Europa: Identitätssuche
Der Sonderweg Europas wird von Osterhammel (1996, S.287) als "Königsfrage der Sozialgeschichte bezeichnet. Die Frage ist bisher strittig geblieben, wieso gerade dieser politisch so stark zersplitterte Kulturerdteil Europa zuerst als Entdecker des Globus aufgetreten ist und dann in einer weltumspannenden Expansion von Menschen und Kapital weite Teile der Erde beherrschen und überdies mit immer neuer innovatir Kraft geistige und materielle Güter erzeugen und exportieren konnte.
Dieser als "Europäisierung der Erde bezeichnete Vorgang in der Neuzeit ist als ein umfassendes Syndrom von "Exporten aufzufassen, beginnend mit dem wissenschaftlichen Interesse an der Vermessung und Erschließung des Globus, der darauf folgenden Eliminierung der zahlreichen weißen Flecken auf den Atlanten durch topographische Karten und mit dem synchron vor sich gehenden Ausgreifen europäischer Handelsinteressen sowie den Missionierungsoffensin der Kirche. Politische und ökonomische Faktoren brachten schließlich die massenhafte Auswanderung europäischer Bevölkerung in Gang und damit die Ausbreitung von europäischen Sprachen, Institutionen, Technologien und Produktionsweisen, gesellschaftlichen Normen und Wertesystemen in großen Teilen der Erde (Stourzh 2002).
Gerade diese enorme, von Europa ausgehende Dynamik in der Neuzeit, welche die heutige westliche Welt weitgehend geschaffen hat, macht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts schwierig, die politische und kulturelle Identität von Europa gegenüber den europäischen "Neuländern abzugrenzen und die "europäische Identität zu spezifizieren. Von C. F. von Weizsäcker stammt der Ausspruch, dass sich Europa von San Francisco bis Wladiwostok erstreckt, weil sowohl die USA als auch die ehemalige Sowjetunion europäische "Auswüchse darstellen (Sloterdijk 2002, S.29).
Nun hat sich die geopolitische Stellung Europas in der Welt durch die beiden Weltkriege entscheidend geändert. Europa hat seine globale Position rloren. Die Machtzentren der Erde sind nach Nordamerika und Russland weitergewandert. 1945 wurde Europa trotz aller Bestrebungen de Gaulles für "das Europa der Vaterländer in der Zeit des Kalten Krieges als eine Art "geopolitisches Glacis zwischen den USA und der Sowjetunion aufgeteilt (Abb.1.6). Die Frage nach der Identität eines derart geteilten Europa wurde nicht gestellt. Die Existenz der östlich des Eisernen Vorhangs gelegenen Teile Europas blieb im westlichen Europa weitgehend ausgeblendet.
1953 schrieb Dawson (S. 8^): "Nur wenige von uns kennen Osteuropa, noch wenigere können seine vielen Sprachen lesen oder sprechen und ganz wenige nur besitzen eine umfangreichere Kenntnis seiner Geschichte und seiner kulturellen und religiösen Überlieferung. Zwischen Russland, Deutschland und der Türkei wohnt fast mehr als ein Dutzend europäischer Völker, von denen wir kaum etwas wissen und deren Geschichte in der Allgemeinbildung des gewöhnlichen Europäers einfach fehlt.
Erst nach dem Mauerfall 1989 und den "samtenen Revolutionen in den ehemaligen C0MEC0N-Staaten begannen sich Politiker, Journalisten und Wissenschaftler sehr schnell mit diesem wieder entstandenen "Kulturkontinent zu befassen. Die Frage nach der Identität von Europa hatte einen neuen geopolitischen Rahmen gefunden und einen wichtigen Stellenwert erhalten. Bei der Beantwortung dieser Frage wurden die Ergebnisse des Experiments der Teilung ausgeblendet.
Man kehrte in der Diskussion und Analyse dorthin zurück, wo alle Erkenntnisse sicher gespeichert erschienen, nämlich zur Geschichte Europas vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Suche nach einer europäischen Idee in der Geschichte begann (vgl. u.a. "What is Europe? von Kevin Wilson und Jan van der Tussen, London, New York 1993, k Bände). Sie wurde bald zu einer Suche nach der Identität von Europa vor dem Hintergrund der Europäischen Union (Hecker 1991, Isensee 1993) und führte einerseits in die kulturelle und andererseits in die politische Richtung. Die kulturelle Dimension griff auf Grundkategorien zurück, welche schon in der älteren Diskussion immer wieder im Zentrum des Interesses standen, nämlich Christentum und Aufklärung. Letztere rband sich mit den Ideen der politischen Freiheit und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Diese Kategorien hat Europa jedoch keineswegs mehr gepachtet, sondern teilt sie mit der übrigen westlichen Welt. Eine Spezifizierung ihrer "europäischen Bedeutung ist daher erforderlich.
Der Kontinent der Polarisierungen und Innovationen
Während Europa über Jahrhunderte Ideen, Menschen und Kapital exportiert hat, blieb es im Inneren durch Polarisierung und Fragmentierung gekennzeichnet. Durch die Geschichte bis zur Gegenwart herauf besteht eine paradox anmutende Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Phänomenen, eine Tendenz zu ausgeprägter Polarisierung im kulturellen und politischen Bereich.
Wenn man vom christlichen Europa spricht, so muss man darauf verweisen, dass Europa nicht nur mit dem Kirchenstaat das Zentrum einer Weltkirche besitzt, sondern mit Albanien auch den ersten Staat auf der Welt, der sich unter dem totalitären Regime von Enver Hodscha explizit als atheistisch erklärt und nahezu alle Moscheen und Kirchen in der Zeit nach 19^5 abgerissen hat.
Man muss ebenso darauf verweisen, dass der Halbmond des Islam seit dem Mittelalter das christliche Europa im Süden eingefasst hat, zuerst die Iberische und dann die Balkanhalbinsel unter seine Kontrolle brachte, aus beiden Räumen wieder hinausgedrängt wurde, während in der Gegenwart Wanderungsprozesse von islamischen Bevölkerungen in die europäischen Metropolen stattfinden, wo sehr spezifische europäische Probleme entstehen.
Europa hat nicht nur die politische Freiheit "erfunden, sondern ebenso die totalitären Systeme. Im 17.Jahrhundert waren rigider Absolutismus und Demokratie benachbart: Frankreich und die Schweizer Eidgenossenschaft bieten hierfür ein wenig beachtetes Beispiel.
Europa hat ferner den produktiven Kapitalismus schon im Städtewesen des ^.Jahrhunderts kreiert und im industriellen Zeitalter zu einem globalen Exportartikel hochstilisiert, während gleichzeitig in der Zeit der schlimmsten Auswüchse desselben, in der Mitte des 19. Jahrhundert, Karl Marx und Friedrich Engels mit dem "Kommunistischen Manifest bereits das nächste europäische politische Produkt auf seine Weltreise schickten.
Nicht genug damit. Vor dem geistigen Hintergrund der deutschen Universitäten entstand im frühen 19.Jahrhundert der Nationalismus und daraus der Nationalstaat als wohl wichtigstes und gleichzeitig global brisantestes europäisches Produkt. Auch bei diesem ist es Europa gelungen, etwas Neues, nämlich den sozialen Wohlfahrtsstaat, zu schaffen.
Schließlich hat die Erkenntnis vom "Müllplaneten Erde in Europa die "grüne Bewegung begründet, aus der in weiterer Folge, beruhend auf den globalen Modellen des Club of Rome, die Ideen der "nachhaltigen Entwicklung und des erforderlichen ökologischen, d.h. "sanften Umgangs mit natürlichen Ressourcen erwachsen sind. Beide Bewegungen haben zu einer neuen globalen Weltsicht geführt, ihr Innovationseffekt in der westlichen Welt außerhalb von Europa ist bisher bescheiden geblieben.
Alle diese geistigen und politischen Kreationen haben jeweils Zentren und Ausbreitungsfelder besessen. Kernräume und Peripherien entstanden in verschiedenen Gebieten, Nord-Süd- und West-Ost-Bewegungen überlagerten einander auf der kleinzügigen physischen, ethnischen und politisch-administrativen Landkarte Europas. Die Fragmentierung Europas ist das Resultat.
Das "christliche und das "aufgeklärte Europa
Nach Otto Brunner (1984) sind im hohen Mittelalter die lateinische Christenheit und Europa identisch gewesen. Europa bildete in diesem Zeitraum durch die römische Kirche im geistigen Bereich eine organisatorische Einheit, während andererseits eine Vielzahl von Staaten bestand (Abb. 1.7). Nichtsdestoweniger hat diese christliche Staatenwelt ein "völkerrechtliches Ganzes gebildet. Der Dualismus von Kirche und Staat ist damit zu einer sozialgeschichtlichen Tatsache ersten Ranges geworden, was sich auf die europäische Anschauung vom Recht ausgewirkt hat.
Hierzu schreibt Isensee: "Als zukunftswirksam erweist sich nicht allein die christliche Einheit der mittelalterlichen Welt, sondern ebenso ihre differenzierte Verfasstheit in der Polarität von Kaiser und Papst, Reich und Kirche - das Gegenbild zur monolithischen Ordnung des Ostens, dem Cäsaropapis-mus der Reiche von Byzanz und von Moskau. Im Dualismus des Westens sind bereits angelegt die Idee der Gewaltenteilung und der Begrenztheit der Staatsgewalt, die später im Verfassungsstaat institutionelle Gestalt finden sollten (Isensee 1993, S.109).
Die zweite, dem Christentum gleichwertige europäische Idee entstand im 18. Jahrhundert. Der Kreuzzug der Aufklärung begann in Frankreich und verbreitete sich über die Höfe und Salons der Aristokratie bis nach Russland. Die Säkularisierung der europäischen Gesellschaft begann gleichsam von oben her und veränderte den gesamten Charakter der europäischen Kultur.
Hierbei entstand ein ganz bedeutendes politisches Produkt, nämlich der aufgeklärte Absolutismus, der eine humanitäre Geisteshaltung in die Staatsraison eingebracht hat. Mit durchgreifenden Reformen wurden alle wichtigen öffentlichen Einrichtungen geschaffen: Volksschulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Arbeitshäuser. Dabei hat der aufgeklärte Absolutismus die hierarchische Organisation der Papstkirche nachgebildet und durch die Schaffung des Beamtenstandes mit seiner spezifischen Standesehre und einem "aufgeklärten Be-wusstsein eine der großen europäischen Errungenschaften entstehen lassen, welche jedoch keinen globalen Exporterfolg erlebt hat. Mittels der Bildung war in diesem Beamtenstand ein die traditionellen Klassenschranken überschreitender Aufstieg möglich.
Dieser aufgeklärte Absolutismus als neue Staatsform entstand jedoch nicht überall. In Frankreich ist der Absolutismus erstarrt, und es erfolgten daher keine Reformen im Sinne der Aufklärung von oben nach unten. Hier entwickelte sich vielmehr die Aufklärung zu einer Art Gegenreligion; der scharfe Konflikt zwischen religiöser Überlieferung und wissenschaftlicher Aufklärung wurde voll ausgetragen und führte daher auch zur unglaublichen Härte des Bruchs mit den traditionellen Gesellschaftsstrukturen in der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution 1789.
Wieder anders war die Situation in England. Hier hatte sich schon unter Cromwell die neue Mittelschicht mittels des Parlaments von der Autorität der Krone und der Kirche gelöst. Sekten und Parteien mit eigenen Glaubenslehren und Ideologien entstanden.
Diese Unterschiede zum Kontinent sind deswegen von besonderer Bedeutung, weil ebenso wie die Konzepte des Städtewesens und des Kapitalismus auch die religiösen Traditionen von England in die USA übertragen worden sind und hier die Ideologie der Zivilreligion begründet haben, welche sich vom aufgeklärten europäischen Konzept der Trennung von Kirche und Staat grundlegend unterscheidet.
Das "kapitalistische und das "sozialistische Europa
Europa ist schließlich auch dort, wo der produktive Kapitalismus, um mit Hans Bobek (197^) zu sprechen, seinen Ausgang nahm. Gewinne werden dabei nicht wie in orientalischen Hochkulturen als Renten eingestreift und für die Ausgestaltung der religiösen und politischen Repräsentation und der persönlichen Lebenssphäre verwendet - wie es im Orient noch heute üblich ist -, sondern in den Fernhandel bzw. die Produktion investiert und landen letztlich in den Banken, um weitere Investitionen anzukurbeln und zusätzliche Gewinne zu erzielen.
Dieser produktive Kapitalismus entstand in den ersten Ansätzen im Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Mit der in Frankreich beginnenden Revolution verbreitete er sich in Wechselwirkung mit den organisatorischen und technologischen Erfindungen der Industrialisierung in einem mehr als ein Jahrhundert dauernden Prozess vom Westen nach Osten hin, um hier die neue Gestalt des Staatskapitalismus anzunehmen. Damit ist bereits die nächste Mutation angesprochen.
Europa ist nämlich auch dort, wo die Lehre von Karl Marx entstanden ist und breit Fuß gefasst hat. Als kommunistische Doktrin fand sie zunächst in Russland eine politische Heimstätte und hat von hier aus verschiedene europäische Staaten inva-diert (Abb.1.8).
Beide in Europa entwickelten politökonomi-schen Systeme, der Kapitalismus und der Kommunismus, hatten durch die Teilung Europas die "Chance, sich in der Praxis und damit real auf europäischen Territorien bewähren zu können. Das Ergebnis ist bekannt. Die Überlegenheit des produktiven Kapitalismus gegenüber dem Staatskapitalismus zählt zu den historischen Tatsachen. In den Diskussionen darüber wurden die Effekte der Verstaatlichung des Bodens als mitentscheidender Faktor kaum beachtet. Dabei hat in Nordamerika die Wechselwirkung von Aufschließung und steigenden Bodenpreisen die Grundlage des Kapitalmarktes gebildet. Die Kapitalbildung auf dem Immobilienmarkt gehört zu den ganz wesentlichen Faktoren der kapitalistischen Wirtschaft. Auf diesen mächtigen kapitalerzeugenden Faktor wurde in den sozialistischen Staaten verzichtet.
Das Europa der sozialen Wohlfahrtsstaaten
Zwischen diesen beiden Systemen von liberaler Markt- und staatlicher Planwirtschaft hat nach dem Zweiten Weltkrieg das westliche Europa im Verein mit der christlichen Soziallehre die soziale Marktwirtschaft und den sozialen Wohlfahrtsstaat als eigenständige europäische Lösung des Verhältnisses von Markt und Staat geschaffen. Dieser im Einzelnen sehr komplizierte Prozess, welcher in den verschiedenen Regelungen für den Woh-nungs- und Arbeitsmarkt in den Kriegsjahren des Ersten Weltkriegs wurzelt und sich u.a. in einer schrittweisen Ausdehnung der Pensionssysteme von Beamten auf alle Bevölkerungskreise äußert, hat ein zwar staatenweise unterschiedliches, insgesamt aber faszinierendes Gesamtresultat bewirkt, welches der heutigen jungen Generation unter dem Begriff der "sozialen Sicherheit selbstverständlich erscheint und Europa grundsätzlich von Nordamerika unterscheidet.
"Die soziale Marktwirtschaft stellt ein europäisches Produkt dar, und sie schließt Umverteilung, Fürsorge für die Schwächeren und Vorsorge für alle Bürger ein. Wo dies gewährleistet ist, dort ist Europa (Fassmann 2002, S. 32). Gesellschaftspolitisch kann das 20. Jahrhundert als das Zeitalter des sozialen Wohlfahrtsstaates bezeichnet werden, dessen Rückbau seit den 1990er Jahren eingesetzt hat. Neue Konflikte um die Zuteilung aus dem BIP entstehen, bereits vorhandene Probleme können noch weiter eskalieren, inter- und intraregionale Disparitäten brechen wieder auf.
Es geht dabei um mehr als um die Sozialpolitik im engeren Sinn, also um die Finanzierung des Pensionssystems und der Sozialfürsorge. Es geht vielmehr um den gesamten bisherigen "sozialen Dienstleistungssektor der Staaten, alle Bildungseinrichtungen, von den Volksschulen bis zu den Universitäten, das Gesundheitswesen, den subventionierten öffentlichen Verkehr, die subventionierte Landwirtschaft, den sozialen Wohnungsbau, das "soziale Grün und die sozialen Freizeiteinrichtungen, es geht um die Regionalpolitik für Zentrale Orte und entwicklungsschwache Gebiete.
Grundsätzlich ist Optimismus angesagt. Die Europäische Union hat nämlich im Global-National-Interplay eine Zwischendecke eingezogen. Mit der Etablierung einer europäischen Regionalpolitik, welche über beachtliche Mittel verfügt, unterscheidet sich die Europäische Union grundlegend von den Vereinigten Staaten von Amerika. Die europäische Regionalpolitik erfolgt mit der Zielsetzung eines regionalen Disparitätenausgleichs. Regionen erhalten damit einen spezifischen "sozialen Stellenwert. Rückblickend kann man von einer Rückkehr der sozialen Wohlfahrtstendenzen des aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts im europäischen Zentralismus des 21. Jahrhunderts sprechen.