Unsere Reise durch den'westlichen Teil Sachsens beginnt in einem Winkel. Eigentlich müßte man ja sagen, daß sie im Vogtland beginnt, aber der Vogtländer liebt nun einmal diese "Winkel und hat deshalb den südlichsten Zipfel seiner Heimat und damit auch ganz Sachsens "Bäderwinkel getauft. Dieser schiebt sich wie ein Keil hinein ins Böhmische, war also bisher verkehrsgeographisch höchst ungünstig gelegen. Das kann sich nun, in einer Zeit, in der Grenzen kein llendeter Wahnsinn mehr sind, endlich wieder ändern; denn nur wenige Kilometer sind es hinüber bis nach Eger in Böhmen. Die Nachbarschaft zum böhmischen Bäderdreieck Franzensbad - Marienbad - Karlsbad macht sich bemerkbar. Gleich zweimal zehrt der Winkel n den Gaben aus der Tiefe der Erde. Bad Elster war das größte Heilbad der ehemaligen DDR, und das benachbarte Bad Brambach verfügt ähnlich wie Gastein oder Ischia sogar über Vorkommen n Radon, einem Edelgas, das für Heilzwecke genutzt werden kann.
Der Bäderwinkel ist sozusagen eine Art Anhängsel am eigentlichen Vogtland, einer kuppenreichen Landschaft beiderseits der Weißen Elster. Im Mittelalter war das Gebiet reichsunmittelbar gewesen, hatte also dem Kaiser gehört. Schon Friedrich I. Barbarossa hatte Vögte als Verwalter eingesetzt, die dann dem Land auch seinen Namen gaben, da es Terra Adcatorum - Land der Vögte - genannt wurde. Im Zuge n Besitzveränderungen, Teilungen, Verkäufen und Verpfändungen kam schließlich der größere Teil dieses Vogtlandes zu Beginn des 17. Jahrhunderts an Sachsen, während der kleinere im Besitz des Hauses Reuß seine Selbständigkeit bis 1920 bewahren konnte und erst danach an Thüringen fiel.
Im oberen Vogtland läßt sich an den Waldhufendörfern noch die mittelalterliche Besiedelung erkennen, die hier seit der staufischen Zeit einsetzte. In den neugegründeten Städten entwickelte sich bald die Tuchmacherei, aus der die heutige Textilindustrie herrging. Die dafür benötigte Wasserkraft wurde durch den Stau der Flüsse und zahlreichen Bäche gewonnen. Und auch heute bilden die Talsperren Pirk bei Ölsnitz und Pohl nordöstlich n Plauen wichtige Reserire für Trink-und Brauchwasser. Sic sind nicht nur beliebte Naherholungsgebiete, sondern locken auch Touristen an und werden gerade in Zukunft für den Fremdenverkehr zunehmende Bedeutung gewinnen.
Ein weiterer Erwerbszweig hat dem Musikwinkel nördlich des Bäderwinkels seinen Namen gegeben. Hier waren n jenseits der Grenze aus Böhmen 1659 Protestanten eingewandert, die man wegen ihres Glaubens aus der Heimat vertrieben hatte. Sie brachten die Kunst des Geigenbaues mit und siedelten sich in Klingenthal und Marklneu-kirchen an. Große Reichtümer waren da allerdings nicht zu holen, und der Volksschriftsteller Gustav Nierilz, den wir in Dresden näher kennengelernt haben, gibt in seiner Erzählung "Der arme Geigenmacher und sein Kind ein durchaus zutreffendes Bild der armseligen Wohnverhältnisse im Musikantenwinkel während des rigen Jahrhunderts:
"Sie gelangten jetzt an eine aus einem Erdgeschösse bestehende Hütte, welche durch die Haustüre und die Hausflur in zwei gleiche Hälften geteilt wurde, die geräumige, vier Fenster zählende Wohnstuben enthielten. Aus derjenigen rechts ertönte schon in einiger Entfernung ein gleichmäßig wiederkehrendes Schnarren, und beim Nähertreten gewahrte man an jedem Fenster zwei Männer, welche, r ihren Webstühlen sitzend, gerade soviel Raum hatten, daß ihre Rücken sich gegenseitig berührten. Diese lebenden, menschlichen Maschinen, auf gtländisch Buwullwaber geheißen, sitzen festgenagelt m frühesten Morgen bis zum Späende, um das Weberschiffchen hin und her zu schieben, den Webstuhl zu rücken und dafür wöchentlich achtzehn bis zwanzig gute Groschen Lohn zu empfangen
Hübelfritze, der Geigenmacher, langte aus seiner Hosentasche die Fragmente eines bunten Tuches herr, womit er sein schweißtriefendes Antlitz überfuhr. Dann sah er sich in seiner neuen Wohnung um.
,Gute Nachbarschaft, Kamm-Kühn!' sprach er und reichte seine Rechte einem Manne zu, welcher an dem Fenster der Seitenwand mit dem Fertigen n Ahornkämmen beschäftigt war.
,Gute Nachbarschaft!' fuhr Hübelfritze fort, die Handreichung bei des Kammachers Ehefrau wiederholend, welche die gefertigten Kämme mit Lackfarbe überzog und polierte. ,Gute Nachbarschaft, Stickerjule!' sagte er zum drittenmal, zu einer Jungfrau hintretend, die an dem Fenster der Hinterwand r einem großen Stickrahmen gebückt saß und die Nadel flink handhabte. Eine Frau, welche aus zehn und mehr alten Stücken den Anzug eines erwarteten neuen Erdenbürgers herzustellen beflissen war, empfing den letzten Gruß und Händedruck des Geigenmachers, den in seine neue Wohnung einzuweisen der Hausherr jetzt erschien.
,Schön willkommen!' sprach der Webermeister und rückte die weiße Zipfelmütze unmerklich auf dem Haupte. Er reichte dem Mietsmanne die Linke und bückte sich dann, um mit dem Stücke weißer Kreide in der Rechten einen Strich auf den Dielen zu erneuern, welcher die Stube in vier ziemlich gleiche Bezirke einteilte.
,Dies Euer Winkel, Hübelfritze!' sagte nun der Hausherr - ,und hier Eure Grenze. Ich hoffe, daß Ihr keine Stänkereien bei uns anfangen werdet. Dieses Viertel ist zurzeit noch unbesetzt, und solltet Ihr einen richtigen Mietsmann für dasselbe wissen, würde ich's Euch schön danken.'
Das vakante Viertel war das der Stubentüre zunächst gelegene und darum auch im Winter das kälteste, weshalb es sich am schwersten vermietete. Sobald der Webermeister in seine Stube rechts zurückgekehrt war, richtete sich der Geigenmacher ein. Die Hobelbank schob er an das zweite Fenster der Vorderwand und hing das Wandschränkchen sowie sein Handwerkszeug, den Mantel und die Tuchjacke auf bereits eingeschlagene Nägel an dem Teile der Vorder- und Seitenwand auf, welcher ihm m Wirte zugesprochen worden war. Ein hölzerner Schemel und ein alter Polsterstuhl, welche der Geigenmacher bereits früher eingeräumt hatte, machten mit Ausnahme einiger Kleinigkeiten dessen ganzes Wirtschaftsgeräte aus. Indem Hübelfritze noch mit seiner Einrichtung beschäftigt war, fiel sein Blick zufällig bei dem Kammacher rbei durch dessen Fenster, wobei er eine Schar n Kindern entdeckte, die, in dem Alter n zwei bis elf Jahren, teils barfüßig, teils mit dem bloßen Hemde, teils llständig bekleidet, an derjenigen Seitenwand der Hütte versammelt waren, welche gerade n den Sonnenstrahlen beschienen und erwärmt wurde. Die Kleineren saßen auf der Erde, wo sie spielten, Häuser bauten und Backöfen gruben, die Größeren hingegen bemalten mit bunter Leimfarbe hölzerne Steckenpferde, kleine Schaufeln, Schubkarren, Wiegen und ähnliche Kindervergnügungen, die sie in die Sonne zum Trocknen aufstellten und gegen das Betasten der Kleineren hüteten.
Zum Geigenbau gesellte sich die Fertigung n Holzblasinstrumenten. Gerade aus Marktneukirchen gingen und gehen auch heute noch Geigen in alle Welt, und schon im 19. Jahrhundert erhielt es daher den ehrenllen Beinamen eines "sächsischen Cremona. Während Klingenthal eigens eine Lyra im Stadtwappen führt, hat Marktneukirchen ein Musikinstrumentenmuseum mit über 2000 zum Teil kostbaren Ausstellungsstücken aus aller Welt eingerichtet.
Wenn wir den Musikerwinkel verlassen, erreichen wir bei Adorf wieder die Bundesstraße n Eger nach Plauen. Wer denkt heule schon daran, daß in der Umgebung dieser kleinen Stadt einmal die Perlenfischerei blühte! Tatsächlich lieferte die Weiße Elster immerhin so viele Flußperlmuscheln, daß die sächsische Regierung seit 1621 die Perlenfischerei zu einem staatlichen Monopol machte. Zwischen 1719 und 1804 wurden insgesamt 11 286 Perlen offiziell eingeliefert, noch 1891 waren es 123 Stück, darunter 13 besonders schöne weiße. Seitdem allerdings ging die Perlenfischerei rasch zurück, und die Verunreinigung des Elsterwassers verhinderte weitere Erträge. Um die Schalen kümmerte sich ursprünglich niemand, sie blieben am Ufer des Flusses und der Bäche liegen, dienten nur den Kindern als Spielzeug, bis 1859 der Buchbinder Friedrich August Schmidt in Adorf auf die Idee kam, das Perlmutter industriell zu nutzen und aus den Gehäusen Täschchen, Aschenbecher und Schmuckstücke aller Art herzustellen. Immerhin beschäftigte die Adorfer Perlmuttindustrie um die Jahrhundertwende an die tausend Menschen. Man beschränkte sich längst nicht mehr auf die heimische Ausbeute, sondern bezog den nötigen Rohstoff aus den Küstengebieten. Der Export ging in alle Welt. Selbst heute noch verfügt Adorf über einige kleine perlmuttbearbeitende Betriebe.
Auf der Weiterfahrt nach Ölsnitz zeigt rechter Hand ein Wegweiser nach Marieney, das nicht unbedingt zu einem Besuch verlocken muß, aber bei manchem Kenner noch im Ohr das Lied "Zu Man-tua in Banden anklingen läßt. Was hat der "treue Andreas Hofer ausgerechnet mit diesem kleinen Ort zu tun? Nun, dort wurde 1803 im Schulhaus Julius Mosen geboren, der heute zwar weitgehend vergessen ist, aber doch einmal als einer der bedeutenderen Dichter zwischen Romantik und Realismus angesehen wurde. Er studierte in Jena und Leipzig, wirkte als Armenadkat in Dresden und ging schließlich 1844 als Dramaturg an das Hoftheater nach Oldenburg, wo er 1867 starb. Seine Dramen kennen nur noch die Literaturwissenschaftler, geblieben sind Gedichte und Balladen, zu denen auch das erwähnte Lied m Adreas Hofer gehört. Leider kennt dort niemand mehr seine "Erinnerungen, in denen er ein lebendiges Bild der Verhältnisse im Vogtland zu seiner Jugendzeit gibt. Diesem Werk ist auch die Charakteristik seines Großvaters entnommen:
"Mein Großvater väterlicher Seite war Schullehrer in Arnoldsgrün, einem Dorfe, welches eine Stunde n meinem Geburtsorte gegen Mitternacht hinter dem Walde liegt. So lange ich mich seiner erinnere, war er immer unverändert ein rüstiger alter Mann mit spärlichem, weißem Haare, welches sich unter einer Pelzmütze herrstahl, angetan mit einem grauen, altmodisch bequemen Überrock, kurzen, schwarztuchenen Beinkleidern und derben, rindsledernen Jagdstiefeln; wenn er ausging, hing gewöhnlich die Jagdflinte n der Schulter - denn er war ein Jäger mit Leidenschaft - und die Jagdtasche an seiner Seite. Da zu seiner Zeit die Dorfjugend noch ihre Schulferien n Ostern bis Michaelis - ich fürchte manchmal noch länger - zugemessen erhielt, so hatte mein Großvater Zeit genug, in den gtländischen Waldungen mit seinen Freunden, den Förstern und Jägern weit und breit, oder auch nach Gelegenheit ohne sie herumzuschweifen. Ob er alle Hasen und Rehe, welche seine Flinte erreichte, an die Revierherren abgeliefert hat, ist mir unbekannt; ich weiß nur, daß man bei ihm oft Hammelbraten aß, der fast wie Wildbret schmeckte, und daß er sehr böse auf seine Magd wurde, als einst hinter seiner Wohnung der unrsichtige Wind Federn n einem Auerhahn herumjagte, welchen der Gutsherr nur für einen adeligen Vogel angesehen wissen wollte. Vor allem ist es gewiß, daß ihm wegen seiner bewaffneten Waldgängerei niemand in seinem Leben einen Verdruß bei den Gerichten erregt hat; wer hätte es auch wagen sollen? Denn er stand allgemein im Gerede, daß er alle guten und bösen Jagdkunststücke und leider mehr wußte, als einem guten Christen geziemte. Daß er sich mit der sogenannten geheimen Wissenschaft abgab, ist wohl gewiß. Er besaß selbst in diesem Fache eine kleine Bibliothek, welche großenteils aus alten Handschriften bestand und in einem schwarzen Bücherschranke in seiner oberen Stube wohlverschlossen gehalten wurde. Er schien die Natur für ein Pandämonium anzusehen und selbst jeden Stein, jedes Metall, jede Pflanze n ihm mit Sympathien und Antipathien beseelt zu haben. So mußte n selbst die Natur ihn überall mit rätselreichen Geisteraugen anblicken. Selten und nur aus eigenem Drange kam er darauf zu sprechen. Da ich als Knabe einst mit ihm im Walde war und ihn fragte, ob er wirklich mit den Vöglein sprechen könne, fragte er mich mit seltsamen Lächeln, was er mir für einen Vogel kommen lassen sollte? .Einen Nußhacker, Großvater!' rief ich. ,So setze dich', entgegnete er, ,in das Moos und rühre dich nicht', und kaum hatte er begonnen, einige gellende Töne auszustoßen, so antwortete ihm ein Vogel erst aus weiter Ferne, dann immer näher, bis der bunte Nußhacker endlich, wie ein Pfeil, geschossen kam und dicht über unseren Köpfen seine lachenden Laute ausstieß. Dann rief er mir einen Raben herbei, und als ich mich r dem garstigen Kerl fürchtete, jagte er ihn wieder fort, indem er mit dem Munde den Knall einer Flinte nachmachte. Die größte Freude machte er mir mit einem Finken, welcher sich mit ihm auf einen Wettgesang einließ und uns aus dem Walde bis in das Licht und zu unserer Wohnung nachfolgte, wo er noch lange auf dem Apfelbaume r dem Hause grölzte. Es versteht sich fast n selbst, daß ein Gebirgsjäger gut zu schießen versteht, doch war der Alte der verwegenste Meister in dieser Kunst. So soll er einst infolge einer übermütigen Wette mit der Kugelbüchse auf einige hundert Schritte weit einem Schäfer den Stock, auf welchen dieser sich stützte, hinweggeschossen haben, daß beide -der Schäfer unverletzt, der Stock aber zersplittert - ins Gras fielen. Daß er eine Schwalbe im Fluge herunterschoß, habe ich selbst gesehen. Es war daher kein Wunder, daß die abergläubischen Leute ihn für einen Hexenmeister hielten.
Mit Plauen ist dann die bedeutendste Stadt des Vogtlandes erreicht, die als Siedlung schon 1122 erstmals erwähnt wird. Etwa hundert Jahre später wurde Plauen zur Stadt erhoben, 1466 kam es zu Sachsen. Etwa um die gleiche Zeit begann dort die Tuchmacherei aufzublühen, ab 1600 setzte die Herstellung n feinen Baumwollwaren ein. Als Goethe 1795 durch Plauen nach Karlsbad reiste, vermerkte er dementsprechend in seinen AufZeichnungen: "Die Stadt ist nahrhaft und hat schöne Musselinfabriken. 1897 besaß Plauen sechs Tüllwebcreicn, die Gardinenstoffe erzeugten, die maschinell hergestellten "Plauener Spitzen und Stickereien wurden bald in alle Welt exportiert. Mehr und mehr nahm die Stadt seit dem 19. Jahrhundert den Charakter einer Industriemetropole an. Nachdem sie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in weiten Teilen zerstört wurde, erinnern heute nur noch wenige architektonische Zeugnisse an die Vergangenheil, allen ran das schöne Alte Rathaus n 1508 mit seinem Renaissancegiebel. Eine ähnliche Entwicklung nahm auch das benachbarte Reichenbach. Wie Plauen geht es wahrscheinlich auf eine ursprünglich slawische Siedlung zurück, die Stadtgründung erfolgte schon 1240, und auch hier entwickelte sich bald eine blühende Textilindustrie. Auf dem Johannesplatz steht noch das Haus, in dem die Schauspielerin Friederike Caroline Neuber (1697-l760) geboren wurde. Die "Neuberin, wie man sie meistens respektll nannte, zählte zu den bedeutendsten Frauen des Barock. Als Prinzipalin eines Wandertheaters trat sie zwischen 1727 und 1749 an dreiunddreißig Messen mit ihrer Truppe in Leipzig auf. Dank ihrer Bildung, aber auch ihrer Energie, gelang es ihr, zusammen mit dem damaligen Literaturpapst Gottsched das deutsche Theater- zu reformieren, indem sie das beliebte Extemporieren und Improvisieren der Schauspieler unterband, r allem den Hanswurst mit seinen zotigen Spaßen n der Bühne verbannte und dafür anspruchsl le Stücke spielte. Die Schauspieldirektorin aus dem Vogtland trug somit wesentlich zur Begründung des klassischen Theaters in Deutschland bei. Welche Ziele ihr dabei rschwebten, geht aus der Abhandlung eines Frankfurter Magisters über die Schaubühne herr, die sie 1736 verbreiten ließ, um für ihre Reformbestrebungen eine günstige Stimmung rzubereiten:
"Die deutsche Schaubühne muß in ihrem Vaterlande, so gut sie kann, herumwallen. Sie muß sich durch eignen Trieb zur Vollkommenheit selbst bessern. Sie hat keinen Vorschub dazu als den ungewissen Beitrag der Zuschauer. Sie findet tausend Hindernisse, welche sie übersteigen muß, und eine beschwerliche Arbeit, die Vorurteile wegzuschaffen, in welchen die Leute durch die Verderber der deutschen Schaubühne noch beständig erhalten werden
Sonsten hat die Schaubühne freilich zur Belustigung des Pöbels dienen müssen, und wo der Hanswurst und Harlekin regiert, da geschieht es auch wirklich jetzt noch. Allein, ist denn der Pöbel dazu verdammt, daß er in seinem unflätigen Wesen bleiben und niemals einen besseren Geschmack bekommen soll? Ist es nicht die Schuldigkeit der Gelehrten, sie dan zu befreien, da die Mittel dazu in ihren Händen sind? Sollte man nicht darauf denken, diese Belustigung so einzurichten, daß sie den Gelehrten und Ungelehrten angenehm und zuträglich sei? Ich sollte es meinen, und vielleicht irre ich auch nicht. Freilich ist es für einen ehrlichen Mann etwas Unanständiges, wenn er r der Schaubühne sein und nichts als Zoten, Saupossen und einfältiges Zeug hören soll. Auf der verderblichen Schaubühne geschieht dieses. Wer verteidigt diese aber dabei? Eben der Abscheu r solchen unerträglichen Vorstellungen und die Möglichkeit, eine bessere Einrichtung in den Gang zu bringen, sind die Ursachen, daß man auf allerhand Vorschläge sinnet, das Übel abzuschaffen und das Gute einzuführen. Man reinige, verbessere und bringe nur die Schaubühne unter den Gehorsam der Vernunft. Es werden sich bei uns so wenig als in anderen Ländern auch die bravsten Männer nicht schämen dürfen, Zuschauer eines Schauspieles abzugeben.
Wer Reichenbach besucht, wird nicht versäumen, einen kleinen Abstecher zur Burg in Mylau und r allem zur Göltzschtalbrücke zu unternehmen, lernt er dort doch ein technisches Wunderwerk des 19. Jahrhunderts kennen. So ganz zufrieden war man nach der Fertigstellung dieser heute noch größten Ziegelbaubrücke der Welt keineswegs, wie eine Notiz im 15. Bande n "Meyer's Universum beweist:
"Bei diesem Anblick mag man wohl das nil ad-mirari vergessen. Es ist dieses Werk des Eisenbahnbaues das größte seiner Art auf der Erde, und selbst das Altcrthum hat nichts Massenhafteres in seinen bewunderten Weg- und Wasserleitungen aufzuweisen. Zu beklagen bleibt es jedoch, daß man der Forderungen der Schönheit nicht mehr Rechnung getragen. Die Form ist plump, die Verhältnisse sind ohne Harmonie; es wäre gewiß zu ermöglichen gewesen, mit den unabweislichen Forderungen an Festigkeit und Dauer auch die des Schönen in Einklang zu bringen. Der Mangel an edler Einfachheit und Ebenmaß beeinträchtigt die Großartigkeit des Eindrucks, welchen man erwartet; und aus der Ferne betrachtet, sieht das Werk fast aus wie eine Kaserne ohne Fenster.
Heute ist man da anderer Auffassung, bewundert gleichermaßen die architektonische wie die technische Leistung. Immerhin ist die Brücke mit ihren vier Geschossen 78 Meter hoch und 574 Meter lang, 1500 Maurer verarbeiteten 64 000 Kubikmeter Bruchsteine und 26 Millionen Ziegel.
Andreas Schubert, der Architekt dieses -Meislerwerks, war ein armes Bauernkind aus dem nahen Wernesgrün, der es mit 24 Jahren bereits zum Professor an der Technischen Bildungsanstalt in Dresden gebracht halte. Noch heute rollt wie r 150 Jahren der Eisenbahnverkehr über diese Brük-ke.
Das nur 15 Kilometer entfernte Zwickau an der Mulde wurde schon Anfang des 12. Jahrhunderts erstmals urkundlich erwähnt und entwickelte sich bald zu einem wichtigen Fernhandelsplatz am "Böhmischen Steig, der Straße nach Prag. Silberbergbau und r allem Tuchmacherei förderten den Wohlstand. "Zwickisch Tuch wurde bis nach Ostpreußen und in die Steiermark verkauft. Seit dem Spätmittelalter kam dann noch die Kohleförderung dazu, die nicht zuletzt den zahlreichen Schmiedewerkstätten als Brennstoff diente. Der Steinkohlenbergbau erreichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Man vermag kaum zu glauben, daß hier einmal an die 25 000 Bergleute arbeiteten und 40 Millionen Zentner Kohle jährlich gefördert wurden. Heute erinnern noch in der Umgebung der Stadt rund fünfzig aufgetürmte Halden an diese Zeit. Aus den Schmiedewerkstätten entwickelten sich Eisenhütten wie die "Königin-Marien-Hütte, einmal die größte in Sachsen. Die Kohleförderung wurde erst 1977 eingestellt, der 1904 begonnene Kraftfahrzeugbau erlebte auch in der DDR mit der Produktion des "Trabant einen Höhepunkt. An seine Stelle soll nun der Bau des VW-Polo im nahen Mosel weitergeführt werden.
Der spätgotische Dom St. Marien mit seiner wertllen Innenausstattung, das Gewandhaus und einige Bürgerhäuser erinnern noch an den einstigen Wohlstand der Stadt, in der Pfarrkirche St. Katharinen predigte Thomas Müntzer. Seine Worte erregten die Zwickauer Tuchmachergesellen so sehr, daß Martin Luther eigens hierher kommen mußte, um durch seine Predigt m Rathausfenster aus einen Aufstand zu dämpfen. Am Hauptmarkt liegt das Geburtshaus des Komponisten Robert Schumann (1810-l856), der in Zwik-kau seine Jugend verbrachte. Mit 18 Jahren verließ er schweren Herzens die Heimat, um in Leipzig zu studieren. Den Abschied n daheim schildert er in einem Brief an die Mutter:
"Mit recht wehmütigem Herzen, meine teure Mutter, nahm ich m Mosler Berge herab mit einem langen, stummen Blick n Euch und der geliebten Heimat noch einmal Abschied; die ganze Natur schien wie ein junger Frühlingstag, und die beglänzte Welt lächelte mich auf meiner schönen, einsamen Pilgerfahrt so innig und freudig an. Der Augenblick der Trennung n geliebten Wesen und der Abschied gibt unserer Seele den weichen, wehmütigen Mollakkord, der selten tönt; alle Dämmerungsstunden der vergangenen Kindheit, alle Bilder der flüchtigen Gegenwart und das ganze Gemälde der Zukunft fließen wie Glocken zu einem Akkord zusammen - die leuchtende Zukunft möchte die sanfte Vergangenheit gern verdrängen, und so kämpfen weiche, unbestimmte Gefühle in unserem Herzen einen sanften Streit -o dann kommt jener stille Engel der Wehmut, der uns gern zu Thränen bringen möchte, aber keine geben kann, weil er selbst lächelt - dieser liebliche Regenbogen der aufgeregten Seele, wenn die Sonne glänzt und doch die Himmelsthräne. niedertaut - diese Wehmut, wenn das Herz ll ist und gern überströmen möchte und weint und lächelt und wieder weint. - Ich ging langsam meine Straße fort mit wechselnden schmerzlichen Emptindungen; im Walde sang nur noch schwach ein verlorener Vogel, und auf dem Fahrweg trieben die Fuhrleute langsam ihre Pferde; nur die fallenden Blätter des leuchtenden Herbstes raschelten manchmal, sonst war alles so ruhig, so erhaben still, und das Herz war weich und mild gestimmt. Auf einem Feldrain setzte ich mich dann nieder und frühstückte recht froh im Herzen, und der Rinderbraten und die geschmierten Semmeln schmeckten mir besser als alle indianischen Vogelnester und andere Delikatessen in den Leipziger Hotels. Der Abend war herrlich, und die Seele ward ein stiller Freitag; r Altenburg setzte ich mich nach einigen Stunden hin und ruhte sanft und sah der sinkenden Sonne nach, und das Bild der süßen Heimat trat schüchtern und leise r die Augen, war wie die scheidende Sonne, glänzend und errötend, wie ihr letzter Strahl, still und stiller in die Gräber der Vergangenheit hinabsank. The-rese stand r mir und sang sanft: Süße Heimat!! Und wie ich abends in Altenburg im Einschlummern war, da wehten alle Minuten des Tages und der Vergangenheit noch einmal dunkel rüber und, wie das fernste Echo der Seele, hört ich, wie die Töne zerflossen und verklangen und wie der letzte noch schwach zitterte: Süße Heimat! Dann schlief ich selig ein; aber ich träumte nicht - denn der Traum wollte den leisen Schlummer des Wanderers nicht wecken.
Mit welcher Geschwätzigkeit man sich doch über eine Reihe n 7 Stunden ausbreiten kann! und doch könnt' ich noch manche Seite llschreiben, wollt' ich alles beschreiben, das ich sah - in meiner Seele nämlich. O ich habe in Zwickau Stunden genossen, die Tage in Leipzig aufwiegen.
Halbwegs zwischen Zwickau und Chemnitz liegt die Doppelstadt Hohenstein-Ernstthal. In Ernstthal wurde 1842 der Schriftsteller Karl May als Sohn eines armen Webers geboren. Das Gedenken an die 150. Wiederkehr seines Geburtstags hat eine erstaunliche Resonanz in der Öffentlichkeit gebracht. Die meisten Berichte in den Medien bemühten sich um einen mehr oder minder spöttischen, manchmal sogar herablassenden Unterton. Dabei hat der Volksschriftsteller nach den langen Jahren eines emotional geprägten Für und Widers längst eine sachlich abwägende Beurteilung verdient. Seine Jugend war hart, wie er selbst in seiner Autobiographie erzählt:
"Mutter hatte ganz unerwartet n einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zwei pfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Thaler r. Das war ja ein Vermögen! Das erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle zehn, zwölf ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie n Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich -inj Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. Einmal standen einige Säcke Kartoffel darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbarn, der keinen Keller halle. Großmutter meinte, daß es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassertümpel gab, den wir als ,Teich' bezeichneten. Der Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange r, denn wenn das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern an zu husten, und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wußten, daß die Apfel gleich nach der Blüte am besten schmek-ken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr dan, als eigentlich auf uns fiel.
Verfehlungen, r allem Hochstapeleien, die aus seiner leicht erregbaren Phantasie erklärt werden können, führten Karl May in der Jugend rasch ins soziale Abseits. Der Aufenthalt im Zuchthaus im nahen Waidenburg bildete den Tiefstand seines Lebens. Wer sich einmal mit dem dortigen Strafllzug im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts näher beschäftigt, kann nur staunen, daß es dem jungen Mann schließlich doch gelang, sich sozusagen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und den festen Boden einer bürgerlichen Existenz unter den Füßen zu gewinnen. Die Geschichte seines Aufstiegs zum beliebten Schriftsteller klingt so phantastisch wie manche seiner Erzählungen, nur daß sie den Vorzug hat, wahr zu sein. Als wohlsituiertem und erfolgreichem Autor werden wir ihm erneut in Radebeul begegnen.
Ein Benediktinerkloster, das 1136 Kaiser Lothar n Supplinburg gestiftet hatte, wurde zur Keimzelle der heutigen Stadt Chemnitz, die unmittelbar am Chemnitzfluß nur einen Kilometer m Kloster entfernt etwa ein Jahrhundert später gegründet wurde. .Die günstige verkehrsgeographische Lage am Knotenpunkt wichtiger. Straßen förderte das Wachstum der Gemeinde, die zur Reichsstadt aufstieg, aber schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts an die Mark Meißen fiel. Wie in den meisten Städten des Vogtlandes und des erz-gebirgischen Beckens entwickelte sich auch hier seit dem Spälmittelalter die Textilindustrie, aber die rührigen Bürger begnügten sich nicht damit, sondern suchten nach zusätzlichen Erwerbsmög-lichkeiten, indem sie auch in die Montanwirtschaft einstiegen und eine Schmelzhülle und einen Kupferhammer errichteten. Es ist kein Zufall, daß das bedeutendste Werk der damaligen Bergwissenschaft ausgerechnet hier geschrieben wurde. "De re metallica stammt aus der Feder n Georg Agricola, der seit 1530 als Arzt in Chemnitz wirkte. Als aber die Blütezeit des erzgebirgischen Bergbaus zu Ende ging, verlegten sich die Chemnitzer auf die Barchent- und Leinwanderzeugung, im 18. Jahrhundert kamen die Strumpfwirkereien und dann die Kattun- oder Zeugdruckereien dazu. Letztere lockten merkwürdigerweise für einige Jahrzehnte griechische Kaufleute, die sogenannten Makedonien an, und bald wurde Chemnitz zum Hauptsitz des Baumwollhandels in ganz Sachsen. Um 1800 beschäftigte die Baumwoll-industrie etwa 1900 Menschen. Seit 1822 setzte dann eine stürmische industrielle Entwicklung ein, so daß die Stadt den Beinamen eines "sächsischen Manchester erhielt. Nun gesellten sich zur Textilindustrie noch der Maschinenbau, und Werkzeug-, Textil- und Dampfmaschinen sowie Lokomotiven verschafften dem Namen Chemnitz in ganz Europa einen guten Klang. Vom Fahrradbau führte der Weg zum Motorrad- und Autobau. Hatte die Stadt im 16. Jahrhundert etwa 4000 Einwohner gezählt, so waren es Anfang des 19. Jahrhunderts schon 20 000 und bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 340 000 gewesen. Heute hat sich die Zahl auf etwa 315 000 eingependelt, nach dem sozialistischen Zwischenspiel der umbenannten "Karl-Marx-Stadt geht Chemnitz wieder unter seinem alten Namen einer hoffentlich günstigen wirtschaftlichen Zukunft entgegen.
Ber wir uns im großen Bogen nach Nordwesten wenden, lohnt noch ein kleiner Abstecher zum Schloß Augustusburg. Der Weg führt dabei über Flöha. Das alte hübsche Waldhufendorf ist längst zu einer sterilen Industriegemeinde ausgewachsen und lohnte keinen Aufenthall, erinnerte da nicht das Pfarrhaus an einen klangllen Namen der deutschen Geistesgeschichte; denn hier verbrachte der bedeutendste deutsche Staatsrechtler des 17. Jahrhunderts, Samuel Pufendorf, seine Jugendzeit. Er wurde 1632 in Dorfchemnitz im Erzgebirge geboren, zwei Jahre danach war der Vater als Pfarrer nach Flöha versetzt worden, und aus dem damaligen kleinen Dorf führte der Lebensweg zweier seiner Söhne in die große Welt hinaus, während ein dritter Nachfolger des Vaters als Pfarrer wurde. Esaias Pufendorf wurde ein bedeutender schwedischer Staatsmann, Samuel, der Jüngste, brachte es schon mit 29 Jahren zum Professor des Natur- und Völkerrechts in Heidelberg, danach wurde er Professor an der schwedischen Universität Lund, und schließlich ging er im Dienst des Großen Kurfürsten nach Berlin, wo er 1694 starb. Noch während seiner Heidelberger Zeit hatte er jene Schrift über den desolaten Zustand des damaligen Deutschen Reiches geschrieben, die großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte, weil hier endlich einmal ein Staatsrechtler ein offenes kritisches Wort wagte:
"Es bleibt also nichts übrig, als Deutschland, wenn man es nach den Regeln der Politik klassifizieren will, einen unregelmäßigen und einem Monstrum ähnlichen Staatskörper zu nennen, der sich im Laufe der Zeit durch die träge Nachgiebigkeit der Kaiser, durch den Ehrgeiz der Fürsten und die Ruhelosigkeit der Pfaffen aus einer Monarchie zu einer so ungeschickten Staatsform umgestaltet hat. Jetzt ist daher Deutschland weder eine Monarchie, auch nicht einmal eine beschränkte, wenn auch in gewisser Beziehung der äußere Schein darauf hindeutet, noch auch, genau genommen, eine aus mehreren Staaten zusammengesetzte Föderation, sondern vielmehr ein Mittelding zwischen beiden. Dieser Zwitterzustand aber verursacht eine zehrende Krankheit und fortwährende innere Umwälzungen, indem auf der einen Seite der Kaiser nach Wiederherstellung einer monarchischen Herrschaft, auf der anderen die Stände nach völliger Unabhängigkeit streben. Und wie es die Natur aller Degenerationen ist, wenn sie einmal n dem ursprünglichen gesunden Zustande bedeutend abgewichen sind, in schneller Entwicklung und gleichsam n selbst sich dem anderen Extrem zu nähern, während sie sich nur unendlich schwer auf ihre Urform wieder zurückführen lassen; und wie man einen einmal in Bewegung gesetzten Felsblock leicht einen Berg hinunterrollen, aber nur mit unsäglicher Anstrengung wieder bis zum Gtp-fel hinaufwälzen kann, so wird Deutschland ohne die erschütterndsten Bewegungen und eine gänzliche Verwirrung aller Verhältnisse sich nicht wieder in die Form einer richtigen Monarchie zwängen lassen, sondern es nähert sich mehr und mehr der Verfassung eines föderativen Staatensystems.
Das nahe Schloß Augustusburg liegt mitten in einem Landschaftsschutzgebiet und gehört zum Naherholungsbereich für die Chemnitzer, wie man heute so schön den alten Begriff m "beliebten Ausflugsziel umschreibt. Es lohnt ja auch einen Besuch. Zwischen der Flöha und der Zschopau erhebt es sich auf der höchsten Spitze des Schellenberges. Kurfürst August I. hatte es n dem Baumeister und Bürgermeister n Leipzig, Hie-ronymus Lotter, 1567-l573 errichten lassen. Der sonst eher knauserige "Vater August, wie ihn die Zeitgenossen nannten, hatte sich mit dem Bau, einem der prachtllsten Schlösser des 16. Jahrhunderts, offensichtlich übernommen und auch seinen Baumeister überfordert. Lotter beschäftigte zeitweilig 1000 Mann, trotzdem ging dem Kurfürsten die Arbeit nicht rasch genug ran, und obwohl Lotter der kurfürstlichen Kasse die horrende Summe n 15 000 Gulden rgeschossen hatte - die er nie zurückerhielt -, bezichtigte ihn der Kurfürst des Betruges. Es kam zum Zerwürfnis zwischen den beiden befreundeten Männern, Lotter wurde die Bauleitung entzogen, und er fiel in Ungnade. Nun fielen alle seine Feinde und Neider über ihn her, sogar die eigenen Kinder. Verbittert beklagte sich der inzwischen 79jährige beim Kurfürsten: "Ich hab mir's n Jugend auf sauer werden lassen und einem Herrn zwanzig Jahre an einander gedient Als ich nunmehr meines Alters im 79. Jahre durch meine Dienstleistungen und auferlegte Amter mich abgearbeitet, alt und unvermöglich worden: so überfallen mich meine Kinder und unterstehen sich, aus einem Mißtrauen mich bei meinem Leben zu beerben
Nach langen Querelen starb der Mann, der einmal zu den angesehensten und reichsten Bürgern Leipzigs gezählt hatte und dem die Stadt ihr schönes Altes Rathaus verdankt, völlig verarmt und verschuldet 1580.
Das prachtlle Schloß verkam im Laufe der Jahre, mußte zu Beginn des 19. Jahrhunderts restauriert und r dem Verfall gerettet werden, ist dafür aber heute ein Anziehungspunkt für die Touristen, und wer gar am Motorsport interessiert ist, wird ll auf seine Kosten kommen, birgt das Küchenhaus doch ein Zweitakt-Motorrad-Museum, in dem man die Glanzstücke dieser Art bewundern kann und darüber beinahe vergißt, daß es im Hause noch ein Jagdmuseum und eine historische Gaststätte gibt, nicht zu vergessen die einmalig großartige Aussicht, die man m Turm aus genießt.
Augustusburg liegt am Rand des Erzgebirges, die sich nach Norden hin anschließende Landschaft des mittelsächsischen Hügellandes ist in ihren Oberflächenformen weitgehend geprägt n den Lößablagerungen der letzten Eiszeit. Sanfte, wellige Formen herrschen r, ein verhältnismäßig einheitliches, recht mildes Klima, die fruchtbaren Lößböden und Braunerden begünstigen den Ackerbau und erleichterten schon seit rgeschichtlicher Zeit die Besiedlung. Seit dem 6. Jahrhundert n.Chr. drangen Slawen in dieses Gebiet ein und gründeten hier ihre Wohngaue. Die Öffnung nach Westen begünstigte die Kontaktaufnahme mit dem angrenzenden Deutschen Reich, und schon unter Heinrich I. setzte die christliche Missionierung ein, die Besiedlung durch deutsche Bauern allerdings erst seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert. Dörfer und Städte entstanden, aber auch wichtige Burgen. Im Westen erscheint heute die Grenze zu Thüringen etwas willkürlich gezogen, doch hängt es damit zusammen, daß das Herzogtum Sachsen-Altenburg 1920 zu Thüringen kam.
Mag die Landschaft auch nicht so abwechslungsreich und reizll sein wie das benachbarte Erzgebirge und sein Vorland, so birgt das Gebiet doch einige kunst- und kulturhistorische Kostbarkeiten, die zu besuchen sich lohnt, r allem mehrere bedeutende Schlösser und Burgen, aber auch Perlen romanischer Kirchenbaukunst. Erste Station n Augustusburg auf der Fahrt nach Nordwesten ist Schloß Sachsenburg. Der ursprüngliche Bau n 1488 wurde seit dem Dreißigjährigen Krieg mehrfach verändert. Von hier aus ist es nur ein Katzensprung nach Kriebstein, der schönsteh Burg dieser Gegend, auf schroffem Fels hoch über dem Zschopau-Stausee, ein wahrhaft lohnendes Objekt für Fotofreunde; denn die trutzige Anlage hat bis heute ihren wehrhaften Charakter bewahrt und gilt zu Recht als eine der schönsten in Mitteldeutschland. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahre 1384, die Burg selbst dürfte in ihren Ursprüngen noch ein Jahrhundert älter sein. Der Rundgang lohnt, und wer genug fotografiert hat, rausgesetzt, die zahlreichen Besuchergruppen stören ihn dabei nicht, wird nicht versäumen, die romanische Burgkapelle zu besichtigen; denn dort wurden durch Zufall r etwa fünfzig Jahren die ursprünglichen Wand- und Deckenmalereien aus dem 15. Jahrhundert wiederentdeckt und freigelegt, und im Hauptturm der Burg steht einer der seltenen dem hl. Alexius geweihten Flügelaltäre.
Ber wir Rochlitz besuchen, lohnt noch der Abstecher nach Wechselburg, weniger wegen des dortigen Barockschlosses als vielmehr wegen der Stiftskirche, die n den Augustiner-Chorherren in der Mitte des 12. Jahrhunderts errichtet wurde. Längst zählen sie die Kenner zu den schönsten romanischen Bauwerken in Deutschland, llends nachdem der Lettner an seinem ursprünglichen Platz wieder aufgebaut und mit dem Triumphkreuz gekrönt wurde, das zu den "Hauptwerken der europäischen Skulptur (B. Schütz) gehört. Es ist eine jener Kirchen, in denen man dankbar die schlichte Größe der Romanik bewundert und nach deren Besuch fast zwangsläu andere Bauwerke etwas abfallen müssen. Die Rochsburg über der Zwickauer Mulde mit ihrem 35 Meter hohen mittelalterlichen Bergfried gehört ebenso dazu wie das Schloß und die Kunigundenkirche in Rochlitz, die Burg Gnandstein bei Kohren-Sahlis, das Schloß n Colditz und Schloß Mildenstein bei Leisnig. Allein die Aufzählung weist schon darauf hin, daß sich eine Fahrt durch das mittelsächsische Bergland durchaus lohnt.
Mit Grimma ist dann die letzte Station erreicht, auch hier gibt es wieder ein Schloß zu besichtigen, wichtiger aber ist wohl die Ruine des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Marienthron in Nimbschen. Die adligen Nonnen lebten dort nicht schlecht, waren dem Kloster doch in seiner besten Zeit 39 Dörfer zinspflichtig. Der Geist der Reformation überwand auch die Klostermauern, und am Karsamstag des Jahres 1523 flohen neun der jüngeren Nonnen mit Unterstützung zweier Torgauer Bürger aus der Klausur, eine n ihnen, die 25jäh-rige Katharina n Bora, heiratete später Martin Luther. Bis 1543 verließen dann alle Nonnen das Kloster, dessen Gebäude allmählich verfielen.
In Grimma kündigt sich schon die Bücher- und Verlagsstadt Leipzig an; denn 1795 erwarb der damals weithin bekannte und geachtete Leipziger Verleger Georg Joachim Göschen (1752-l828) das Gut Hohnstätt bei Grimma. Er konnte sich diesen Kauf leisten, florierte doch sein Verlag, in dem die bedeutendsten Dichter Deutschlands erschienen. Göschen verlegte in der Folgezeit einen wesentlichen Teil seiner Aktivitäten nach Grimma, wo er 1797 am Markt eine Druckerei errichtete. Dorthin holte er sich Johann Gottfried Seume als Mitarbeiter und Korrektor. Dieser stammt aus dem kleinen Ort Poserna westlich n Leipzig, wo er 1763 geboren wurde. Als junger Mann war er in die Hände hessischer Werber gefallen und mit den an England verkauften Truppen nach Amerika gekommen. Nach zwei Jahren kehrte er wieder nach Deutschland zurück, desertierte, geriet aber erneut unter preußische Werber und kam erst 1787 m Militärdienst frei. Wer aber glaubt, Seume hätte genug an unfreiwilligen Abenteuern gehabt, täuscht sich. Schon 1792 ging er als Erzieher nach Warschau, trat in russische Dienste und kämpfte als Offizier gegen die Polen. Schließlich nahm er doch den Abschied und versuchte in Leipzig Fuß zu fassen. Da holte sich Göschen den Weilgereisten, der auch schon schriftstellerisch herrgetreten war.
Knappe fünf Jahre hielt es Seume in Grimma aus. Er erlebte gerade noch einen Besuch Schillers bei Göschen, dann packte ihn erneut die Wanderlust, diesmal allerdings zu einer durchaus friedlichen Tour. Im Dezember 1801 beschloß er nämlich, einen "Spaziergang nach Sizilien zu unternehmen. Er führte seinen tatsächlich aus, obgleich es, n der physischen Leistung ganz abgesehen, bei den damaligen unruhigen Verhältnissen für einen einzelnen, nur mit einem Knotenstock bewaffneten Mann kein ungefährliches Unternehmen war. Sein Bericht über diese Fußreise, der 1803 unter dem Titel "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 erschien, gehört zu den besten Reiseschilderungen des frühen 19. Jahrhunderts. Nach einer weiteren Reise nach Rußland und Skandinavien blieb er dann endlich in der Heimat und starb, arm und krank, 1810 während eines Kuraufenthalts im böhmischen Bad Te-plitz, wo er auch begraben liegt. Mit seinem Abschied n Grimma verabschieden auch wir uns:
"Ich schnallte in Grimma meinen Tornister, und wir gingen. Eine Karavane guter gemüthli-cher Leutchen gab uns das Geleite bis über die Berge des Muldenthals, und Freund Großmann sprach mit Freund Schnorr sehr viel aus dem Hei-ligthume ihrer Göttin, won ich Profaner sehr wenig verstand. Unbemerkt suchte ich einige Minuten für mich, setzte mich oben Sankt Georgens großem Lindwurm gegenüber und betete mein Reisegebet, daß der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirthe und höfliche Thorschreiber n Leipzig bis nach Syrakus, und zurück auf dem andern Wege wieder in mein Land; daß er mich behüten möchte r den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglük-ker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihre System in die Nase heften, wie der Sa-mojete seinen Thieren den Ring.
Nun sah ich zurück auf die schöne Gegend, die schon Melanchthon so lieblich fand, daß er dort zu leben wünschte; und überlief in Gedanken schnell alle glücklichen Tage, die ich in derselben genossen hatte: Mühe und Verdruß sind leicht vergessen. Dort stand Hohenstädt mit seinen schönen Gruppen, und am Abhänge zeigte sich Göschens herrliche Siedeley, wo wir so oft gruben und pflanzten und jäteten und plauderten und ernteten, und Kartoffeln aßen und Pfirschen: an den Bergen lagen die freundlichen Dörfer umher, und der Fluß wand sich gekrümmt durch die Bergschluchten hinab, in denen kein Pfad und kein Eichbaum mir unbekannt waren.
Die Sonne blickte warm wie im Frühling, und wir nahmen dankbar und mit der heitersten Hoffnung der Rückkehr n unsern Begleitern Abschied. Noch einmal sah ich links nach der neuen Mühle auf die größte Höhe hin, die uns im Gartenhause zu Hohenstädt so oft zur Gränze unserer Aussicht über die Thäler gedient hatte, und wir wandelten ruhig die Straße nach Hubertsburg hinab. In Altmügeln empfing man uns mit patriarchalischer Herzlichkeit, bewirthete uns mit der Freundschaft der Jugend und schickte uns den folgenden Morgen mit einer schönen Melodie n Göthens Liede - Kennst du das Land? - unter den wärmsten Wünschen weiter nach Meißen.