1. Begriffsbestimmung
In den siebziger Jahren ist der Topos Heimat zu einem häu gebrauchten Begriff in der österreichischen und deutschen Literatur geworden. Ohne hier Titel und Namen ausbreiten zu wollen, seien nur drei Prosabücher jüngeren Datums genannt: Heimatmuseum von Siegfried Lenz, Zunehmendes Heimweh von Silvio Blatter und Heimatlob von Martin Walser. Autoren und Kritiker diskutieren Heimat, zuletzt in größerem Rahmen sogar beim Avantgardefestival “Steirischer Herbst” 1979 in Graz. Die Frankfurter Anthropologin Ina-Maria Greverus ist Auf der Suche nach Heimat, wie der Titel ihres Buches lautet, und eine Reihe weiterer Publikationen beschäftigen sich ebenfalls mit den Thema “Heimat” und “Provinz”, Begriffe die, wie man weiß, lange diskreditiert waren.[1]
Besonders in Österreich wurde in den siebziger Jahren Heimat immer wieder thematisiert, und es ist in Anbetracht der zahlreichen Neuerscheinungen auf diesem Gebiet nicht unbegründet, geradezu von einer Mode der “neuen” Heimatliteratur zu sprechen. Diese Heimatliteratur steht in deutlichem Widerspruch zur traditionellen Heimatliteratur. Es geht nicht um die Darstellung einer heilen Welt, in welcher sich der Protagonist wohl fühlt, der ländlich-bäuerliche Raum wird als kaputt denunziert, die Natur ist eine bösartige, es werden die Leerstellen unter den Menschen aufgezeigt.. Die Beziehung der Familienmitglieder untereinander ist eine kritische, es wird nicht die Liebe zum heimatlichen Boden aufgezeigt, sondern es dominieren Hassgefühle. Für diese neue Art von Heimatliteratur hat sich der Begriff Anti-Heimatliteratur eingebürgert.
Koppensteiner definiert die Anti-Heimatliteratur wie folgt:
Als Anti-Heimatliteratur ist jene Heimatliteratur zu verstehen, in der man zwar die Gestalten und Requisiten der traditionellen [] Heimatliteratur findet, also Bauern, Knechte und Mägde, den Bauernhof, das abgelegene Tal, Berge, Bäche, den Wald, die aber keine Heimatbezüge im traditionellen Sinn aufweist. Es geht also nicht um Liebe zur Heimat, um die Harmonie des ländlichen Lebens, um Brauchtum oder um Abwehr einer feindlichen, meist städtischen Gegenwelt. Anti-Heimatliteratur will vielmehr negative Zustände in der Heimat, im ländlich-bäuerlichen Milieu, aufdecken. Sie richtet sich dabei keineswegs gegen Heimat; sie setzt nur einen anderen Heimatbegriff voraus.[2]
Überblick über die Antiheimatromane der österreichischen Literatur
Die Welle der Anti-Heimatromane der siebziger Jahre ist nicht isoliert zu sehen. Schon zwischen 1960 und 1970 entstanden Werke, welche die österreichische Provinz zum Thema haben und eine Antithese zum traditionellen Heimatroman darstellen, wie ich es im vorigen Kapitel schon gezeigt habe.. In diesem Zusammenhang sei auf den 1967 erschienenen Roman Fasching von Gerhard Fritsch verwiesen, welcher die traditionellen Ehr- und Wertvorstellungen in einer österrreichischen Kleinstadt als pervertiert aufzeigt. Wie für Fritsch ist auch für Hans Lebert die österreichische Provinz ein Nährboden Aggressionen reduziert. Die Dorfgemeinschaft ist bei Innerhofer in seinem Roman Schöne Tage ein Modell an Negativität.
Es sei kurz auf diesen Roman verwiesen, der in den nächsten Kapiteln weiter vertieft wird. Die Menschen sind bei Innerhofer intolerant und heimtückisch, die Kinder sind voll von Bosheiten, die Alten tyrannisieren die Jungen, die Dienstboten sind heimtückisch.[3] Die kirchlichen Würdenträger werden als wilde Tiere beschrieben: „Die Priester gingen wie böse Stiere, die man mit verbundenen Augen in das Schlachthaus führt, durch die Tage.[4]”
Sehr kritisch verfährt Innerhofer in den Schönen Tagen mit Religion und katholischer Kirche. Der Pfarrer, eine der negativsten Gestalten dieses Romans, gehört der Kaste der Unterdrücker an. Er hilft nur den sogenannten Besseren. Mit ihm und all den anderen steckt auch der Himmelvater unter einer Decke, ja Himmelvater und Großvater verschmelzen bei Holl zu einem überall lauernden Ungeheuer, Der Großvater hat durch Habgier die Zustände herbeigeführt und ist so an allem schuld. Aber die Kirche sanktioniert die Mißstände, unterdrückt die Armsten und ist offenbar nur darauf aus, ihre Schande aufzudecken und sie zu verstoßen. Nur das,Jesukind ist für Holl vertrauenserweckend. Bei ihm sucht er Zuflucht und mit ihm kann er sich identifizieren, da es aus seiner Sicht ebenso hilflos ist wie er selbst.
Für Holl gibt es nur zwei Kategorien von Menschen. Die einen sind seine Unterdrücker, die anderen seine Leidensgefährten, denen er sich zugehörig fühlt. Seine Unterdrücker kennt Holl (und mit ihm der Leser) nicht von ihrer Person, sondern lediglich von ihrer Funktion her. Den Bauern nennt er nur unter Zwang „Vater,” sonst ist er „der Bauer” oder einfach „er.” Die Stiefmutter ist stets „die Bäuerin.” Zu den „Unterdrückern” gehören noch die Lehrer, der Schuldirektor, der Arzt und vor allem der Pfarrer. Keine dieser Personen wird aus Holls Sicht mit Namen genannt. Es gibt keine Beziehungen. Namen haben hingegen die Dienstboten. Nur sie, vor allem Helga, die Aushilfsköchin, sind für Holl Bezugspersonen.
Die Natur ist Holl als möglicher Zufluchtsort versperrt, weil sie ihm von frühester Kindheit an feindlich gegenübersteht. Er erlebt sie stets nur in engstern Zusammenhang mit Arbeitsgängen, die seine Kräfte übersteigen. An einem Vorbild für eine andere Naturbeziehung fehlt es. Die seines Vaters, des Bauern, äußert sich als dumpfes Besitzstreben, das den Wert des Viehs weit über jenen der Menschen stellt. So nimmt es nicht wunder, dass Holl alias Innerhofer sich als Heimatloser empfindet. „Das Dorf,” so reflektiert der Erzähler in den Schönen Tagen einmal, „war schon so ungeheuer fremd. Man ging nur hinein oder (durch, wenn man musste, dann tastete man die Häuser außen ab und verhielt sich schüchtern. Man lernte sparsam mit der Hoffnung umzugehen. Man war in der Fremde beschäftigt mit der Fremde”. Dabei lassen Holl die Gedanken an Heimat nie los. „Heimat ist doch ein lustiges Wort,” versucht er sich einmal bei einer Bahnfahrt einzureden, „kein dummes, ein wichtiges Wort, in dem man sich zu Hause fühlen kann. Heimat ist ein Wort,… in dem sich alle zu Hause fühlen können.” Dass er dann in einem Atemzug Heimat mit Abort gleichsetzt, wo er sich durch den Spiegel mit den Worten „Das ist deine Heimat!” anherrscht, bedeutet somit keine Abwertung oder Verunglimpfung von „Heimat,” wohl aber Ernüchterung, ja Verbitterung darüber, dass es gerade ihm verwehrt ist, Heimat zu erleben.
Die Kommunikationslosigkeit der Menschen auf dem Lande, der dort herrschende Kleingeist und die Monotonie des Arbeits-, Fernseh- und Konsumlebens sind Hauptanklagepunkte nicht nur bei Franz Innerhofer, sondern auch bei anderen Anti-Heimat-Autoren wie Haid, Scharang und Wolfgruber.
Der Tiroler Hans Haid, nach seinem preisgekrönten satirischen Roman Abseits von Oberlangdorf als Peter Rosegger 1974 gefeiert, legt die Unzulänglichkeiten in einem Dorf bloß, dessen Bewohner den Übergang von einer genügsamen Agrargesellschaft zu einer mondänen Fremdenverkehrsgemeinde nicht verkraften. Seine „illusionslose Monographie eines Dorfes,”[5] wie der Autor seinen Roman nennt, ist eine Abrechnung mit der Selbstzufriedenheit der Dorfbewohner, die das Ansehen ihres Ortes in aller Welt steigern wollen, indem sie protzige Gasthäuser, Seilbahnen und ein Hallenbad bauen, dabei aber seelisch verkümmern, dem Alkohol verfallen und als Gemeinschaft total versagen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine als willig, ehrlich und sparsam gezeigte Magd, die von einem reichen Bauernsohn verführt und stehengelassen wird. In der Nacht, als ihr Kind zur Welt kommt, streitet dessen großtuerischer, aber schwachherziger Vater über den Ankauf einer neuen Schweinerasse: die Ironie ist offensichtlich. Die Magd verfällt einer dumpfen Melancholie und tötet ihr Neugeborenes. Das Dorf weidet sich an ihrem Unglück, stempelt sie zur Hexe und verwandelt ihr Begräbnis in einen Feiertag.
Die stärksten Attacken auf das Dorf kommen von der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Sie provoziert bewusst, wenn sie ihren Heimatroman Die Liebhaberinnen, so beginnen läßt: „kennen Sie dieses SCHÖNE land mit seinen tälern und hügeln? es wird in der ferne von schönen bergen begrenzt. es hat einen horizont, was nicht viele länder haben. kennen Sie die wiesen, äcker und felder dieses landes? kennen Sie seine friedlichen häuser und die friedlichen Menschen darinnen?”
In diesem schönen Tal mit den guten Menschen gibt es allerdings knapp zwanzig Seiten später „ein allgemeines hassen im ort, das immer mehr um sich greift, das alles ansteckt, das vor keinem halt macht.”[6]
Die Landbevölkerung dämmert bei Jelinek ebenso dahin wie bei Innerhofer. Sie hat keine Interessen; wie könnte sie auch, denn die Leute wissen nicht einmal, “dass sie überhaupt so etwas wie ein interesse haben könnten.” So gibt es aus diesem schönen Tal im Grunde nichts zu berichten, außer dass jeder jeden hasst oder, wie es die Erzählerin schadenfroh-zynisch formuliert: „es ist ein lustiges hassen in dieser talsohle.”[7]
Das Kleine-Leute-Dasein, der enge Provinzalltag sind auch das Thema von Gernot Wolfgrubers Roman Herrenjahre. Für Bruno Melzer, den Anti-Helden dieses Buches, sind es aber eher Fronjahre, die er in einem niederösterreichischen Ort abdient. Obwohl auch er Heimat in Absenz erlebt, entwickelt er ein Heimatgefühl. Das zeigt sich darin, dass auch er dem dörflichen Konkurrenzverhalten ausgeliefert ist. Melzer läßt sich von seiner krebskranken Frau zum Hausbau animieren. Dort spart ein Vater, der Landarbeiter, sein Leben lang für ein Stück Grund, auf dem sich der Sohn dann sein Haus bauen soll. Aber der geldgierige Sohn des Bauern bricht sein Versprechen, als der reiche Dorfarzt ein Auge auf das Grundstück wirft und mehr Geld bietet. Die Familie des Landarbeiters muss sich mit einem minderwertigen Baugrund am Rande des Dorfes zufrieden stellen. In seinem Männlichkeitswahn beginnt Wurglawetz tatsächlich, sein Haus zu bauen, verstrickt sich dabei in Diebstähle, die ihn am Ende, nicht ganz glaubwürdig übrigens, zum Selbstmord treiben.
So zeigt sich, dass bei aller Verschiedenheit in der Darstellung in allen Anti-Heimatromanen dasselbe Thema abgewandelt wird. Das Leben auf dem Lande, so lautet die Botschaft, ist häßlich. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um einen abseits gelegenen Bauernhof, ein Dorf oder um eine Kleinstadt handelt. Diese so totale Abrechnung mit dem ländlichen Raum, wie sie etwa Innerhofer oder Jelinek vornehmen, sind neuartig in der Literatur zu werten. .
Die Kritiker stellen sich die Frae, worin der Beitrag dieser negativen Heimatliteratur liegt. Das unerwartet Exotische, die Schocknachrichten aus einer mitteleuropäischen Provinz, die man bisher mit grünen Almen, frischer Luft und glücklichen Kühen identifizierte, wo aber ausbeuterische Zustände herrschen, hat den radikalen Anti-Heimat-Autoren, besonders Franz Innerhofer zu Ruhm verholfen. Die Autoren von Anti-Heimatliteratur verwenden Klischees. So darf es nicht wunder nehmen, dass sie mit ihrer „Botschaft” den Leser langweilen. Dies trifft besonders auf jene Werke zu, in denen eine Überdosierung der Mittel offensichtlich ist, ob es sich nun um die Wut und den beißenden Spott bei Jelinek handelt oder um die Rührstückatmosphäre in Scharangs Dorfgeschichte. Innerhofer selbst kann man den Vorwurf der Klischeebildung nicht ersparen, wenn er pauschal alle Unternehmer als Ausbeuter und die Bauern als Folterknechte hinstellt, Institutionen wie Staat, Kirche und Schule grundsätzlich verteufelt und die Masse der ländlichen Bevölkerung als sprachlose Sklaven hinstellt. So besteht die Gefahr, dass die Anti-Heimatliteratur trotz aller Verdienste, die sie sich durch die Demontage vom Mythos des romantischen Landlebens erworben hat, der Vergessenheit anheimfällt, bevor sie die Aufgabe, die ihr ihre Autoren zugedacht haben, richtig erfüllen konnte. Es ist dies eine erzieherische Aufgabe. Anti-Heimat-Autoren stellen sich in den Dienst derer, die zur Sprachlosigkeit verurteilt sind. Sie wollen mit ihren Romanen aufrütteln, das Schweigen brechen und an die Menschen ihrer Heimat, die sie als Knechte, Landarbeiter oder Lehrlinge kennengelernt haben, herankommen und mithelfen, diese aus ihrer Passivität herauszuführen. Sie wollen das Bewusstsein der Landbevölkerung heben, Sprachlose zur Sprache bringen und Denkanstöße vermitteln.[8]
Können Menschen, denen ihr Scheitern gar nicht bewusst ist, mit Hilfe von Literatur erreicht werden? Auch ist es nicht zu übersehen, dass sämtliche Helden der genannten Anti‑Heimatromane letztlich scheitern, was sich mit dem pädagogischen Ziel, das ihre Autoren sich gesetzt haben, nicht vereinbaren lässt. Holl gelingt es zwar, wie Innerhofer selbst, sich nach elf Jahren der „Leibeigenschaft” vom Bauernhof loszureißen und eine Lehre zu beginnen. Allerdings erfüllen sich, wie Schattseite und Die großen Wörter, die Fortsetzung der Schönen Tage, erkennen lassen, die Erwartungen und Hoffnungen des Helden auch dort nicht. Die Gründe für das soziale Elend werden in den erwähnten Anti-Heimatromanen unzureichend dargelegt. Auch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, es sich bei den Lebensläufen der Heiden Innerhofers, Wolfgrubers, Scharangs und Jelineks durchwegs um solche jüngere Menschen handelt, denen die Sozialisation nicht gelingt, die aber die Schuld für ihr Scheitern weniger bei sich selbst als in ihrer Umgebung, in ihrer Heimat suchen. Trotz dieser Schwäche der Anti-Heimatliteratur und obwohl sie ihr Ziel, die „schwitzende Mehrheit” direkt zu erreichen, doch eher verfehlt haben dürfte -Bewusstlose lesen eben keine Bücher —, so ist es ihren Autoren doch gelungen, einen breiten Leserkreis auf die nicht immer und überall erfreuliche soziale Realität auf dem Lande, auf all die Beschränktheit und Aussichtslosigkeit, die dort vielfach noch herrschen, aufmerksam zu machen. Und auch wenn Literatur die soziale Wirklichkeit, die sie beschreibt, nicht verändert, kann sie zumindest, wie Gernot Wolfgruber bemerkt, verhindern, dass man sie vergisst.[9] Hierin liegen Chance, Aufgabe, aber auch die Bedeutung der radikalen Anti-Heimatliteratur der siebziger Jahre.
[1] Ina-Maria Geverus, Auf der Suche nach Heimat, München : Beck, 1979.
[2] Koppensteiner, Jürgen (1981): Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman Schöne Tage. In: Die Unterrichtspraxis 14/1981, 10.
[3]l dazu die Sprache der Protagonisten in Franz Innerhofers: Schöne Tage. Roman, S 12
[4] Franz Innerhofer: “Schöne Tage” Salzburg: Residenz, 1974, S 25.
[5] “200 Autoren beim Peter-Rosegger-Wettbewerb: Hans Haid erheilt Preis”, in: Neue Voralberger Tageszeitung 30.1.1975, s. 6.
[6] l. Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen. Roman. S 24
[7] Ibid. S 75
[8] l. Ulrich Greiner: “Der Wortarbeiter. Porträt” (München,1979) 104 f
[9] Zitiert nach: Renate Schostack: “Danubisches. Österreichische Literatur, französich gespiegelt,” in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.7.1976
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