht auf, wei er nur im Zusammenhang mit Handgriffen existierte. Man dachte die Menschen auch nur im Zusammenhang mit Handgriffen; weil man sich die Menschen vor lauter Handgriffen nicht mehr ohne Handgriffe denken konnte. Man konnte sich die Menschen als Menschen gar nicht vorstellen, sondern nur als Verkrümmungen, als wehrlose Schreie, aus denen man Krüppel’ machte.[56]


Von sechs bis halb acht im Stall arbeiten, dann schnell frühstücken, waschen, umkleiden, Schule, sofort zurück nach Hause, umkleiden, arbeiten, zu Abend essen, Aufgaben machen, schlafen gehen um acht Uhr, so sieht während zehn Jahren Holls Leben aus.[57] Noch verschärft wird Holls Lage durch den Umstand, dass das Arbeiten stets mit Geschlagenwerden einhergeht. So wird der Sechsjährige beispielsweise ohne Rücksicht auf sein Alter, seine Kräfte und seine Unkennt­nis der landwirtschaftlichen Bedingungen in der größten Som­merhitze vor ein nervöses Pferd gestellt, das den Heuwagen über
den Stoppelacker zieht. Holl soll es selbständig führen, obgleich er von niemandem in den Umgang mit Pferden eingeführt worden ist. Das große Tier ängstigt ihn, und diese Angste tragen ihm Prügel ein.

Damit beschäftigt, sich vom Pferd nicht schlagen zu lassen, macht er immer wieder etwas falsch. Die begangenen Fehlgriffe bestraft der Vater mit Schlägen ins Gesicht: Für den Sechsjährigen bedeutet Arbeiten unter solchen Umständen eine äußerste körperliche Anstrengung. Den Arbeitsgang beherrschen und ihn zugleich erst erlernen, dem ausschlagenden Tier und dem zuschlagenden Vater ausweichen, all dies muss Holl gieichzeitig bewältigen. Darüber hinaus erhält Arbeit nun sogar eine positive Färbung, denn solange der Junge arbeitet, lässt ihn der Bauer in Ruhe, für Holl eine erhebliche Verbesserung seiner Lage.

Der Junge vollbringt übermäßige Arbeitsleistungen, einerseits, weil es der Bauer von ihm verlangt, aber auch, weil er Hoffnungen hegt, dafür einmal eine positive Beurteilung aus dem Munde des Bauern zu vernehmen. Als Dreizehnjähriger auf der Alm schläft er oft nur vier bis fünf Stunden täglich. Aber auch da noch nennt ihn der Vater „faul und langsam”. Auf solche Verurteilungen reagiert der Junge mit Hut und Hoffnungslosigkeit, seine Situation wächst ihm über den Kopf:



Eine furchtbare Wut nahm sich seiner mütterlich an. Weit unten sah er den Bauern wegfahren. Er trieb die vollgefressenen Kühe vor sich her, er war jetzt nicht müde, nur der Anblick ,der vielen Kühe schreckte ihn. Die prallgefüllten Euter. Die drei Ställe oben immer noch knietief voll Mist. Unten vor der Hütte knietief Dreck. (,,,) Der Rührkübel war ihm zu schwer. Aber das konnte er nur fühlen und denken. Sagen durfte er das nicht. Er wollte nicht auch noch die letzte Schande auf sich nehmen. Er wollte nur noch sterben, einschlafen und nicht mehr aufwachen, aber er wurde immer wieder geweckt, brutal aus dem Schlaf gerissen.[58]


Wie erlebt einer unter solchen Umständen die ihn umgebende Natur? Die Naturschilderungen sind aus der Per­spektive Holls gestaltet. Die zwei wesentlichen Aspekte seines Lebens - persönliche Unterdrückung und Arbeit - dominieren auch das Naturerleben Holls. Mit jedem Platz in seinen natürlichen Umgebung verknüpfen sich Erinnerungen, die mit Menschen oder mit Arbeit zu tun haben. Dies belegt beispielsweise folgende Textstelle:


Holl ging rasch die Lechnergasse hinaus und nahm von der Mühle weg die Abkürzung. Ein Pfad, der sich steil hinauf­schlängelt. An der Stelle, wo ihn im Sommer die Ziegen zur Verzweiflung gebracht hatten, weil sie immer wieder auseinandergelaufen waren, blieb er stehen and schaute auf Haudorf hinunter. () Die Frühjahrszüchtigungen fielen ihm ein, die Züchtigungen an Ort und Stelle. Sofort hatte er die Felder vor sich und die passenden Gesichter dazu. Er ging weiter. Vor ihm lag der große Stein, auf dem im Sommer eine Magd mit ihrern schwarzen Haarbusch zwischen den Beinen und dem daraus hervorspringenden Urin seinen Blick eingefangen hatte. Tief unten hörte er den Bach rauschen. Auf der andern Seite war der abgenagte Anger, braun and grün (). Dort war keine Stelle, über die er nicht schon gegangen war. (…) Er musste noch einen Hang überqueren und war auf dem Zulehen. Auch hier war ihm jeder Stein, jede Mulde, jeder Graben, jede Pfütze geläu. Während er über Stellen, wo ihn der Bauer geschlagen hatte, hinaufeilte, erschrak er schon wieder vor dem kommenden Jahr, vor der kommenden Züchtigungsrundfahrt. Die Kühe grasten ganz hinten, wo der Bauer den Hamburger Studenten, der als Erntehelfer gearbeitet hatte, einmal in ein Wespennest geschickt hatte.[59]


Innerhofers Naturschilderungen sind nicht idyllisierend. Die Natur ist ganz in die Lebensgeschichte Holls integriert. Jeder Ort hat für Holl seine meist leidvolle Geschichte, oder er kündigt kommendes Unheil an. Zuallermeist mahnen ihn die Plätze an Züchtigungen und an mühevolle Arbeit. Nur selten erscheinen sexuelle Bezüge.

Ausgesprochen zerstörerisch behandelt der Autor manche Motive, die sich üblicherweise auf den Topos vom „friedlichen Landle­ben beziehen”. Einer Frühmorgenstimmung mit Vogelgezwitscher kann Innerhofer nichts Schönes abgewinnen. In seinem Buch steht der Morgen für nichts anderes als den erneuten Beginn eines täglich wiederkehrenden zermürbenden Trottes:


() aber nur bis acht, dann musste er schlafen gehen, beten und schlafen bis sechs, dann auf und hinein in die Hose und hinunter und hinein in die Stiefel, hin zum Waschtrog, dann frühstücken und hinaus in den April, in das Vogelgezwitscher, das aus den umliegenden Obstgärten lechzt und grunzt, halb Haudorf schläft noch, es ist schon Tag, es ist schon wieder Tag. Wie wird er ausgehen?[60]


Das Singen der Vögel wird für Holl zu einem ägerlichen Lechzen und Grunzen. So wie Holl sich vom Menschen bezwungen und belästigt fühlt, so empfindet er auch die Natur.Das ganze Tal nennt Innerhofer „Ohrfeigenlandschaft”, es kommt ihm vor „wie ein riesig großer Kerker mit einer eingebauten Foltermaschine.” Das Tal als Kerker, der Bauernbetrieb des Vaters als im Tal eingebaute Folterstätte, gründ­licher als mit diesem kafkaesken Schreckensbild kann man den Topos von der ländlichen Harmonie nicht zerstören.

Mit zunehmender Reife Holls verstärkt sich die Ablehnung der Landschaft noch durch die intellektuelle Distanznahme Holls von seiner Familie und deren Besitz. Vater und Großvater betrachtet er als Räuber, das Land, welches er zu bearbeiten hat, als Diebesgut.

Die einzige Stelle im Buch, wo Holl Natur positiv erlebt, soll
nicht unterschlagen werden. Auch sie zeigt, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen Holls Naturerlebnisse determinieren. Dieses positive Erlebnis hat Holl genau in dem Moment, als auch sein Hass gegenüber den Menschen eine Milderung erfährt, indem er mit Helga eine ermutigende und stärkende emotionale Beziehung aufbauen kann:


Holl konzentrierte sich nur mehr auf diese Frau. Die Landschaft stieg ihm überall, wo er ging, saß, stand, arbeitete, betete, unbelastet ins Gesicht. Der Zorn gegen­über bestimmten Personen versiegte. Er hatte nur mehr diese Frau im Kopf. Ihr Gesicht ernst, aber der Blick weich wie kuhwarme Milch.[61]











6. Schöne Tage – ein sozialer Roman



Holl wird immer als „Leibeigener” dargestellt. Wir erfahren auch eine Menge von Lebensgeschichten anderer Menschen des Pinzgaus und erhalten eine anschauliche Gesamtdar­stellung der ländich-dörflichen Gesellschaftsstruktur jener Gegend in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa 1960. Innerhofer erzählt, was er und seinesgleichen erduldet haben, schildert ausführlich die Geschichte des alten Moritz[62] sowie die der zwölfjährigen Maria, die beide als Fürsorgefälle dem Hof 48 zugewiesen worden sind und mit Holl zusammen dort die Schicht der „Leibeigenen” bilden, weil sie als dem
Bauern zugesprochene Menschen keinerlei Ansprüche stellen kön-
nen. Zusammen mit den Dienstboten bilden die Leib­eigenen die Schicht der Ausgebeuteten, während Bauern, Pfarrer, Lehrer, Arzt und Gendarmen als die gemeinsam das Dorf Regieren­den beschrieben werden.
Wie Innerhofer das Gesellschaftliche in seinem Roman mit dem Individuellen verbindet, ist Gegenstand der nun folgenden Ausführungen.
Eine erste Ebene der Verknüpfung ergibt sich ganz natürlich aus
der Perspektive des Protagonisten Holl selbst. Holl hat die spontane Reaktion, in schwierigen Situationen an Menschen zu denken, die es ebenso schwer haben wie er. Dieses An-andere‑Denken hat Entlassungsfunktion:


In diesen ganz und gar verzweifelten Zuständen der Selbstbezichtigung dachte er oft an seine Leidensgenossen. Ohne dass er es wollte, stellte er sich jeden mit den dazugehörigen Faustschlägen vor. Das war dann so eine Art Rechtfertigung, nicht ganz allein auf der Welt zu sein. Eine heimliche Heimat, der er sich verbunden fühlte.[63]


Auch in den Phantasien, in denen er die Rolle des Mächtigen und Überlegenen innehat, bezieht er seine Leidensgenossen mit ein, so zum Beispiel in seinem hartnäckig wiederkehrenden Tagtraum, den Vater einmal zu fesseln und ihm dann alles aufzuzählen, was er Holl „und den Menschen, die Holl gern mochte”[64], die ganzen Jahre angetan habe. Neben dieser emotionalen Ebene in der Perspektive Holls ist es auch die Reflexionsebene des Helden, die mit zunehmendem Alter stärker gesellschaftsbezogen struktu­riert scheint und auf der im Grunde immer die Frage im Zentrum steht, weshalb Menschen solche Zustände mittragen, indem sie sich nicht wehren. Eine zweite Verbindungsebene von Individuellem und Sozialem liegt in der Konstruktion des Romanes. In kommentierenden Passagen finden sich alle wesentlichen Aspekte, die am Beispiel des Protagonisten Holl besprochen wurden. Eine Passage, die dies verdeutlicht, zählt zu den bewegendsten Stellen des Textes:


Ein Tag-hinter-sich-Bringen war es. Die Dienstboten und Leibeigenen wurden, sobald einer den Kopf aus der finsteren Dachkammer reckte, sofort in die Finsternis zurückgetrieben. Jahraus, jahrein wurden sie um die Kost über die grelle Landschaft gehetzt, wo sie sich tagein, tagaus bis zum Grabrand vorarbeiteten, aufschrien und hineinpurzelten. Mit Brotklumpen und Suppen zog man sie auf, mit Fusstritten trieb man sie an, bis sie nur mehr essen und trinken konnten, mit Gebeten und Predigten knebelte man sie. Es hat Bauernaufstände gegeben, aber keine Aufstände der Dienstboten, obwohl diese mit geringen Abweichungenüberall den gleichen Bedingungen ausgesetzt waren. Ein Kasten und das Notwendigste zum Anziehen waren ihre ganze Habe. Die Kinder, die bei den heimlichen Liebschaften auf Strohsäcken und Heustöcken entstanden, wurden von den Bauern sofort wieder zu Dienstboten gemacht. Die Dienstboten wussten um ihr Elend, aber sie hatten keine Worte, keine Sprache, um es auszudrücken, und vor allem keinen Ort, um sich zu versammeln. Alles, was nicht Arbeit war, wurde heimlich gemacht. Man hatte es so eingerichtet, dass die Dienstboten einander nur mit den Augen, mit Anspielungen und mit Handgriffen verständigen konnten. Wenn irgendwo im Freien eine Magd beim Jausnen von einem Knecht das Taschenmesser nahm, konnten die anderen mit Gewissheit annehmen, dass er noch am selben Abend bei ihr im Bett lag. Umgekehrt gab es natürlich auch Frauen, die den Männern bei der ersten Begegnung sofort die Hosentüren aufknöpften und drinnen umrührten. Wenigstens die Nächte versuchten die Dienstboten an sich zu reissen. So pflanzte man sich von einer Finsternis in die andere fort.[65]


In dieser Textpassage ist der elende Kreislauf des Dienstbotenlebens gefasst: ein Dasein mit Minuszeichen, das Innerhofer selbst nicht Leben nennen mag. Es erscheinen hier lurz punktiert folgende Ideen: die Herrschaft der Bauern, durch die Kirche sanktioniert, die Sprache und die Schläge als Herrschaftsmittel, die Reduktion des Menschen auf seine Arbeitskraft und die Ausbeutung dersel­ben, die Unbildung der Dienstboten, ihre Ohnmacht, ihre Sprach­losigkeit ihre Verrohung, die aus dieser Verwahrlosung notwen­dig resultiert. Abschließend sollte noch auf die Geschichtlichkeit der „Schönen Tage” eingegangen werden. Die Kindheit Holls sowie die beschriebenen Lebensumstände der Armen sind zugleich Gegenwart und Vergangenheit. Einerseits kann es Erstaunen auslösen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg, Menschen in technisierten Ländern Europas unter feudalen Bedingungen leben. Andererseits ist der Roman historisch insofern, als sich seit Ende der fünfziger Jahre die Verhältnisse doch stark verändern: Die fortschreitende Mechanisierung der landwirtschaftlichen Arbeit ersetzt die menschliche Arbeitskraft. Mähen, Heuen, Melken, all die anstrengenden Arbeiten, die Innerhofers Menschen leisten, werden nun maschinell erledigt. Auch im Roman zeigt sich dieser Prozess: Holls Vater erwirbt nach langem Zögern trotz großem Misstrauen einen Traktor und später weitere Landmaschinen,welche die Muskelkraft von Tier und Mensch ersetzen.

Die Bereitschaft junger Bauernsöhne nimmt ab, ihr ganzes Leben der Landwirtschaft zu verschreiben, die sehr mühevoll ist und ständigen Einsatz für wenig Ertrag verlangt. Sie sehen, dass Arbeiter und Handwerker ein leichteres Leben haben, und wandern ab in die Fabriken und die Werkstätten, mancher lässt gar den ererbten Hof verkommen.






[1] Franz Innerhofer: Schattseite. Salzburg 1975


[2] Franz Innerhofer: Die großen Wörter. Salzburg 1977


[3] Franz Innerhofer: Der Emporkömmling. Salzburg 1982


[4] Franz Innerhofer. In : Die Zeit, Nr. 47,15,11, 1974


[5] Innerhofer. Schöne Tage. S. 236


[6] “Schöne Tage”, S. 156


[7] Ebd., S. 210


[8] Ebd. , S. 68


[9] Ebd. , S. 16


[10] Ebd. , S. 233


[11] Ebd. , S. 24


[12] Ebd. , S. 13


[13] Ebd. , S. 11


[14] Ebd. , S. 14 f


[15] l. ebd. , S. 31f.


[16] Ebd. , S. 32


[17] Ebd. , S. 43f.


[18] Ebd. , S. 69


[19] Ebd. , S. 136


[20] Ebd. , S. 86f.


[21] Ebd. , S. 59


[22] Ebd. , S. 69


[23] Ebd. , S. 104


[24] Ebd. , S. 99


[25] Ebd. , S. 231


[26] Ebd. , S. 193


[27] Ebd. , S. 196


[28] Ebd. , S. 237


[29] Ebd. , S. 27


[30] l. bspw. ebd., S. 11


[31] Ebd. , S. 7-l2


[32] Ebd. , S. 48


[33] Ebd. , S. 164


[34] Ebd., S. 241


[35] l.ebd., S.160-l79


[36] Ebd. , S. 168f


[37] Ebd. , S. 167-l71


[38] Ebd. , S. 188


[39] Ebd. , S. 240f.


[40] Ebd. , S. 242


[41] Ebd. , S. 164


[42] Ebd. , S. 20


[43] Ebd. , S. 14


[44] Ebd. , S. 119f.


[45] Ebd. S. 207


[46] l.ebd., S. 200 und 232


[47] Ebd. , S. 161f.


[48] Ebd. , S. 154


[49] Ebd. , S. 150


[50] Ebd. , S. 231


[51] Ebd. , S. 166


[52] Ebd. , S. 222


[53] Ebd. , S. 229


[54] Ebd. , S. 234


[55] Ebd. , S. 98


[56] Ebd. , S. 66f.


[57] Ebd. , S. 26, 33, 89, 231


[58] Ebd. , S. 193


[59] Ebd. , S. 30f.


[60] Ebd. , S. 89


[61] Ebd. , S. 167


[62] Ebd. , S. 61-68


[63] Ebd. , S. 45


[64] Ebd. , S. 154


[65] Ebd. , S. 26f







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