Am Beispiel der Projektion läßt sich verdeutlichen, daß individualpsychologische Prozesse der Fremdwahrnehmung bei der Bildgenese eine fundamentale Rolle spielen - Xenophobie und Faszination besitzen die gleiche Wurzel: Es sind die eigenen, nicht zugelassenen Wünsche und Gefühle, die als Fremdes dem Ich gegenübertreten. Eine solche individuelle Mitgift ist immer schon kulturell und sozial vermittelt. Die latenten innerpsychischen Dispositionen füllen und manifestieren sich im Prozeß der Sozialisation, das Subjektive gewinnt erst Gestalt, indem es sich der rgefundenen und rgcformien Bildersprache des Fremden bedient.
Seit dem 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert wirkt die nationale Zugehörigkeit als der wohl umfassendste Rahmen, der das Fremde m Eigenen absetzt. Die Herausbildung des Nationalstaates mobilisiert die Gemeinsamkeit aller Angehörigen der jeweiligen Nation und verändert damit zugleich den Begriff des Fremden: Die (freilich nie restlose) Einebnung ethnischer, regionaler und auch konfessioneller Unterschiede läßt jetzt die Angehörigen der anderen Nation, die Ausländer, als fremd erscheinen. Denkt man etwa an die Formierung des deutschen Nationalbewußtseins beim "Turnvater Jahn zur Zeit der Befreiungskriege, so wird deutlich, in welchem Maße es im Sich-Absetzen m "welschen Wesen Profil gewinnt. Die verspätete Nationalstaatsbildung, die zudem eine Vielzahl höchst disparater Kleinstaaten zusammenfügen muß. kann die besondere deutsche Aggressivität bei der Ausgrenzung des Anderen und Fremden - bis hin zum Völkermord an den Juden - wenigstens zum Teil erklären.
Diese deutsche Sonderenlwicklung bleibt trotz aller im "Historikerstreit versuchten Relativierungen in ihrer Brutalität einmalig. Prinzipiell gilt jedoch für alle Nationalstaaten, daß sie sich nicht nur über ihre historischen und kulturellen Eigenheiten definieren, sondern immer auch im Abgrenzen m Anderssein der Anderen. Faszination und Abwehr der fremden Kultur liegen dicht nebeneinander; das Überschreiten des Gewohnten und Eigenen kann, indem es im Sinne n Balinls Studie "Angstlust und Regression (1972) so etwas wie Angstlust erzeugt, selbstverständlich gewordene Sicherheiten und Routinen aufbrechen und neue Erfahrungsräume erschließen. Es kann aber auch, wenn sich die Ambivalenz der Gefühle auf die Angst verengt, das Ich gefährden und in aggressive Abwehr umschlagen. Feindbilder, wie sie z.B. in (Vor-) Kriegszeiten auftauchen, leben n der Reduktion der Ambivalenz auf den Angstanteil: die relative Offenheit gegenüber dem Anderen verschwindet oder wird zum Verschwinden gebracht. Schlagartig kann dann die Kehrseite zur positiv besetzter Elemente einer anderen Lebensform rherrschend werden: das insbesondere n Deutschen so bewunderte sair-vivre der Franzosen erscheint dann als dekadente "Weichlichkeit, n der sich die deutsche militärische Härte wirkungsll abheben läßt. Feindbilder setzen raus, daß Konflikte innerhalb der eigenen Nation geleugnet werden, und erzwingen eine Homogenität, die soziale Unterschiede ausblendet: Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des 1. Weltkriegs: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!
In Zeiten krisenhafter Zuspitzung gibt es offensichtlich in verstärktem Maße so etwas wie ein vereinheitlichtes, nationales Feindbild. Bei "normalen zwischenstaatlichen Beziehungen sind Fremdbilder jedoch keineswegs einheitlich. Die nicht zuletzt auch in der Wissenschaft geläue Formel n dem Frankreich-, England- oder Amerikabild der Deutschen täuscht über die Gruppengebundenheit n Bildern hinweg. Wer sich vergegenwärtigt, welches Deutschlandbild in der (n den Deutschen vertriebenen) jüdischen Intelligenz an der Ostküste der USA rherrscht und welche Vorstellungen - wenn überhaupt -sich Hispanos im Westen der USA n Deutschland machen, dem wird der Nexus zwischen Fremdbild und Gruppen- bzw. Milieuzugehörigkeit sofort einleuchten. Die Bild- und Stereotypenforschung hat eine Reihe n Einzeluntersuchungen rgelegt, die sich jedoch außer in der Literaturwissenschaft nicht mit Bildern, sondern mit einzelnen Stereotypen befassen, und hat zudem kaum vergleichende Analysen gruppenspezifischer Fremdbilder einer Gesellschaft in Angriff genommen. Damit fehlen auch unserem Versuch einer differenzierenden Darstellung verläßliche empirische Grundlagen. Wir bewegen uns also nur im Bereich der Plausibilität. wenn im folgenden eher exemplarisch die Gruppenspezifik n Fremdbildern verdeutlicht wird.
Die Amerika-Büder eines Wolfgang Koeppen, mit denen wir dieses Kapitel einleiteten, sind als Produkt eines gebildeten Intellektuellen und (Reise-) Schriftstellers ein Sonderfall. Sein literarischer Reisebericht zeichnet sich aus durch einen reichen Fundus an Kenntnissen und Vorbildern, die Integralion unterschiedlichster Erfahrungsräume und nicht zuletzt durch die Reflexion der subjektiven Bedingungen seiner Amerikawahrnehmung. Die Bilder n Nicht-Reiseschriftstellern sind schon dadurch, daß sie zum Alltagsbewußtsein gehören, schlichter. Alltagsroutine und -Verständigung operieren notwendigerweise mit Simplifizierungen und Typisierungen und verzichten in der Regel auf die Problematisierung, zumal wenn es um eher im Hintergrund des Bewußtseins präsente Fernwelten geht, die kaum in den unmittelbaren Relevanzbereich des Ich treten.
Was die Schichtspezifik der Fremdbilder betrifft, so gilt generell, daß das Wissen m Fremden und Fernen in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist. Ohne Beigeschmack moralischer Wertung kann man dan ausgehen, daß wegen der geringeren Lebens- und Bildungschancen, aber auch aufgrund eines räumlich enger gefaßten Lebenshorizonts bei den unteren Schichten der Nahbereich dominiert und umgekehrt die Fremdbilder vergleichsweise rudimentär ausfallen. In den Mittel- und Oberschichten wächst mit steigendem Wohlstand und entsprechenden Bildungsmöglichkeiten die Offenheit und Reichweite der Fremdwahrnehmung. Über den Zusammenhang n sozialer Schichtzugehörigkeit und Toleranz oder Fremdenfeindlichkeit ist damit freilich noch nichts gesagt. Dieser entscheidet sich letztlich nicht im Reich der Bilder und Vorstellungen, sondern im konkreten sozialen Raum (z.B. auf dem Arbeitsund Wohnungsmarkt), wo sich Angehörige unterschiedlicher Kulturen unter den Bedingungen der Konkurrenz oder mit der Möglichkeil zur Toleranz begegnen.
Mit Koeppen haben wir bereits einen Vertreter jener Gruppe n Intellektuellen herausgegriffen, deren Amerikabild sich in den späten 60er und 70er Jahren radikal veränderte. Gerade die Intellektuellen als wichtige Repräsentanten der veröffentlichten Meinung können als Beispiel dienen, wie unterschiedlich sich in diesem Zeitraum die Bilder bereits einer einzigen gesellschaftlichen Gruppe ausprägen. Während bei Koeppen in den späten 50er Jahren noch ein vergleichsweise freundliches Amerikabild dominiert, schlägt mit dem Vietnamkrieg und der Politisierung der Bundesrepublik durch die 68er-Bewegung die Stimmung um. Antiimperialismus und Antimilitarismus werden als Antiamerikanismus ("Ami go home!) formuliert. Mit der radikalen Abwertung des offiziellen und repräsentativen Amerika kommt ein neues, anderes Amerika in den Blick: die amerikanische Protestbewegung (exemplarisch verdichtet etwa im Woodstock-Mythos) und die Neuen Sozialen Bewegungen in den USA lassen bisher nicht existierende Verbindungen entstehen und erweitern das bisherige Amerikabild. Die spektakulären Begleiterscheinungen dieser vieldiskutierten Antiamerikanismus-Variante sollten jedoch nicht verdecken, daß andere Fraktionen der Intelligenz, wie etwa Techniker und Naturwissenschaftler, n den neuen Bildern der USA weitgehend unberührt blieben. In diesen durchaus unterschiedlichen Akademiker-Milieus orientierte man sich weiterhin an Nordamerika als der führenden Technologie-, Wirtschafts- und Wissenschaftsnation. Daß dies auch für die Wirtschaftselite der Bundesrepublik gilt, bedarf keiner besonderen Herrhebung. Es muß offen bleiben, ob - und wenn ja, wie - der kritische Blick auf Amerika n der schweigenden Mehrheit anderer sozialer Schichten angeeignet wurde und inwiefern er sich auf die gruppenspezifischen Gesamtbilder n der Neuen Welt ausgewirkt hat.
Diese knappe Skizze nur einer Bildkomponente (linke Amerikakritik der 60er/70er Jahre) sollte verdeutlichen, wie wenig haltbar die globale Rede n dem Bild eines Landes oder einer Bevölkerung ist. Und dabei sind selbst die kritischen Amerika-Bilder der Neuen Linken keineswegs so homogen, wie sie zunächst rgestellt wurden. Um maßgeblich in die Debatte verwickelte deutsche Literaten zu erwähnen: Als Reinhard Lettau in seiner Dokumentation "Täglicher Faschismus (1972), einer Zusammenstellung n amerikanischen Zeitungsberichten und Kommentaren aus sechs Monaten, den seiner Meinung nach herannahenden Faschismus in den USA zu belegen versuchte, da protestierte nicht nur Peter Handke gegen ein Verfahren, das dem einzelnen "die Mühe des eigenen Wahrnehmens (Karasek 1972. 90) abnimmt. Kontroversen löste auch der offene Brief n Hans Magnus Enzensberger an den Präsidenten der Wesleyan University im Jahre 1968 aus, in dem der damalige Herausgeber der Zeitschrift "Kursbuch seine Gründe darlegte, warum er Amerika verlasse und auf das ihm verliehene Stipendium verzichte. Bekannt wurde r allem die Antwort n Uwe Johnson, unter den zeitgenössischen deutschen Schriftstellern einer der besten (und gewiß kein unkritischer) Kenner der USA. Im zweiten Band des Romans "Jahrestage (1971) läßt er seine Hauptur Gesine Cresspahl den schneidigen Brief Enzensbergers Satz für Satz zerpflücken und abschließend ironisch kommentieren:
Jetzt handelt Herr Enzensberger. Jetzt verläßt er eine kleine Stadt nördlich n New York und fährt nach San Francisco zu und n da auf eine Reise rund um die Welt (Johnson 1988. 802).