Die traditionelle Stereotypenforschung ging vom mangelnden Realitätsbezug von Vorurteilen aus und diskutierte die Unangemessenheit von Stereotypen (Pauschalisierung. hohe rallgemeinerung) im Hinblick auf ein vorausgesetztes Wahrheitspostulat. Der pädagogische Optimismus der Völkerverständigungskonzepte beruhte somit auf der Überzeugung, daß durch Aufklärung. Wissensvermittlung und konkrete Begegnung Fehlurteile abgebaut und mit der Wirklichkeit weitgehend in Übereinstimmung gebracht werden könnten. Es scheint uns dagegen sinnvoller, die Subjekte ins Zentrum zu rücken. Wirklichkeit konstruiert sich ja erst in der Erfahrung durch diese Subjekte und ist im wissenssoziologischen rständnis (vgl. Bcrger/Luckmann 1989) das sich wandelnde Konstrukl der Gesellschaft.
Die Frage lautet hier also nicht: Wie kongruent, oder besser, wie inkongruent sind Stereotyp und normativ gesetzte Wirklichkeit, sondern welche Bedeutung haben die Bilder des Fremden für die Subjekte? Wir gingen von der Hypothese aus, daß die schwer zu übersehende affektive Besetzung von Fremdbildern in psychoanalytisch zu fassenden Projektionen begründet ist. Im Fremden begegnet uns, wie gesagt, das nicht zugelassene Eigene. Beispiele für den aufschließenden Erkenntniswert dieses Ansatzes bieten nicht zuletzt die seit Jahrhunderten sich durchhaltenden europäischen Wahrnehmungsmuster der Neuen Welt. Während vor allem Mittelcuropäer Bedürfnisse nach Mobilität, Unabhängigkeit und Entgrenzung kulturbedingt kaum ausleben können, ermöglicht ihnen das Bild von amerikanischer Freiheit und Weite - selbst schon eine Interpretation historischer Gegebenheiten - die Projektionsfläche unterdrückter Wünsche. Das gleiche Objekt zieht gegensätzliche und auch ambivalente Affekte auf sich. Die gleiche Projektion kann sich aufspalten in eine amerikanische Wunschwelt oder in die aggressive Abwehr des Landes. Wird die bildvermittelte Vorstellung von Unabhängigkeit und Grenzenlosigkeit angstvoll erlebt, d.h. als ein Erschrecken über die Realisierung eigener Freiheitswünsche, so bieten sich altbewährte europäische Topoi wie Bindungs- und Be-ziehungslosigkeit oder Maßlosigkeit als aggressive Abwertung Amerikas und der Amerikaner an (vgl. Raeithel 1984). Daß das gleiche Objekt so konträre Gefühle hervorrufen kann, zeigt noch einmal, welch geringe Rolle dieses Objekt und welch maßgebliche das Subjekt und seine Dispositionen dabei spielen.
Abgrenzung vom Fremden wird häu ausschließlich negativ als rdrängung und rleugnung bewertet. Das verkennt die fundamentale Notwendigkeit, das Ich vom Anderen abzuheben und aus der Differenz das eigene Ich zu silisieren. Das gleiche gilt, wie bereits ausgeführt, auch für soziale Gruppen, Nationen und Kulturkreise. Solche Grenzziehungen halten auch die Angst vor Identitätsverlust in Grenzen. Positiv gewendet erlauben sie, als definiertes Ich einem ebenso konturierten Ich gegenüberzutreten, den Anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren und dabei, wie Helmuth Plessner es formulierte, "ein rtrautwerden in der Distanz zu erreichen. Fremderfahrung silisiert somit nicht nur das Ich. sondern führt aufgrund ihrer Ambivalenz zu seiner realen oder potentiellen Erweiterung. Gerade darin liegt ja die Faszination des Reisens oder des Kulturaustauschs, daß aus der Spiegelung des Eigenen im Fremden ebenso Bestätigung wie neue Spielräume zu gewinnen sind. Wenn Angst statt Lust vorwiegt und in solchen Begegnungen überhand nimmt, dann ensteht aus Mangel an festigendem Eigenbewußtsein eine Überbetonung der Distanz zum Fremden. Auch dies silisiert das Identitätsgefühl des Ich (von Gruppen und Nationen), es ist jedoch eine Selbstbehauptung, die die Aufwertung des Eigenen vor allem aus der Abwertung des Anderen bezieht. Denkt man zurück an unsere Anmerkung, daß bestimmte soziale Gruppen und Milieus eine nicht ganz zufällige Präferenz für bestimmte Länder entwickeln, dann tritt eine weniger psychische als soziale Funktion von Fremdbildern in den Bück. Unterschiedlichen Ländern werden ebenso unterschiedliche Prestigewerte zugeschrieben: Bodenständigkeit oder Exotik, Bildung oder Freizeit, organisierter oder Individualtourismus - dieses höchst differenzierte Urlaubsverhalten drückt nicht nur spezifische Bedürfnisse und ökonomische Möglichkeiten aus, sondern funktioniert zugleich als ein subtil eingespieltes Zeichensystem sozialer Distinklion. Ob ein Bundesbürger sich für Österreich oder den Odenwald, für die Karibik, Teneriffa oder die USA entscheidet, immer sind solche Interessen Teil des Schicht- und gruppenspezifischen Lebensstils.
Wir haben bei unseren Überlegungen zum Fremdbild nicht Objekt- (d.h. die Länder und ihre "Realität betreffend), sondern subjektbezogen argumentiert. Fragen des Bilderwerbs, der Gruppenspezifik, der Funktion von Bildern eröffnen den Blick auf die subjektive Innenseite der Fremdvvahrnehmung.
Zur rlagerung der Fragestellung hat zweifellos die wachsende Erkenntnis beigetragen, daß Vorurteile und stereotypisierte Vorstellungen durch rationale Belehrung, Aufklärung und differenzierende Darstellung allein kaum abzubauen sind. Die bis heute überwiegend negative Sicht der Stereotypisierung als realitätsferner rallgemeinerung erscheint weniger berechtigt, wenn man sich klarmacht, in welchem Umfang das Alltagsdenken auf denkökonomische reinfachungen und Schematisierungen angewiesen ist, um handlungsfähig zu bleiben. Zugespitzt formuliert: Nicht das Stereotyp ist ein Sonderfall, sondern die Fähigkeit, relativ entstereotypisiert zu denken und wahrzunehmen. Eine solche Offenheit resultiert aus einem Lernprozeß, der, wie gezeigt, bereits in früher Kindheit beginnt und nicht nur kognitiv vermittelt ist, sondern immer auch an affektive Dispositionen und Funktionen, d.h. an die Subjekte gebunden bleibt.
Natürlich fragen wir uns nicht ohne Unruhe, inwieweit der vorliegende rsuch interdisziplinären Zusammendenkens in einer nicht zu leugnenden deutschen Wissenschaftstradition diese Offenheit aufweisen oder bewirken kann. Auch für uns gilt, daß wir entsprechende Vorurteile, Stereotype und Bilder von Amerika und den deutschen rhältnissen mitbringen und bei aller Bemühung um Differenzierung und Reflexion nicht einfach eliminieren können.