Blücher und Weimar!« heißt ein Trinkspruch Jenaer Studenten um 1818, und er soll bedeuten: Freiheit für Deutschland nach innen wie nach außen, mit dem geistigen Weimar Goethes haben die Burschenschafter dabei nichts im Sinn. Zur Geschichte des klassischen Weimar zählt eben auch, daß der Mäzen des Kosmopoliten Goethe seine schützende Hand über das Entstehen einer deutschen Nationalbewegung hält, die zunächst durchaus demokratischen Zielen verpflichtet ist, aber von Anbeginn nicht frei bleibt von pronzieller Deutschtümelei und feindseliger Ablehnung alles »artfremden Welschen«. Weil sich ein deutsches Nationalbewußtsein erst im Kampf gegen das Napoleonische Frankreich herausbildet und deutsche Identität nur in Abgrenzung und Feindschaft gegen die »Welschen« entwickelt, läuft dem, was als vernünftig demokratisch-national gelten muß, tragischerweise seit seiner Geburt ein Element des Wahnhaft-Teutschen und Nationalistischen parallel, und beide Tendenzen lassen sich nicht immer voneinander trennen. Die Stichworte dafür heißen Jena, Urburschenschaft und Wartburgfest. Und wenn die Jahrestage von Reformation und Völkerschlacht 1817 bei Eisenach gemeinsam gefeiert werden, macht dies zugleich deutlich, daß die Entwicklung dieser deutschen Nationalbewegung vor allem eine Sache der deutschen Protestanten ist. Mag der eine nun von Zufall, der andere von historischer Konsequenz sprechen, Tatsache bleibt, daß ausgerechnet ein Herrscher jenes Geschlechtes, das dreihundert Jahre zuvor Luther beschützt und seiner Reformation den Weg geebnet hat, zum Schirmherrn der ersten Nationalfeier der deutschen Jugend wird. Wie auf dem kolossalen Gemälde des Schweizer Malers Ferdinand Hodler, das noch heute in der Aula der Universität Jena zu bestaunen ist, beginnt dieser nationale Aufbruch zunächst mit eitel Sonnenschein: Da vertauschen die Studenten der Salana den zilen Rock gegen die schwarze Litweka der I.ützower Freischaren, klettern aufs Pferd und ziehen - wie sagt doch der Spruch? - frisch, fröhlich, fromm und frei in den Kampf gegen Napoleon. Die Farben ihrer Uniformen - schwarzes Tuch, rote Aufschläge, goldene Messingknöpfe - finden sich auf der Fahne der Urburschenschaft wieder, die nach dem Befreiungskrieg in Jena gegründet wird: Drei breite Streifen aus doppeltem Atlas in den Farben Rot, Schwarz und Gold, mit zwei Eichenblättern geziert und goldenen Fransen umrahmt. Schwarz-Rot-Gold waren die Wappenfarben des untergegangenen Reiches, sehr bald werden es die Farben der demokratischen 48er-Revolution sein: Heinrich von Gagern, Präsident der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche, hat als Burschenschafter in Jena studiert. Nach dem zweiten Weltkrieg übernimmt dann die Bundesrepublik mit der alten demokratischen Tradition auch deren Farben. Freiheit nach innen und außen ist das liberale und demokratische Ziel, der Ruf nach Bürgerfreiheit und Freiheit des Vaterlandes eint die aus dem Krieg heimgekehrten Studenten in Jena. Noch unter den Fahnen ihrer alten Landsmannschaften marschieren sie, 143 an der Zahl, am 12. Juni 1815 auf dem Marktplatz auf. Dann ziehen sie in langen Reihen durch enge Gassen über die alte Saalebrücke zum nahe gelegenen Gasthaus »Zur Tanne« und lösen die Verbindungen, denen sie angehören, ihre Landsmannschaften, als Zeichen deutscher Zwietracht und Zersplitterung auf. Die seidenen Fahnen der Franconia, Saxonia und Thurin-gia senken sich, und die Urburschenschaft wird aus der Taufe gehoben. »Es soll und darf auf deutschen Universitäten«, so das Programm, »nur eine Einheit bestehen, alle Studierenden müssen zu einer Verbindung gehören, alle müssen Mitglieder der Burschenschaften werden.«
Als in Jena ein »schlechtes Haus«, ein Bordell, eingerichtet werden soll, schlagen Burschenschafter die Fenster ein, zerstören die Möbel und nehmen, so der Theologiestudent Krummacher, für ihre »grimmige Kundgebung sittlicher Entrüstung« gelassen Karzer und Schadenersatzzahlungen in Kauf. Weil die Urburschenschaft das Studentenleben reformieren und »rechtlich und sittlich wirken« will, wie ihr Mitbegründer Ferdinand Herbst einmal postuliert, weil sie Front macht gegen die ungehobelt-rohen Sitten des studentischen Lebens und sich einer nationalen, staatsbürgerlichen Erziehung ihrer Mitglieder annimmt, nicht zuletzt weil ele Jenaer Professoren diese Bestrebungen unterstützen, zeigt sich Carl August beeindruckt. Goethe freilich, seit seines Fürsten Avancement zum Großherzog nun Staatsminister, vor dem die Schloßwache zu salutieren hat, der Dichter, dem sich das Ancien regime stets nur von seiner liebenswürdigsten Seite zeigte, der große Genius der Deutschen, von seinem Großherzog mit der »Oberaufsicht über die Anstalten der Kunst und der Wissenschaften« betraut, Goethe schwankt: Einerseits bekundet er Wohlwollen, denn zu den führenden Urburschenschaftlern gehört Friedrich Johann Frommann, der Sohn des ihm eng vertrauten Jenaer Buchhändlers und Verlegers Carl Friedrich Ernst Frommann, dessen junge Pflegetochter Minchen Herzlieb zu seinen elen, meist harmlosen Altersliebschaften zählt (ausgenommen die mit Ulrike von Levetzow in Marienbad). Friedrich Johann wird später zum Mitbegründer des »Börsenvereins der deutschen Buchhändler«, im Haus seines Vaters lernt Goethe Führer der Burschenschaften kennen, darunter den sympathischen, bescheidenen, nachdenklichen dreiundzwanzigjährigen Ricmann, Theologiestudent und seit der Schlacht von Ligny Träger des Eisernen Kreuzes. Dieser Heinrich Hermann Riemann, ein führender Vertreter der studentischen Reformbewegung, der naiv, hochherzig und arglos von Freiheit und Vaterland träumt, wird auf der Wartburg dann die Hauptrede halten. Bei den Frommanns lauscht Goethe auch einem Burschenschaftschor, der Lieder von Körner, Arndt und ihm selbst vorträgt. In seiner Jenaer Wohnung empfängt er eine Abordnung der Burschenschaft, so berichtet Hermann Haupt, die ihn um Vorlesungen über Asthetik und Literatur bittet. Er entläßt sie mit der Zusicherung, »zu gelegener Zeit« gern ihrem Wunsch nachzukommen. Andererseits hält der Geheimrat und Staatsminister nichts von der Gründung neuer Orden, Innungen oder Korporationen, wie er seinem Kollegen Voigt schreibt. Eine Verhandlung im Landtag und politische Auseinandersetzungen in Zeitungen sind ihm ein Greuel - soll er nun etwa befürworten, daß die Studenten ihre Ideen in öffentlicher Versammlung proieren? Goethe ist eben kein Demokrat, und der Weltbürger hält nichts von deutscher Einheit, überzogenem Nationalstolz und Deutschtümelei. Wie heißt es doch in den »Xenien«:
»Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens;
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.«
Nationalstolz und Deutschtümelei lassen sich schwerlich übersehen, dafür sorgen schon der vaterländische Mentor und Vorsänger der Urburschenschaft, Ernst Moritz Arndt, und ihr Erzieher an Reck und Barren, Friedrich Ludwig Jahn, der »Wotan im Bürgerrock«. Arndts Patriotismus, sein Wort »Das ganze Deutschland soll es sein«, begeistert Lützower wie Studenten, sein Lied »Was ist des Deutschen Vaterland« haben sie bei der Gründung der Urburschenschaft im Gasthaus »Zur Tanne« gesungen. Aber gerade Arndt, Bauernsohn von der Insel Rügen und auf seine Art auch ein revolutionärer deutscher Demokrat, vermag seine Vorstellung von Deutschtum nur voller Haß gegen alles Welsche definieren, und dieser Haß reicht so tief, daß Arndt sich nicht scheut, das Wort vom »Franzosenungeziefer« unter seine Deutschen zu streuen. Franzosen sind für ihn schlicht die Nachfolger der Römer, beide waren auf die Unterjochung des heiligen Gcrmaniens aus: »So ziehn wir aus zur Hermannsschlacht und wollen Rache haben«, dichtet Arndt und findet einen Gesinnungsgenossen in Friedrich Ludwig Jahn, dem Sohn eines brandenburgischen Dorfpredigers, der sich den gewaltigen Bart eines altgermanischen Recken wachsen läßt. Dieser Jahn träumt von einer alljährlichen Nationalfeicr der Deutschen am Tag der Hermannsschlacht, die Frau will er auf ewig in die Rolle eines »altdeutschen Biederweibs« bannen, das sich im Dienst als »Hausfrau, Gattin und Mutter« erschöpft. Pädagoge in Berlin, veröffentlicht er mit seinem »Deutschen Volkstum« ein nationales Erziehungsprogramm zur sittlichen Hebung und patriotischen Erneuerung der Studentenschaft und gründet dafür 1810 seinen geheimen »Deutschen Bund«. Im Jahr darauf schon zieht er mit seinen Zöglingen in die Berliner Hasenheide und wird zum frühesten Wehrertüchtiger deutscher Nation: In ungebleichte, graubraune Leinwand gehüllt, haben seine Schüler und Studenten zu springen, zu klettern und zu turnen, um sich »körperlich zum Kampf gegen die Feinde des Vaterlands zu erkräftigen«. Er trage nichts anderes im Kopf als »sein Ideal eichelfressender Germanen, versetzt mit etwas starrem Protestantismus und dann seine Theorie des Drauf- und Dreinhauens«, sagt ein Zeitgenosse, der Schriftsteller Karl Leberecht Immermann, später Direktor des Düsseldorfer Theaters, von diesem Jahn. Nicht el anders urteilt Saul Ascher, ein jüdischer Berliner Schriftsteller, der Jahns Ideen als »Ger-manomanie« bezeichnet und 1815 unter diesem Titel eine »Skizze zu einem Zeitgemälde« vorlegt. Jahns Anhänger, die »Germanomanen«, bezeichnet Ascher als frciheitlich-altertümelnd, enragiert und borniert, hellsichtig warnt er vor dem »Kreuzzug gegen alles Undeutsche oder Ausländische«, den die Turner und »teutschen« Tugenbündler im Sinne hätten. Immermann ist begeisterter Anhänger Napoleons, Ascher, der von Peter Hacks als »bester Hasser der Romantik« gepriesen wird, ein großer Freund der Französischen Revolution.
Die sich am 18. Oktober 1817 auf dem Eisenacher Marktplatz zum Festzug versammeln, erhundertfünfzig Studenten aus allen Gegenden Deutschlands, tragen altdeutsche Tracht: kurzen, hochgeknöpften schwarzen Rock mit breitem, offenem Hemdkragen, langen Hosen, gespornten Stiefeln und wallenden Haaren, gekrönt von einem Samtbarett; manche lassen sich einen Bart stehen und tragen Degen. Sie feiern mit ausdrücklicher Duldung, wenn nicht Förderung des Weimarer Großherzogs, der ihre nationalen Bestrebungen unterstützt, sich freilich mit seinen Räten von diesem Nationalfest der Jugend auch eine besondere Anziehungskraft für seine Universität erhofft. Warnungen des »Großbritannisch-Hannoverschen-Cabinets-Ministeriums« vor Umtrieben, die »den bestehenden Regierungen schädlich zu werden drohen«, schlägt er als unerwünschte Einmischung in innere Angelegenheiten in den Wind; insgeheim freilich weist er seine Eisenacher Behörden an, notfalls mit Landsturm gegen etwaige Exzesse vorzugehen. Unnötige Vorsorge, wie sich zeigen wird.
Gleich mit einem mehrfachen Vivat auf den Landesherren danken ihm die Burschen auf der Wartburg. Die Hochrufe gelten nicht allein dem Protektor einer Zusammenkunft, die reaktionäre Regierungskanzleien hatten hintertreiben wollen, sie sollen auch den Fürsten ehren, der seinem Land eine Verfassung gegeben hat - Hoch Herzog Dir, »der Du Dein Wort gelöset treu / Wie Du es gabst zum Pfände. / Verfassung heißt das eine Wort, / Des Volkes wie des Thrones Hort!« In der Tat: Daß ausgerechnet Jena zum nationalen Hauptquartier der Burschenschaftsbewegung geworden ist, hätte wohl ohne die von Carl August in die Verfassung geschriebene Pressefreiheit im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach kaum geschehen können: Parallel zu Bertuchs Oppositionsblatt in Weimar sprießen Zeitschriften in der Saale-Stadt geradezu aus dem Boden - der Naturwissenschaftler Lorenz Oken bringt seine »Isis«, Ludwig Wieland, Sohn des Dichters und radikaler Demokrat, seinen »Volksfreund« heraus, der später dann »Patriot« heißen wird; der Historiker Heinrich Luden veröffent licht seine »Nemesis - Zeitung für Politik und Geschichte«. Alle drei Zeitschriften haben eine nationale, liberale und demokratische Tendenz. Von Jena geht denn auch die Einladung zum Wartburgfest aus, ausschließlich an protestantische Universitäten adressiert, weil die Feier der nationalen Befreiung durch die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 nach dem Willen der Veranstalter mit dem dreihundertsten Jubiläum der Reformation gekoppelt wird. Die Wartburg, seit dem Sängerkrieg, der heiligen Elisabeth und Junker Jörg, der dort die Bibel übersetzte, elleicht die deutscheste aller Burgen, bietet sich als Versammlungsort an, weil sie in der Mitte Deutschlands liegt, nicht weit vom Leipziger Schlachtfeld entfernt, aber bequem von Heidelberg oder Tübingen, Hamburg oder Kiel, Berlin oder dem sächsischen Freiberg zu erreichen.
National und deutschtümelnd, gutfreiheitlich und betont protestantisch geht es bei dieser Feier zu: Eisenach läßt alle Glocken läuten, als sich der Festzug auf dem Marktplatz formiert. Auf der Wartburg angekommen, wird im Festsaal erst einmal Gottesdienst gehalten, das Lutherlied von der »Festen Burg« erklingt, am Ende das obligate »Nun danket alle Gott«. Mit beinahe religiösem Pathos setzt der Student Heinrich Hermann Riemann Reformation und Befreiungskriege in eins und beschwört Martin Luther als den großen Patrioten und Befreier von römischer-kirchlicher Knechtschaft, als den Helden der Deutschen, der Vorbild und Kraftquell sei für die Gegenwart. Thomas Mann wird später von Luthers Untertanengeist sprechen und ihn, abfällig und doch um seiner Kraft willen bewundernd, den deutschesten der Deutschen nennen - hier auf der Wartburg gilt der Reformator nicht nur als Vorkämpfer für nationale Unabhängigkeit, man nimmt ihn gar für Bürgerfreiheit in Anspruch, als einen politischen Liberalen also, der er ganz gewiß nie gewesen ist und als Mann seines Jahrhunderts auch gar nicht hat sein können. Und dennoch: »Heilige Stille herrschte in den Versammlungen und Thränen der Rührung füllten die Augen.« Naiver Idealismus, Günter Steiger hat dies in seiner Geschichte des Wartburgfestes gut herausgearbeitet, feiert auf den Höhen über Eisenach wahre Triumphe. »Auf, die Schranken sind offen, überall winken die Kränze, auf daß unsere Körper reifen für die kommende Zeit«, so einer der Redner, »auf daß eine keusche und frohe, lebensfrohe Sitte wachse auf den lustigen Bergen und in den Thälern des Segens und Gesanges, und daß ein so schöner Wetteifer werde in dem Vaterland, wo die Eichen trotzen, und eine Jugend blühe, frisch und stolz, wie sie.« Es geht eles durcheinander in den Köpfen der Studenten, aber in einem Punkt sind sich alle einig: Wer bluten durfte fürs Vaterland, der hat auch alles Recht, über dessen künftige Ordnung mitzubestimmen. Ist nicht gottlob die Zeit gekommen, wo sich der Deutsche nicht mehr fürchten soll »vor den Schlangenzungen der Lauscher und dem Henkerbeil der Tyrannen«, eine Zeit, in der »sich niemand entschuldigen muß, wenn er vom Heiligen und Wahren spricht« ? Der so redet, der Jenaer Student Ludwig Röder, ist Schüler des Philosophen Jakob Friedrich Fries und ganz dessen Geistes Kind. In einem politischen »Glaubensbekenntnis« hat der Philosoph seinen ganzen Zorn auf die herrschenden Zustände zu Papier gegeben - er haßt die »Knechtsfreude, die Sklavenfreude an edlen Prinzen und Prinzessinnen«, er verachtet das »Hofgepränge« und verabscheut die »Dienstwonnen der Residenzen«. Lauscher mit Schlangenzungen gibt es genug, es bedarf wirklich keiner Bücherverbrennung auf dem Wartenberg, um dieses nationale Studentenfest in den reaktionären Kanzleien deutscher und ausländischer Herrscher zum Skan-dalon zu machen: Die Wartburg-Redner, berichtet der russische Gesandte in Berlin empört dem Zarenhof, hätten sich unterstanden, in revolutionärer Gesinnung laut den Wunsch nach einer allgemeinen republikanischen Verfassung auszusprechen. Gott behüte! Und drauf-gesattelt auch noch das Autodafe!
Angeblich hat Friedrich Ludwig Jahn, der germanomane Wüterich und Vorturner der Nation, eigenhändig die Liste jener Autoren und Bücher zusammengestellt, die da nebst Symbolen einer überholten militärischen Prügeldisziplin des Ancicn regime, einem Schnürleib preußischer Ulanen, einem österreichischen Korporalstock und einem hessischen »Pracht-, Prahl- und Patentzopf« in die Flammen auf dem Wartenberg wandern. Schon aus Geldmangel fliegen da allerdings selten richtige Bücher, sondern Pappkartons mit den Aufschriften von Titel und Verfasser ins Feuer. Jahns Mitwirkung ist nicht erwiesen, doch unbestritten bleibt, daß die Anregung zu dem Feuergericht von einer ihm nahestehenden Minderheit radikaler Burschenturner um Hans Ferdinand Maßmann ausgegangen ist.
Später zur Rechtfertigung angehalten, sieht er in der fanatischen Tat nicht etwa den übermütigen Studentenulk, als den ihn die Weimarer Regierung den empörten Kanzleien in Preußen und Österreich beschönigt, sondern bekennt sich zu ihrem demonstrativ-politischen Charakter: Sie sei als bewußte Absage an die »Machwerke des Schergen-, Hof-, Zopf-, Schnür- und Perückentcufels« zu verstehen, als demonstrative Verdammung der »Grundsätze und Irrlehren der Zwingherrschaft, Knechtschaft, Unfreiheit und Ungerechtigkeit, Unmännlichkcit und UnJugendlichkeit, Geheimkrämerei und Blind-schleicherei, des Kastengeistes und der Drillerei«. Ungeachtet der Tatsache, daß er so manche bürgerliche Freiheit nach Deutschland gebracht hat, steht der Code Napoleon für Fremdherrschaft und wird verbrannt, kurz danach wird der preußische »Kodex der Gendarmerie« als Zeichen von Knechtschaft und Unterdrückung in die Flammen geworfen. Man fühlt großdeutsch und altdeutsch, fürstenfeindlich und nach Art der Sippe, schreibt Peter Hacks. Insgesamt wurden achtundzwanzig Autoren verbrannt, siebzehn davon hat er ermittelt - Feinde des Turnwesens und der Burschenschaft, Rheinbundfreunde, Anhänger Napoleons oder der Freiheiten der Französischen Revolution, Verfechter des Absolutismus und der Feudalordnung wie jener Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller, dessen Hauptwerk »Restauration der Staatswissenschaft« einer ganzen Epoche dann den Namen geben wird. Zu den verbrannten zählt Ludwig Gotthard Kosegast, weil er am Napoleonstag 1809 eine freundliche Rede auf Napoleon hielt, aber auch die Zeitschrift »Allemannia« des bayrischen Freiherrn von Aretin, eines Anhängers des frankreichfreundlichen bayrischen Staatsmanns Montgelas. Ein Werk Karl Leberecht Immermanns, der Jahn als eichelfressenden Germanen porträtierte, wird in die Flammen geworfen, und natürlich fehlt unter den Verdammten und Verfemten jener Saul Ascher nicht, der den gefährlichen Spuk des selbsternannten Nationalerziehcrs Jahn früh durchschaut hat, nämlich »in der Deutschheit gegen die Gallomanie ein Gegengewicht zu erlangen«. Als seine »Skizzen zu einem Zeitgemälde«, seine »Germanomanie« auf dem brennenden Holzstoß landet, ruft Jahns Schüler Maßmann: »Wehe über die Juden, so da festhalten an dem Judcnthume und wollen unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen.« Es ist der einzig offen antisemitische Ton dieses nationalen Fests, anderthalb Jahrzehnte später in Hambach wird sich Judenfeindschaft sehr el lauter artikulieren. Juden sind unerwünscht, sagen die ebenso radikal-nationalen wie radikal-christlichen Gießener »Unbedingten«, nach ihrer Kleidung auch die »Schwarzen« genannt, die Burschenschaftler der Saiana folgen ihrem Beispiel und beschränken die Mitgliedschaft auf Deutsche und Christen. Ausländer und Juden sind damit automatisch ausgeschlossen, was den Burschenschafter und Theologen Richard Rothe aus Heidelberg empört von einem »durchaus nichtigen und hohlen Deutschheitshochmut« sprechen läßt, der in Jena herrsche.
Bücherverbrennungen sind damals nicht so ungewöhnlich, wie uns die barbarische Tat der Nationalsozialisten 1933 heute denken läßt; selbst das preußische Allgemeine Landrecht kennt sie als Strafe - und zwar als »höchst zweckmäßige«, wie einer der auf der Wartburg verbrannten Autoren, der preußische Polizeiminister von Kamptz selbst einmal erklärt. Luther, auf den sich Maßmann und seine Freunde auf der Wartburg berufen, hat die Bannbulle samt kanonischen Rechtsschriften vor dem Elstertor in Wittenberg verbrannt, auch der aufgeklärteste deutsche Monarch seiner Zeit, Friedrich der Große, ließ ein Werk Voltaires öffentlich ins Feuer werfen, als er sich mit ihm zerstritten hatte. Deutsche Autoren schreckten durchaus nicht davor zurück, ihnen mißliebige Werke von konkurrierenden Schriftstellern den Flammen zu überantworten: Die Dichter Stoltenberg, Voß und Hahn, Mitglieder des Göttinger Hain, betrachteten Wieland als Sit-tenverderber und Schurken, nannten ihn »Priester der Geilheit« und einen infamen französischen Hundsfott. Am Geburtstag des von ihnen angebeteten Klopstock, dem »reinen« Dichter des »Messias« zu Ehren, verbrannten sie Wielands »Idris und Zenide«. Ein deutscher Germanist, Alfred Biese, bekundet noch 1920 Verständnis dafür, daß die Hainbündler an der »ungesunden, an das Schlüpfrige streifenden Phantasie« in Wiclands fünf Gesängen über den irrenden Ritter Idris Anstoß genommen hätten.
Distanzierend schreibt der altersweise Goethe, der in den Jenaer Burschen vor allem hitzige Brauseköpfe sieht, seinem Freund Zelter vom »garstigen Wartburger Feuerstank«, den ganz Deutschland übel empfinde. Aber das sind Außerungen lange post festum, nachdem Abgesandte aus Berlin in Weimar vorstellig geworden sind und vom »Altburschen« Carl August, wie der Großherzog in den Amtsstuben der Heiligen Allianz jetzt ebenso verächtlich wie mißtrauisch genannt wird, harte Maßnahmen gegen das revolutionäre Schlangennest Jena gefordert haben.
Zunächst nimmt Goethe die Sache leicht, ja beinah vergnügt: Daß zu den auf der Wartburg verbrannten Werken auch die »Geschichte des deutschen Reiches von den Anfängen bis zu seinem Untergang« von August von Kotzebue zählt, dessen erster Band Zar Alexander gewidmet ist, wahrlich kein solides, sondern ein flüchtig geschriebenes Buch, läßt ihn frohlocken: »Die Jugend hat es Dir vergolten / Aller End kam hier zusammen, / Dich haufenweise zu verdammen. / St. Peter freut sich deiner Flammen!«
Die Feindschaft zwischen dem Dichter, der Weimars Ruhm in die Welt trägt, und Kotzebue, dem einzig bedeutenden literarischen Sohn Weimars und mcistgespielten deutschen Bühnenautor seiner Zeit, ist ebenso tief wie alt, denn sie reicht in Kotzebues Weimarer Jugendjahre zurück. Damals verkehrte der Weimarer Neuling Goethe im Hause der verwitweten Legationsrätin Christina Kotzebue, die einen heiteren Knaben namens August und eine anmutige Tochter namens Amalie großzog, gegen deren Reize er keineswegs unempfindlich war und die er noch in »Dichtung und Wahrheit« als »liebenswürdig« bezeichnen wird. Einem Weimarer Ondit zufolge hat er das kleine Stück »Die Geschwister« nur geschrieben, weil er als Wilhelm selbst bei der Liebhaberaufführung »mit auffallender Konzentration« als ihr Partner auf der Bühne stehen konnte. Die hübsche und gescheite Amalie spielte nämlich die Marianne, ihr jüngerer Bruder August als unbedeutende Charge den Postillon. Schon als Knabe ist dieser August Kotzebue theaterbesessen; wann immer eine herumziehende Gesellschaft ihre Bühne auf der Weimarer Reitbahn errichtet, ist er mit seinem Erzieher Musäus unter den Zuschauern. Er schwänzt unangenehme Schulstunden, um mit seinen Mitschülern Komödie zu spielen. Als Anna Amalia im Schloß ein ständiges Theater einrichtet, schleicht er an den Wachen vorbei in den Orchesterraum, um auch nicht einen Tag dieser herrlichen, bunten, aufregenden Spektakel zu versäumen, jeder Gang, jeder Schlupfwinkel ist dem Theaterbesessenen vertraut. Als der Sechzehnjährige nach Jena geht und Jura studiert, wird er sofort Mitglied des Liebhabertheaters und beginnt, eigene Stücke zu schreiben. Eines trägt den Titel »Die Weiber nach der Mode«, steckt voller Anspielungen und verschleierter Stadtanekdötchen und erregt, weil der Autor selbst die verwittibte Herzogin nicht verschont, unliebsames Aufsehen in der Residenz an der Um. Nach Ende seines Studiums Advokat, sucht er die einzig angemessene Position in weimarischen Diensten zu erhalten, die zu besetzen ist, die eines Kriegs-Secretarius, und bittet den zuständigen Kriegskommissar und Geheimrat Goethe um eine Audienz. Sind es die Nachwirkungen seiner Sottisen und Stadtanekdoten, die den Hof gegen ihn aufgebracht haben, oder ist es schlicht Goethescher Nepotismus, daß er diese Stelle nicht erhält? Beide Motive spielen eine Rolle. Dräuend legt der Hof dem jungen Spötter und Nestbeschmutzer nahe, das Großherzogtum schleunigst zu verlassen, und Goethe läßt den jungen Anwalt daraufhin gar nicht erst vor. Der Kriegs-Commissarius hat die Stelle seinem langjährigen Diener und Vertrauten Philipp Seidel zugedacht. Als sich Christiane von Kotzcbue bei starker Sommerhitze zu Goethes Gartenhaus aufmacht, um für ihren Sohn ein gutes Wort einzulegen, weist der Bediente sie ab, obschon der Geheime Rat zu Hause ist. Kotze-bue freilich sieht die Schuld ausschließlich bei Goethe, um dessen großen Einfluß bei Hofe er weiß. Goethe hat »mich in die Welt hinausgeworfen«, wird August von Kotzebue rückblickend schreiben, zornig, daß ihm, dem Advokaten, Landeskind und Sohn des um den Weimarer Hof verdienten Legationsrats ein Bediensteter aus fremden Landen vorgezogen wurde.
Zu bereuen hat er es nicht: Er geht nach Rußland und macht am Zarenhof Karriere. Zwar wird er vorübergehend nach Sibirien verbannt, doch gelingt es ihm, die Gunst des Hofes wieder zu erringen, er wird geadelt und erwirbt ein stattliches Vermögen, das ihm ein Leben in Unabhängigkeit garantiert. Letztlich verdankt er Goethe, daß er den engen, kleinstädtischen Verhältnissen Weimars entrinnt und sehr el mehr von der Welt kennenlernt als der große Dichter. Seine Komödien und Dramen sind mit Anspielungen und Sottisen auf den großen Meister gespickt. So heißt es in seiner beliebten, auch in Weimar immer wieder gespielten »Cleopatra«:
»Mein Cäsar ist nun todt! und mit ihm alle Freuden!
D'rum trink ich grünen Thee und lese Werthers Leiden.
Sublimester Scribent! du des Geschmacks Orakel!
Ich sitz' und lese dich, und geh' in kein Spektakel.«
Kotzebue respektiert den Dichter des »Werther« und der »Iphige-nie«, die er als Theaterdirektor in Königsberg aufführen läßt, am späten Goethe kritisiert er Kälte und Mangel an Unterhaltsamkeit und macht sich lustig über die »Weihrauchwolken«, in die er sich gern hüllen lasse. Umgekehrt nennt Goethe Kotzebue ein »vorzügliches, aber schluderhaftes Talent«, gelegentlich auch den »Gott der Pfuschereien«. Doch achtet er den versierten Techniker des Dramas, der geschickt mit trialen Effekten spiele und genau wisse, wo die Zwiebel zu reiben sei, damit den Zuschauern die Tränen kämen. Als Theaterdirektor, der dafür zu sorgen hat, daß die Kasse stimmt, kommt er nicht umhin, den ungeliebten, teils verhaßten Kotzebue immer wieder auf den Spielplan zu setzen: Mit 638 Aufführungen von 87 Stük-ken ist Kotzebue in Goethes Zeit als Theaterdirektor vor Iffland mit 31 Stücken und weit vor Goethe und Schiller der in Weimar am häusten aufgeführte Autor. Die meisten seiner über zweihundert Lustspiele, Rührstücke und Dramen werden elfach übersetzt, »Menschenhaß und Reue« gleich in elf Sprachen gedruckt, Pariser und New Yorker Bühnen führen Kotzebue in ihrem Repertoire. In Frankreich gehört er zur Pflichtlektüre für Schüler, seine »Deutschen Kleinstädter«, so Fritjof Stock, haben das Deutschlandbild eler Franzosen geprägt. Ob es stimmt, daß dieses Krähwinkel, in dem er seine Kleinstädter leben läßt, Züge von Weimar trägt und er an der Heimatstadt Rache für Liebesentzug nehmen will, steht dahin, aber eine geplante Aufführung dieses Stücks, das sich über die deutschen Spießbürger und ihre Titelsucht lustig macht, führt zum endgültigen Bruch zwischen Goethe und Kotzebue: Goethe will die Seitenhiebe gegen seine Freunde, die Romantiker in Jena, auf der Bühne nicht dulden, Kotzebue besteht darauf und trägt indirekt einen Sieg über den Theaterdirektor davon. Im Weimar des großen Genies Goethe gibt es eine nicht zu unterschätzende Kotzebue-Partei, angeführt von Maria Paulowna, die das komische Talent des einzig autochthonen Weimarer Autors schätzt und 1815 zu ihrem Geburtstag gleich zwei seiner Stücke spielen läßt. Die Hofdamen mögen Kotzebues Witz, seine Lust an der Satire, seine vergnügliche Unterhaltsamkeit, zugleich brechen sie bei der »süßlichen Fmpfindeley« seiner Rührstücke nur zu gern in Tränen aus. So setzen sie eine ungekürzte Aufführung seiner »Kleinstädter« auf der Liebhaberbühne im Residenzschloß durch.
Nicht nur literarisch, auch politisch trennen Goethe und Kotzebue Welten: Napoleonbewunderer der eine, Napoleonhasser der andere, der in seinem Stück »Die Abentheuer Niclas Bonapartes und seine Ankunft in der Hölle« einen Regen von Pech und Schwefel auf den Kaiser der Franzosen niedergehen läßt. Ironischerweise finden beide später beinahe zusammen - Goethe bekundet Verständnis für Met-ternich, die Heilige Allianz und die Karlsbader Beschlüsse, Kotzebue nimmt aktiv für die reaktionäre russische Politik Partei. Ist Kotzebue vor den vorrückenden Truppen Bonapartes 1812 auf seine Güter in Estland geflohen, gibt er für die siegreichen Armeen des Zaren 1813 dann deutschsprachige Bulletins, im Auftrag der russischen Armeeführung in Berlin schließlich ein »Deutsch-Russisches Volksblatt« heraus. Als pensionierter russischer Staatsrat mit Frau, elf Kindern und einem ganzen Troß von Gouvernanten, Kindermädchen, Hauslehrern und Bedienten nimmt er im April 1817 wieder Wohnung in seiner Vaterstadt. In geheimen Bulletins an die kaiserliche Regierung in Petersburg berichtet er über den revolutionären Gärungsprozeß an Deutschlands Universitäten. Um klar in die Zukunft zu sehen, heißt es da, fehle es den Professoren, Katheder- und Stubengelehrten allesamt »an der nötigen Weltkenntniß«, keiner von ihnen warne die Studenten vor den germanomanen Turnern und halte sie zu realistischem Tun an. Der Same, »den sie in junge Gemüther streuen«, könne deshalb nur »bittere Früchte tragen«. Sein Fazit: »Wahrlich! Jeder Vater muß jetzt zittern, einen Sohn an die Universität zu schicken.« Kotzebue sieht sich als eine Art literarischer Agent, die Burschenschafter, vor allem die Gießener »Unbedingten«, die mit dem von Gießen nach Jena gewechselten Privatdozenten Karl Folien an der Saale inzwischen Proselyten machen, betrachten ihn schlicht als russischen Spion. Dies zumal, da einer seiner Berichte an den Zarenhof bekannt wird - die »Nemesis« des Historikers Luden wollte ihn abdrucken, wurde dann jedoch beschlagnahmt. Ludwig Wieland springt mit seinem »Volksfreund« in die Bresche und macht den skandalösen Bericht publik.
Zu den Lesern gehört der Theologiestudent Karl Ludwig Sand, der schwermütige, schwärmerisch-verträumte Sohn eines Stadtrichters und Amtsvogts aus dem preußisch-bayreuthischen Wunsiedel, der den Wunsch hat, Missionar zu werden. Er kommt aus einem betont nationalen Elternhaus, seine Mutter hat vom Bündnis Bayerns mit dem napoleonischen Frankreich stets nur als einem »Lastersystem« gesprochen. Sand studiert zunächst in Tübingen, dann in Erlangen, wirkt beim Zug auf die Wartburg als Fahnenträger mit und schreibt sich nach dem erhebenden »religiösen teutschen Burschenfest« zum Studium in Jena ein. Dort hört er bei Karl Folien, einem erklärten Republikaner, der demokratische Ziele notfalls durch eine bürgerliche Revolution herbeiführen und dafür einen Geheimbund gründen will. Mehr und mehr gerät er in den Bann seines Lehrers, den er verehrt und der Gewalttat, ja politischen Mord nicht ausschließt, wenn es darum geht, die demokratische Sache voranzubringen. »Menschenmenge, große Menschenwüste, / Die umsonst der Geistesfrühling grüßte, / Reiße, krache endlich, altes Eis! / Stürz' in starken, stolzen Mecresstrudeln/ Dich auf Knecht und Zwingherrn, die dich hudeln,/ Sey ein Volk, ein Freistaat! Werde heiß!« Diese Verse aus Follens »Großem Lied« finden sich auf einem Flugblatt, das Sand, selbsternannter Herold eines demokratischen Patriotismus, unter der Überschrift »Teutsche Jugend an die teutsche Menge« im Oktober 1818 als Mahnung an die Völkerschlacht in Berlin verbreitet. In Anlehnung an die dreißig Tyrannen von Athen fordert er darin zur Ermordung der »dreißig oder dreiunddreißig fürstlichen deutschen Tyrannen« auf. Ernst Moritz Arndt hat Kotzebue einmal als eine »in Weimar ausgeheckte Schmeißfliege« bezeichnet. Karl Ludwig Sand, nach Michael Freund ein »Heiliger der neuen Religion des Volkes«, der den Fememorden hundert Jahre vor dem Ersten Weltkrieg vorgreift, dieser Einzelgänger und Märtyrer aus ureigenstem Antrieb bildet sich in Jena speziell in Anatomie, damit er dieser Schmeißfliege, dem Spion, Verräter und gewissenlosen Fürstenknecht Kotzebue, zielsicher »das Messer ins Gekröse« stoßen kann, wie er seinem Tagebuch anvertraut.
Folien zahlt ihm die Fahrt mit der Postkutsche nach Mannheim, wo Kotzebue inzwischen wohnt. Die Reise führt über Eisenach, wo Sand Station macht, noch einmal auf die Wartburg steigt und sich von der Erinnerung an die begeisternden Tage des großen Fests vor anderthalb Jahren inspirieren läßt. Im Gepäck befinden sich Gedichte des gefallenen Lützowers Theodor Körner, das Johannes-Evangelium und ein zwölf Zoll langer Dolch. Am 23. März 1819 läßt er sich bei Kotzebue melden, gibt vor, aus dem kurländischen Mitau zu stammen und einen Brief von Freunden des Dichters zu überbringen. Nur wenige Augenblicke stehen sie sich gegenüber, der berühmte Weltmann und Stückeschreiber im grauen Frack, der Theologiestudent und religiös-vaterländische Fundamentalist, der mit Gottes Hilfe die Flammen der vaterländischen Begeisterung am Lodern halten will, in altdeutscher Tracht mit gestricktem Spitzenkragen und langen, in der Mitte gescheitelten Haaren. Dann zückt der Attentäter seinen Dolch und sticht dreimal zu - ins Gesicht, wo die Klinge im Oberkiefer stekken bleibt; in die linke Brust, wobei Herzbeutel und Lungenarterien verletzt werden; schließlich in die Lunge. Als der »Verräter des Vaterlands« tödlich getroffen am Boden liegt, sucht Sand sich durch mehrere Dolchstiche selbst das Leben zu nehmen, nicht ohne zuvor zu beten und Gott für den Sieg zu danken, den er über undeutsche, frivole Verderbtheit davongetragen habe. Der Selbstmordversuch mißlingt, und der wieder genesene Attentäter wird auf einer Wiese bei Mannheim öffentlich durch das Schwert hingerichtet. Steht die Mehrheit der Nation auf Seiten des Mörders? Viele fanatische Zuschauer, darunter Studenten aus Heidelberg, tauchen Tücher ins Blut des Gerichteten und tragen sie wie Reliquien heim, einige bitten den Scharfrichter, ihnen Locken von Sand zu verkaufen. »Manche Thräne floß auf Sands Grab«, schreibt der badische Diplomat Freiherr von Andlaw und fragt, ob es, statt einen Märtyrer zu schaffen, nicht klüger gewesen wäre, den mystisch-politisch-religiösen Schwärmer in eine Anstalt für Geisteskranke zu sperren und dort seinen fixen Ideen zu überlassen.
Schon die Wartburgfeier hatte die Großmächte zu energischen Interventionen beim Weimarer Hof veranlaßt. War das winzige Fürstentum Sachsen-Weimar durch sie auf dem Wiener Kongreß nicht gerade erst erhöht und vergrößert worden? Gebot nicht allein Dankbarkeit die allerpeinlichste Rücksichtnahme auf die Ziele der Heiligen Allianz? Staatskanzler Fürst Hardenberg erscheint mit einem Handschreiben Friedrich Wilhelms III. an den Großherzog, in dem in ernster Besorgnis über die politischen Umtriebe im Großherzogtum die Rede ist, welche den Preußenkönig und »alle deutschen Fürsten tief bekümmern«. Wien schickt den Grafen Zichy als Gesandten, um den Unmut des Kaisers zu überbringen und nähere Erkundigungen über den großdeutsch-demokratischen Unruheherd Jena einzuholen. Auch wenn sie Untersuchungen einleitet, Zeitungsredakteure vor Gericht stellt und Jenaer Professoren vorlädt und verhört, die beim Wartburgfest dabeigewesen sind, wiegelt die Regierung in Weimar im wesentlichen ab und verfolgt noch immer eine halbwegs liberale Politik. Ausgenommen die Bücherverbrennung, hätten die Studenten das Wartburgfest würdig begangen, aus vaterländischer Gesinnung gehandelt und gute, edle Zwecke im Sinn gehabt, heißt es in einem ersten Bericht an den Frankfurter Bundestag. Man müsse eben in Rechnung stellen, daß aus dem Krieg heimgekehrte Studenten, die man als begeisterte Soldaten gebraucht habe, sich nicht so leicht gängeln ließen. Geschickt verteidigt Carl August seine Politik der Preßfreiheit, indem er sich auf die Garantie beruft, welche der Deutsche Bund der Weimarer Verfassung gegeben hat. Zugleich fordert er ein Presserahmengesetz für den ganzen Bund. Die Burschen danken es ihm: Aus Anlaß der Taufe seines Enkels am 5. Juli 1818 marschieren sie im Hof des Schlosses mit Fak-keln auf. Der Großherzog grüßt sie vom Balkon, das Taufkind wird von einer Amme vorgezeigt, danach lädt er die Anführer der Burschen, darunter Heinrich von Gagern, zur Tafel. Metternich zeigt sich darob besonders erzürnt. Denkt man an die Bedingungen, die Weimar an die Träger seines Ordens vom Weißen Falken stellt - »Treue und Ergebenheit gegen das gemeinsame deutsche Vaterland« -, liegen die Ziele von Burschenschaft und Weimarer Regierung ursprünglich nicht weit auseinander. Doch das gute Einvernehmen wird beeinträchtigt, als die Sitten der Jenaer Burschen roher werden. Anläßlich des Besuches der russischen Kaiserinmutter kommt es im Winter 1818 in Weimar und Jena zu Ausschreitungen, die im Niederreißen eines Triumphbogens enden, der zu Ehren der Kaiserin errichtet wurde. Carl August schränkt die Weimarer Preßfreiheit nun durch eine Verordnung gegen Pressemißbräuche ein, die vom Landtag abgesegnet wird. Schelten, Schimpfen und Injurien gegen »hohe Personen im Regiment« sind danach ebenso untersagt wie »Injurien gegen auswärtige Staats-Oberhäupter und Regierungen«. Freilich wahrt man den Schein und nennt die Zensur nicht beim Namen: Mißbräuche zu verhindern, obliegt sogenannten festbesoldeten »Fiscalen«, auf deren Urteil hin man die Bücher und Zeitschriften beschlagnahmen kann. Wenn sich »die ganze Tendenz eines Zeitblattes« entschieden gefährlich darlegt, so ist es als »ein fortgehendes Ganzes« anzusehen und prosorisch zu unterdrük-ken, damit »größere Gefahren für den Staat abgewendet werden«. Im selben Jahr noch geben Luden seine »Nemesis« und Wieland seinen »Patriot« auf. Nach der Ermordung Kotzebues stellt dann auch Bettuchs »Oppositionsblatt« sein Erscheinen ein. Ein herzogliches Reskript mißbilligt Sprache, Form und Inhalt der Jenaer »Isis«, ihr Herausgeber Oken, vor der Wahl, entweder auf sein Blatt zu verzichten oder seinen Lehrstuhl zu verlieren, entscheidet sich für die »Isis« und wird entlassen. Er weicht nach Leipzig aus, wo er die Zeitschrift freilich nur als rein naturwissenschaftliches Blatt weiterführen kann.
Die elgerühmte Weimarer Pressefreiheit blüht knappe drei Jahre und wird dann auf Jahrzehnte ein Opfer der Restauration.
Mit der Tat Sands endet auch der Versuch Weimars, zwischen den Klippen der Großmächte einen einigermaßen liberalen Kurs zu steuern. Im Zuge einer Untersuchung über das geheime Fortbestehen der inzwischen verbotenen Burschenschaft werden siebzehn Studenten der Universität verwiesen und von jeder späteren Verwendung im Staatsdienst ausgeschlossen - ein früher Radikalenerlaß, wenn man so will. Vorsorglich untersagt die Obrigkeit den Studenten sogar das althergebrachte Singen in den Gassen. Solche Maßnahmen zeitigen allesamt »höchst ersprießliche Wirkung«, wie Goethe seinem Fürsten schreibt. Preußen und Osterreich verbieten ihren Studenten, sich in Jena zu immatrikulieren und stellen damit den »Altburschen« Carl August unter Kuratel. Auch in Sachsen-Weimar gilt es nun, die Karlsbader Beschlüsse zu exekutieren - eine Pflicht, der Carl August unwillig und voll innerem Grimm genügt, indes sein Staatsminister Goethe ihnen eher positive Seiten abgewinnt. In der Pressefreiheit sieht er ohnehin nur »Preßfrechheit« böswilliger Goethekritiker, spricht gern vom »Narrenlärm unserer Tagesblätter«, vom »Journalistenteufel«, der alles in die Öffentlichkeit zerrt. Das Mehrheitsprinzip lehnt er wiederholt schroff ab, sein Wahlrecht übt er 1815 nur »mit Spott und Gleichgültigkeit« aus, als er schreibt: »Unterzeichneter tritt bey der Wahl eines Deputierten für den Frauenthorbezirk der Majorität bey, mit völliger Beruhigung.« Folgt man Wilhelm Mommsen, der auf dieses merkwürdige Wahlverhalten hingewiesen hat, dann ist für Goethe einfach selbstverständlich, daß der Mächtige Zensur ausübt, eine liberale Verfassungsbewegung bleibt seinem Denken immer fremd. Der Dichter, so Mommsen, sei lediglich im Sinne der Aufklärung liberal, wenn er für die Freiheit der geistigen Persönlichkeit eintrete, politisch aber einen aufgeklärt-despotischen Wohlfahrtsstaat befürworte und jeden »politischen Anspruch des einzelnen« ablehne. Das »Hineinreden der Privatleute in die Staatsgeschäfte« gilt Goethe ohnehin als »Pfuschertum«. Als der Dichter Ende August 1819 seine übliche Kur in Karlsbad beginnt, tagen dort die Minister aus den Staaten der Heiligen Allianz. Während eines Abendessens, zu dem Fürst Schwar-zenberg geladen hat, zeigt sich Goethe zutiefst indigniert über die ungebildete, anmaßende Jugend daheim und den »Narrenteufel«, der in Jena regiere. Mehrfach sieht er Metternich und findet einen »gnädigen Herrn« in ihm; später wird er Eckermann erklären, es sei »nie etwas Größeres und für die Menschheit Wohlthätigeres erfunden worden« als die Heilige Allianz. Einem Bewunderer seiner Farbenlehre, dem preußischen Staatsrat Christoph Schultz, der als Regierungsbevollmächtigter für die Berliner Universität einen geradezu leidenschaftlichen Verfolgungseifer gegen alles Liberale an den Tag legt, fühlt er sich freundschaftlich verbunden. Für die in Karlsbad beschlossene Mainzer Zentral-Untersuchungs-Kommission fertigt Schultz die Anklageschrift gegen den Jenaer Professor Luden wegen Verbreitung staatsgefährdender Lehren. Beide, Goethe und Schultz, eint die Gegnerschaft gegen jede Erweiterung der Volksrechte und freiheitliche Staatsformen.
Als jedoch sein Freund Carl August ihm eine Position anträgt, die jener von Schultz in Berlin entspricht, nämlich die eines Regierungsbevollmächtigten zur Überwachung der Universität Jena, lehnt er unter Hinweis auf sein hohes Alter ab. Auch wenn er die Karlsbader Beschlüsse bejaht, schreckt er doch vor dem Übereifer der Demagogen-Verfolger und monarchistischen Schnüffler zurück. Karlsbad ja -aber bitte mit Maßen. Daß die Zensur auch Privatbriefe von Verdächtigen öffnet, muß einen Goethe empören, dem die Privatsphäre heilig ist. Im Prinzip stimme er mit den Monarchisten überein, das Bestehende zu erhalten und Revolutionen vorzubeugen, schreibt er an Kanzler Müller, nicht jedoch mit den Mitteln dazu, denn sie »rufen die Dummheit und Finsternis zu Hilfe, ich den Verstand und das Licht«. Wenn ein Teil der Jenaer Studenten ihm am 28. August 1823, ausgerechnet an seinem erundsiebzigsten Geburtstag, als einem »Vertreter des Indifferentismus« auf dem Markt ein Pereat bringt, nimmt dies sowohl die liberale als auch die national-burschenschaftliche Kritik an Goethe vorweg, welche die kommenden Jahrzehnte beherrschen wird und ihn in den Schatten Schillers treten läßt. Börne schilt Goethe einen »Stabilitätsnarren« und rügt seine »breite, kunstschmausende Behaglichkeit«; nicht el anders Heine, der an der stets auf Ruhe und Ordnung bedachten »Kunstbehaglichkeit des großen Zeitablehnungsgenies« Anstoß nimmt. Beide distanzieren sich zugleich von dem bornierten Patriotismus des anderen Flügels der Opposition, verkörpert durch den evangelischen Pfarrer Johann Wilhelm Friedrich Pustkuchen und den Altburschenschaftler Wolfgang Menzel, der Goethe zwar als eine »Macht in Deutschland« bezeichnet, aber eine, die »dem äußeren Feind in die Hände gearbeitet« habe, denn ihre Wirkung sei erschlaffend gewesen. Wie ein weicher Narzissus habe Goethe die Deutschen »mit einem phantastischen Egoismus, mit den Genüssen des Scheins und der Selbstvcrgötterung« über den Verlust von Vaterland, Religion und Ehre getäuscht.
Zunächst aber feiert ihn Weimar wie keinen sonst. Der vor fünfzig Jahren, am 7. November 1775 in seiner Werther-Montur übermüdet in der Residenz an der Um eingetroffen war, wird zum fünfzigsten Jahrestag seiner Ankunft 1825 mit Festlichkeiten geehrt, die ihresgleichen suchen. Carl August läßt eigens eine Medaille mit Brustbildern des herzoglichen Paares auf der einen, dem Goethes auf der anderen Seite prägen. Die Loge gratuliert, der Stadtrat überreicht ein Bürgerrechtsdiplom für Goethes Enkel, die großfürstliche Familie mit dem kompletten Hofstaat dankt ihm für treue Dienste in der Anna-Ama-lia-Bibliothek, im großen Saal des Stadthauses richtet man ein Mittagessen für zweihundert Gedecke mitsamt Rezitation und Gesängen aus. Als er abends im Theater erscheint, wo man ihm zu Ehren die »Iphigenie« gibt, wird der Jubilar mit Bravorufen und Beifallsstürmen empfangen. Nach dem Theater gibt Goethe dann Cour im eigenen Haus und läßt dazu den Großherzoglichen Kapellmeister Hummel aufspielen.
Ein Jahr nach dieser pompösen Ehrung erinnert man sich in Weimar der Gebeine Schillers, die noch immer keine würdige Grabstätte gefunden haben. Des Dichters sterbliche Überreste waren, für die Stadt an der Um keineswegs ungewöhnlich, in der mondhellen Mainacht vom 11. zum 12. Mai 1805 im Kassengewölbe am Jakobsfriedhof beigesetzt worden, einer Gruft für Personen von Stand, die über kein eigenes Erbbegräbnis verfügten. In aller Stille, ohne Trauergesang und ohne jedes Wort des Angedenkens senkten Totengräber den schlichten Sarg durch eine Falltür in die unterirdische, dunkle Gruft hinab und gesellten ihn, so der Bericht des Augenzeugen Karl Schwabe, »den hier schon Begrabenen« bei. Die eigentliche Trauerfeier fand am nächsten Tag in der St. Jakobskirche statt. Keine Tafel, kein Hinweis am Kassengewölbe gemahnte daran, daß hier der Dichter der »Räuber«, des »Wallenstein« und des in den Freiheitskriegen so populär gewordenen » Reiterliedes « zur Ruhe gebettet wurde. Nach den aufregenden Jahren der Kriege, der schlimmen Franzosenzeit, der preußischen und russischen Besatzung denkt Charlotte von Schiller daran, ihren Mann in eine würdige Grabstätte auf dem neuen Gottesacker vor dem Frauentor umzubetten, doch zögerlich und unentschieden, wie sie ist, kommt dieser nie so recht voran. Sarg und Gebeine modern vor sich hin, neue Särge werden in die Gruft gesenkt. Um ihnen Platz zu schaffen, räumen die Totengräber die Sargreste mitsamt den nackten Knochen und Schädeln der verwesten Leichen in Gruben, die sie auf dem Boden der Gruft ausgeschachtet haben.
Kein Zweifel: In diesem Kassengewölbe, das in Weimar noch immer als standesgemäßer Ort der letzten Ruhe gilt, herrscht ein chaotisches Durcheinander, die ach so stolze Stadt deutscher Dichter und Denker, Ilm-Athen, geht mit dem Andenken Schillers unglaublich schludrig und despektierlich um. Erst als ein auswärtiges Blatt, der Berliner »Gesellschafter«, im November 1819 die empörenden Zustände anprangert und damit den Start zu einer nationalen Pressekamne gegen die Weimarer Obrigkeit gibt, wird das Oberkonsistorium aufgeschreckt. Nervös fahnden die Kirchenbeamten jetzt nach einer vollständigen Liste der im Kassengewölbe Beigesetzten, müssen zu ihrem Erschrecken jedoch erfahren, daß der zuständige Totengräber, ein wackerer, aufrechter Meister namens Bielke, zwar so redlich wie möglich und mit ungelenker Hand Buch geführt hat - aber nur bis zum Jahre 1792. Danach fehlt jede zuverlässige Angabe. Was nun folgt, kommt einer unglaublichen Odyssee von Schillers Schädel und Gebeinen gleich, bis man, was man dafür hält, schließlich in jenem Eichensarg der Weimarer Fürstengruft verstaut, vor dem sich an Schiller-Gedenktagen regelmäßig die Blumen und Kränze stapeln. Zweifel daran, ob es sich bei den hochverehrten Knochen wirklich um die kostbaren irdischen Reste des großen Dichters handelt, scheinen indes mehr als angebracht.
Am Anfang dieser Irrfahrt steht im Jahre 1826 jener Karl Leberecht Schwabe, der schon Zeuge der Beisetzung Schillers gewesen und inzwischen Bürgermeister der Stadt geworden ist. Wieder spielt die Szene um Mitternacht. Heimlich wie ein Grabräuber öffnet der Bürgermeister die schwere Falltür zum Kassengewölbe, scheut weder Gespenster noch den Modergeruch jener Halle der Verwesung, steigt beherzt auf einer Leiter hinab zu Sargresten und Gebeinen und beginnt, nach dem Schädel des von ihm verehrten Dichters zu suchen. Ein Totengräber und dessen Gehilfe, zu strengster Geheimhaltung verpflichtet, gehen ihm dabei zur Hand. Nur »eifrigster« akkonsum macht dem schillerbegeisterten Schwabe das Atmen erträglich. Nach drei Nächten endlich klettert er mit einem Sack, gefüllt mit dreiundzwanzig Schädeln wieder nach oben, den sein Diener Knabe in seine Wohnung trägt. Der Bürgermeister stellt seine Trophäen nebeneinander auf und holt den Rat führender Weimarer Mediziner ein. Gemeinschaftlich entscheiden sie nach dem Tonabguß einer Totenmaske, daß der größte gefundene Schädel der des Dichters sei. Mit der Familie Schillers wird sich Schwabe schnell einig: Diese heilige Reliquie soll künftig in einer Gedenkstätte ruhen, einem schlichten Grab mit einer einfachen Säule, für welches die Stadt auf dem neuen Friedhof kostenlos einen Platz zur Verfügung stellt. Doch seine Exzellenz, der Staatsminister Goethe, dem Schwabe voller Stolz seinen Fund mitgeteilt hat, will es anders, und Max Hecker, der im Auftrag der Goethegesellschaft 1935 ein gründlich recherchiertes Buch über »Schillers Tod und Bestattung« veröffentlicht, nennt das mutmaßliche Motiv: In alten Zeiten wurden das »Herz eines Kriegers, das Haupt eines Denkers in kostbare Kapseln eingeschlossen, während der Leib in nächtlicher Gruft versinkt. Bewundernd hatte Goethe in Rom vor einem Schädel gestanden, der als der Schädel Raffaels galt« Warum dann nicht den teuren Schädel Schillers in der Anna Amalia Bibliothek aufbewahren, die ohnehin reichlich mit Büsten und Bildnissen bedeutender Männer geschmückt ist? Wäre diese Anstalt, gewidmet den höchsten Zwecken der Kunst und der Wissenschaft, in der auch die Werke Schillers stehen, nicht die geeignete Umgebung für die Aufbewahrung der Reliquie? Der Großherzog hat keine Einwände, und so findet am 17. September 1826 jene Feier in der Anna Amalia Bibliothek statt, die uns heute ein wenig makaber dünkt: Zu den leisen Klängen der Hofkapelle wird der in blaues Papier eingewickelte, von Schwabe gefundene Schillerschädel formell dem Direktor der Bibliothek, dem Staatsminister Goethe, auf einem silbernen lett überreicht. Der freilich läßt sich durch seinen Sohn vertreten, weil er diesem »feierlichen, hochwichtigen Akt selbst nicht beiwohnen kann« - aus Gründen der Rührung, wie August von Goethe erklärt. Das Genie steht eben über allen Konventionen: Aus Sorge, gerührt und erregt zu werden, war Goethe schon der Trauerfeier Schillers in der Jakobskirche und selbst der Beerdigung seiner Christiane ferngeblieben. Ernst von Schiller spricht; er sagt offen heraus, daß die Familie dem Schwabes eigentlich den Vorzug gegeben hätte, sich freilich dem Wunsch des Großherzogs - und dessen Ministers - nicht verschließen wolle. Deshalb stiftet sie auch die berühmte Dannecker-büste, in welche der Schädel schließlich eingesenkt wird. Anderntags dann kommt ein nicht mehr gerührter Goethe, betrachtet die unersetzliche Gabe, hebt den Schädel aus der Büste heraus und verwahrt ihn bei sich zu Hause. Er trägt sich mit dem Gedanken an ein kolossales Grabmal für sich selbst und den Freund, das der Weimarer Oberbaudirektor Clemens Wenzeslaus Coudray errichten soll, der gerade letzte Hand an die Fürstengruft legt, an der er für die Königlichen Hoheiten der Weimarer Dynastie seit 1822 baut. Auf Initiative Goethes wird das Kassengewölbe erneut durchsucht, um nach dem Schädel nun auch die Gebeine Schillers zu bergen - eine schwierige Aufgabe, denn in dem Moder liegen die losen Knochen von einigen zwanzig Skeletten herum. Dennoch hat die Suche nach nur zwei Tagen Arbeit angeblich Erfolg. Gebeine und Schädel werden nun gemeinsam in der Anna-Amalia-Bibliothek aufbewahrt.
Vielen gilt Goethes, ja ganz Weimars Umgang mit dem toten Schiller als Skandal. Als König Ludwig von Bayern im August 1827 die Ilm-Residenz besucht, er das Grab Schillers zu sehen wünscht und man ihm statt dessen einen nackten Schädel präsentiert, zeigt er sich empört über die »Aufbewahrung so heiliger Reliquien an profanem Orte« und spricht, so Hecker, »sein tiefstes Mißfallen« aus. Durch solch herbe Kritik aus königlichem Mund fühlt sich der Großherzog schließlich zum Handeln gezwungen und ordnet die Beisetzung der Überreste Schillers in einem Sarg der Fürstengruft an, wo später auch Goethe liegen wird.
Wer freilich denkt, nun endlich sei der große Dichter der Nation würdig zur ewigen Ruhe gebettet, irrt gewaltig. Im Jahre 1912 klingen die Alarmglocken bei allen deutschen Germanisten, vor allem aber bei den Verwaltern des klassischen Erbes in jenem Museum der Musen, das man Weimar nennt: Der Tübinger Anatom August von Froriep behauptet, der Schillersarg in der Fürstengruft trage seine stolze Aufschrift zu Unrecht. Für Weimar und all die Germanisten, die Hekatomben von Schriften über Goethe und Schiller produzieren, wirkt diese Behauptung wie ein gewaltiger Sprengsatz. Aber Froriep hat Argumente parat. Wie fast ein Jahrhundert vor ihm jener Weimarer Bürgermeister Schwabe ist auch er in die Gruft hinabgestiegen, hat im Kassengewölbe gegraben und angeblich den wahren Schädel Schillers gefunden. Der Professor aus Tübingen stützt seine Behauptung auf den Schädelumfang, den er mit der Größe jenes weichen Lederhuts vergleicht, den Schiller als Regimentsmedicus trug und den König Wilhelm I. von Württemberg 1861 dem Schillerkomitee in Marbach schenkte. Der Schwabesche Schillcrschädel ist danach eindeutig zu groß. Beinahe wichtiger noch für Frorieps Befund aber ist der Zustand der Zähne - der von Schwabe Schiller zugeschriebene große Schädel hat ein sehr schlechtes Gebiß, der von Froriep als knöchernes Behältnis des Dichterhirns erklärte kleinere, zum Lederhut passende weist dagegen wenig abgekaute Zähne auf. Der Tübinger Anatom forscht nun nach der Ernährungsweise, untersucht Angaben von Zeitzeugen und treibt alte Wirtshausrechnungen auf. Danach aß der Dichter der »Jungfrau von Orleans« vor allem Käse, Schinken, Knackwurst und Kartoffelsalat, Brot brockte er gern in Sauermilch, Wein spielte eine große Rolle. Froriep: Nahrungsmittel, die Schiller bevorzugte, »waren nicht geeignet, die Abkauung der Zähne zu fördern«. In einem zweiten, kleineren Sarg - man kann ja nie wissen! -wird daraufhin auch sein Fund mitsamt den Gebeinen, die er im modrigen Boden zusammengelesen hat, in der Fürstengruft deponiert. Als sich 1959 am ersten Schillcrsarg Fäulniszeichen bemerkbar machen und er geöffnet werden muß, reist ein Professor Gerassimow aus der Sowjetunion an. Diese sowjetische Kapazität, berühmt für ihre Methode, plastische Gesichter nach Form und Umriß von Totenköpfen zu rekonstruieren, erklärt den von Schwabe gefundenen Schädel zum echten Schiller und den von Froriep vorgewiesenen als den einer jungen Frau. Feierlich wird nun in Weimar eine Plastik Schillers, gefertigt von Gerassimow nach dem von Schwabe gefundenen Schädel, als Symbol für »sowjetischen und deutschen Forscherflciß« aufgestellt. Doch damit hat der Streit noch immer kein Ende: Wissenschaftler aus Jena und Halle widersprechen 1962 in einem Bericht über die Sargöffnung der sowjetischen Kapazität energisch und weisen auf einige falsche, nachträglich eingesetzte Zähne hin - Schillers Gebiß aber, damit stimmen sie mit Froriep überein, sei bei seinem Tod völlig intakt gewesen. In der DDR des Jahres 1962, bei der gebotenen Ehrfurcht vor dem großen Bruder Sowjetunion, will dieser Einspruch einiges heißen! Auch die Tatsache, daß die Gerassimow-Plastik bald im Archiv verschwindet, spricht nicht für die Überzeugungskraft des Sowjetmenschen. Da bleibt als Fazit nur: Ob jene Gebeine, die sich im Eichensarg mit dem Namen Friedrich Schiller in der Fürstengruft befinden, die Relikte jenes Großen sind, den man dort mit Kränzen und feierlichen Ansprachen zu ehren pflegt, ist nicht eindeutig erwiesen. Vorsichtshalber findet sich deshalb ein kleiner Sarg mit den Funden Frorieps, wenn auch ohne Aufschrift, in der Gruft. In der Lageskizze der Stiftung Weimarer Klassik hat er die Chiffre III. I steht für Goethe, II für Schiller.
Der despektierliche Umgang Weimars und besonders Goethes mit Schillers Gebeinen wird ebenso unsinnige wie bösartige Legenden wachsen lassen. Die schlimmste stammt von Mathilde Ludendorff und besagt: Kein anderer als der Freimaurer Goethe habe im Auftrag seiner Loge für die Ermordung des Nationaldichters Schiller gesorgt. Um Goethe, den Freimaurer, als Heros für die Nation zu retten, schreitet selbst ein Joseph Goebbels ein und verbietet den Nachdruck der Greuelmärchen, den seine rechtsextremistischen Gesinnungsgenossen in die Welt gesetzt haben.
Doch bleibt der Unterschied beachtlich, wie Weimar seine großen Toten ehrt. »Goethe sinkt in die Gruft! Germanien bebt, und Europa trauert«, heißt es im Gedicht des Hofrats Böttiger, das die »Weimarische Zeitung« am 7. April 1832 auf der Aufmacherseite bringt. Die hohe Leiche wird, das Haupt mit Lorbeer umkränzt, auf einem Paradebett aufgebahrt, an dessen Seite sechs Marschälle stehen, die sich jede Stunde ablösen. In Trauerklcidung halten die zwei Diener des Verstorbenen Wache. Hinter dem Bett ist symbolisch eine Bibliothekswand mit Goethes Werken aufgebaut, an der eine goldene, mit Blumen umwundene Lyra prangt, über ihr schwebt ein goldener Stern. Ein riesiger Trauerzug begleitet den Sarg auf dem Weg zum Friedhof; der Stadtrat, die Mitglieder des Theaters, Bibliothekare, Jenaer Studenten, preußische Offiziere aus Erfurt, die Regierung, die Großfürstliche Familie und natürlich der Hof - ganz Weimar gibt dem Genius das letzte Geleit. Goethes Tod wird als tiefer Einschnitt, als Ende einer Epoche empfunden. Die große, die goldene, die klassische Zeit Weimars ist endgültig vorbei.
Wenn fortan die Werke Goethes und Schillers unter dem Begriff Klassik für die deutsche Nation beansprucht werden, geschieht dies gegen die ursprünglichen Intentionen und Erwartungen Goethes. »Wir sind überzeugt, daß kein deutscher Autor sich selbst für clas-sisch hält«, hat er in dem Beitrag »Literarischer Sansculottismus«In Schillers »Hören« geschrieben. »Wann und wo entsteht ein classi-scher Nationalautor?« fragt er da und gibt sich selbst die Antwort, daß wegen der geographischen Lage und der politischen Zerstückelung die Bedingungen in Deutschland dafür nicht gegeben seien. Eine Veränderung dieses Zustandes lehnt er ausdrücklich ab: »Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland classische Werke vorbereiten könnten.« Klassiker also, die keine sein wollten, ja nicht einmal die Voraussetzungen wünschten, unter denen sie es hätten werden können, und dennoch haben ihre Werke für die Deutschen eine solche identitätsstiftende, national-kulturelle Wirkung, daß sie allein dadurch zu nationalen Klassikern werden. Dabei hatten Goethe, besonders aber Schiller, erhebliche Schwierigkeiten, einen Nationalhelden zu finden, meint Conrad Wiedemann in seinem Aufsatz »Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus«. Wo gab es ihn schon, den durch und durch deutschen Heroen, der sowohl für das deutsche Identitätsverlangen wie für den allgemeinen Vernunftfortschritt einstand? Als Christian Gottfried Körner seinem Freund Friedrich Schiller vorschlägt, ein nationales Heldenepos über Friedrich II. zu versuchen, tut sich Schiller schwer. Drei Jahre ringt er mit sich, dann schreibt er Körner, er könne diesen Charakter einfach nicht liebgewinnen. Gibt es überhaupt eine Gestalt, die als deutscher Nationalheld geeignet wäre? Friedrich IL, der große Feldherr, Philosoph auf dem Königsthron und Freund Voltaires, ist der Gallomanie verfallen, Verächtlicheres über die deutsche.Literatur seiner Zeit als seinen Skandal-Traktat »De la litterature allemande« gibt es kaum. Zudem lassen ihn seine Kriege gegen Österreich und Kaiserin Maria Theresia schwerlich als Hüter der Reichseinheit erscheinen. Karl der Große? Herder verflucht ihn 1770 als Zwangsbekehrer und schreibt: »Fluch ihm! - Mörder.« Luther, der Reformator der Deutschen? Er hat zwar die Ketten der römischen Kirche zerbrochen, aber Deutschland die konfessionelle Spaltung gebracht, wäre Held bestenfalls einer halben Nation. Hermann oder Arminius, der die Schlacht gegen Varus gewann? Klopstock hatte sich an ihm versucht, auch Moser. Aber bedeutet Hermanns Sieg nicht das Ende jenes heilsamen Zilisie-rungsprozesses, den die Römer, historische Frühaufklärer, den barbarischen Germanen brachten? Die Klassiker, der Humanität und dem Geist der Aufklärung verpflichtet, schreckt dies, nicht jedoch den patriotischen Kleist, und schon gar nicht die vom Haß auf alles Welsche besessenen Männer wie Jahn oder Arndt. Ohne je einen deutschen Nationalhelden in seinen Werken zu präsentieren, wird Schiller zum deutschen Nationaldichter avancieren - als Dramatiker, der in seinen ausländischen Stoffen die deutschen Bedürfnisse der Zeit anspricht. Die junge deutsche Nationalbewegung erblickt im führungslosen Frankreich seiner »Jungfrau« ein Spiegelbild der deutschen Verhältnisse, in ihren Augen steht Schillers böhmischer Wallenstein für Reichseinheit und gegen Fürsten-Partikularismus, sein spanischer Marquis Posa für demokratische Forderungen, sein Schweizer Wilhelm Teil für ein deutsches Volk von einig Brüdern. Faßt man das Wunschbild von einem Helden der Nation allerdings weiter und fragt nach mentalen Archetypen, so Wiedemann, dann hat Goethe mit seinem »Götz von Berlichingen« eine »völlig neue und durchaus deutsche Kulturcharakterologic« geschaffen - den »anpassungsfähigen Traditionalisten« und damit »ein Urbild der deutschen Libertät«. Dieses Bild ist allerdings entscheidend vom Denken Mosers beeinflußt, der dem deutschen Partikularismus mitsamt seinem aufgeklärten Absolutismus nur die angenehmsten Seiten abzugewinnen weiß.
Goethes Distanz zu allem Patriotischen, Nationalistischen und seine Abneigung gegen Krieg und Militär haben entscheidend zur Goethe-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Nüchtern und mit erstaunlicher Klarsicht schien allein er rechtzeitig die Gefahren erahnt zu haben, die mit der geradezu wütenden deutschen Reaktion auf den napoleonischen Imperialismus und die chaunistische levee en tnasse des revolutionären Frankreichs den deutschen Horizont verdunkeln würden. Hieß es nicht in den »Zahmen Xenien«:
»Verflucht sei, wer nach falschem Rat
Mit überfrechem Mut
Das, was der Korse-Franke tat,
Nun als ein Deutscher tut!«
War es nicht verständlich, wenn man nach Jahrzehnten chaunistischen Wahns und nationalistischer Exzesse Zuflucht gerade bei ihm, dem des Patriotismus und Nationalismus wahrhaft unverdächtigen Weltbürger suchte? Doch zum nüchternen Erbe der Weimarer Klassik gehört nicht nur die Ablehnung nationaler, sondern auch die Negierung der demokratischen Vorstellungen und Erfordernisse der Zeit. Nationalbewegung und demokratische Bestrebungen liefen damals weitgehend parallel; wer das eine nicht wollte, schätzte meist auch das andere nicht. Dazu kommt die nahezu prinzipielle Absage an das politische Geschäft überhaupt. »Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet«, schreibt Schiller in seinem Text »Deutsche Größe«, die deutsche Würde bleibe unangefochten, denn sie sei eine »sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist«. Gehört es nicht zum Wesen der Weimarer Klassik, daß Goethe und Schiller sich ein autonomes Reich über der Wirklichkeit errichten, eine eigene Welt, in der sie die Idee wahren Menschentums feiern, eine Welt, die von der Wirklichkeit nur beschmutzt werden könne, wie Schiller am 4. November 1795 an Herder schreibt? Der Kosmopolit Goethe sagt einmal zu Friedrich von Müller: »Verpflanzt und zerstreut wie die Juden müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt.« Hoffmann von Fallersleben, mit I.iszt um die Mitte des letzten Jahrhunderts um eine kulturelle Renaissance Weimars bemüht, verehrt zwar Goethe, aber verurteilt dessen Haltung zur Politik als Weigerung, die Zeit zu erfassen:
»Ein politisch Lied, ein garstig Lied!
So dachten die Dichter mit Goethen
Und glaubten sie hätten genug getan,
Wenn sie könnten girren und flöten.«
Die Abneigung des Staatsministers Goethe gegen alle Politik »verstärkt sich mit den Jahren«, schreibt Gordon A. Craig, unter Politik habe der Dichter nur die Formierung von Parteien und deren Streit verstanden. In der Tat geht ihm, der von seinen Deutschen bald auf das Podest des Olympiers gehoben wird, jedes Verständnis dafür ab, daß die Freiheiten, die er als Genie dank der Gunst seines Fürsten in vollen Zügen genießen kann, für die elen anderen nur durch Institutionen zu sichern wären: durch Verfassung, verbriefte Bürger- und Menschenrechte, durch eine Demokratisierung, wie sie die junge Nationalbewegung und die Jungdeutschen verlangen. Poesie und Politik bleiben für ihn getrennte Welten. Als Ludwig Unland in das württembergische Parlament einzieht, fragt er nicht etwa, was ihn dazu bewogen hat, sondern er fürchtet um dessen literarische Fähigkeiten. »Der Politiker wird den Poeten aufzehren«, sagt er murrend zu Eckermann. Es gebe genug fähige Schwaben, die Politik treiben könnten, aber »es hat nur einen Dichter derart wie Uhland«. Diese »Politik der Unpolitischen«, wie Craig es nennt, wird in Deutschland Schule
machen.
Nach Goethes Tod beginnt die Instrumentalisierung von Mythen, die Nutzung der Begriffe Weimar und Klassik, der Dichter und ihrer Werke für jeweilig unterschiedliche politische Ziele und Ideologien, welche mit den ursprünglichen Intentionen der Autoren nur zu oft in Widerspruch stehen. Weimar, der klassische Ort, erinnert an die Witwen großer Schriftsteller, die das Andenken ihrer Männer hochhalten, vor allem aber ihren Nachlaß verwalten und auf stolze Tantiemen hoffen, die sich damit erwirtschaften lassen. Der Sitz so eler großer Geister droht zum Museum zu werden, ein Schicksal, dem er kaum entgehen kann, auch wenn er tapfer gegen seine schwindende Bedeutung als Metropole von Kunst und Literatur ankämpft. Wie spottet doch Heine?
»Zu Weimar, dem Musenwitwensitz,
Da hört' ich el Klagen erheben,
Man weinte und jammerte, Goethe sei tot
Und Eckermann sei noch am Leben.«