Gewidmet ist das Rcichstagsgebäude »Dem Deutschen Volke«. So steht es seit 1916 über dem Hauptportal. Bis dahin hatte sich der Kaiser erfolgreich gegen die Inschrift gewehrt, weil darin zu sehr der Gedanke der Volkssouränität anklang. Entworfen hatte man die Inschrift schon 1884, dem Jahr des Baubeginns. Zehn Jahre später, am 5. Dezember 1894, legte Wühlern II. den Schlußstein. Das riesige Gebäude im Stil der italienischen Hochrenaissance war nach einem Entwurf von Paul Wallot am Königsplatz (heute Platz der Republik) errichtet worden. Die Architektur war schon bei den Zeitgenossen heftig umstritten.
Die Abgeordneten zogen am 6. Dezember 1894 aus ihrem provisorischen Tagungsort in der ehemaligen Porzcllanma-nufaktur in der Leipziger Straße zum Königsplatz. Die meisten der 397 Plätze belegten die Konservatin, die Liberalen und das Zentrum. Die SPD brachte es wahlrechtsbedingt trotz hoher Stimmenanteile nur zu relativ wenigen Mandaten. Erst 1912 wurde die SPD stärkste Fraktion. Sic blieb es, bis im Juli 1932 die Nationalsozialisten die stärkste Fraktion stellten.
In dieser Zeitspanne von nicht ganz vierzig Jahren war das Reichstagsgebäude Mittelpunkt des politischen Lebens in Deutschland. Hier fielen nach oft stürmischen Debatten parlamentarische Entscheidungen von größter Bedeutung. Im Ersten Weltkrieg nahm der Reichstag den von Wilhelm IL rkündeten »Burgfrieden« an. Selbst die SPD ließ »in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich« und stimmte am 4. August 1914 geschlossen mit den anderen Fraktionen für die Aufnahme von Kriegskrediten. Der Antrag auf Kriegskredite am 2. Dezember 1914 fand einen einzigen Gegner: Karl Liebknecht (SPD). Ein Jahr später stimmten schon zwanzig Sozialdemokraten gegen die Kriegsfinanzierung, und 1917 kam es darüber zur Spaltung der Partei.
Am 9. Nomber 1918 rief der sozialdemokratische Abgeordnete Philipp Scheidemann vom zweiten großen Fenster links des Hauptportals die Republik aus, die dann in Weimar aus der Taufe gehoben wurde. (Die Verfassunggebende Na-' tionalrsammlung trat am 6. Februar 1919 in Weimar zusammen.) Im Reichstagsgebäude walteten unterdessen Arbeiter- und Soldatenrätc. Im August/September 1919 kehrten die Abgeordneten nach Berlin zurück. Bei der Beratung des Betriebsrätegesetzes, das hinter den Erwartungen der Arbeiter zurückblicb, kamen am 13. Januar 1920 bei einer Demonstration vor dem Rcichstagsgebäude 42 Menschen unter den Schüssen des Militärs ums Leben. Fortan wurde eine Bannmeile um das Gebäude gezogen. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident von Hindenburg Adolf Hitler, der selbst kein Reichstagsmandat hatte, zum Reichskanzler. Wenige Wochen später, in der Nacht zum 28. Februar 1933, brannte der Plenarsaal des Rcichstagsgebäudes. Über die Brandstifter sind sich die Historiker noch heute nicht einig. Ein Verdächtiger, Marinus van der Lubbe, wurde Ende 1933 zum Tode rurteilt; die mit-angeklaglen Kommunisten wurden vom Reichsgericht in Leipzig freigesprochen. Die Nationalsozialisten selbst gerieten in den Verdacht, das Feuer gelegt zu haben.
Ihnen jedenfalls nützte der Brand, denn bereitwillig unterzeichnete Hindenburg Hitlers »Notrordnung zum Schutze von Volk und Staat«, die zur Verhaftung von Kommunisten und Sozialdemokraten führte, einen freien Wahlkampf unterband und der NSDAP zu einer breiten Mehrheit im Reichstag rhalf. Der tagte seit dem Reichstagsbrand in der nahegelegenen Kroll-Oper.
Das Reichstagsgebäude rlor seine ursprüngliche Funktion. Der zerstörte Plenarsaal wurde nicht wiederhergestellt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs produzierte die Firma Telefunken in den bunkerartig rstärkten Ecktürmen Funkanlagen für die Wehrmacht. Auf den Dächern standen Flakgeschütze. Durch Fliegerbomben und bei den Kampfhandlungen um die Berliner Innenstadt wurde das Gebäude schwer beschädigt. Am 30. April 1945 hißten sowjetische Soldaten die Rote Fahne auf dem Reichstagsgebäude.
Im Jahre 1955 entschied der Deutsche Bundestag, das Gebäude als Tagungsstätte einer erhofften gesamtdeutschen Nationalrsammlung wiederherzustellen. Dies geschah in reinfachten architektonischen Formen bei moderner Innengestaltung. Auf die Kuppel rzichtete man; sie wurde 1957 gesprengt. 1972 waren die Bauarbeiten beendet. Seitdem diente der Reichstag als Tagungsort für Gremien des Deutschen Bundestages. Die erste Bundestagssitzung des gesamtdeutschen Parlaments fand einen Tag nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, am 4. Oktober 1990, im Rcichstagsgebäude statt. Seit der Entscheidung des Bundestages vom 20. Juni 1991, Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin zu rlegen, wird der Reichstag erneut umgebaut. Grundlage dafür ist ein Entwurf des britischen Architekten Sir Norman Foster.