REFERAT-MenüArchaologieBiographienDeutschEnglischFranzosischGeographie
 GeschichteInformatikKunst und KulturLiteraturMarketingMedizin
 MusikPhysikPolitikTechnik

Im Zwiespalt zwischen Geist und Macht

Im Zwiespalt zwischen Geist und Macht

Wie ist doch Weimar dem Deutschen eine geweihte Stätte! So sehr, daß der Name schon wie Glockenklang unser Ohr berührt! Heiliger Boden, Wirkungsstätte unserer Klassiker! So jubelt 1924 ein Weimarer Lokalpatriot. Ernstzunehmende Kritiker nennen den Ort ein geistiges Zentrum, eine Art Delphi der Deutschen. Schon in grauer Vorzeit, als die träge Um noch eine vermoorte, nicht urbar gemachte Senke durchfloß, müssen an dem Ort, wo sich heute Weimar befindet, heidnische Riten praktiziert worden sein. Das wi im altsächsischen Namen Wimar heißt soviel wie geweiht, das mar bedeutet Wasser. Heilige Wasser also in Weimar, an denen sich die Deutschen noch heute laben. Wer kennt die berühmten rse nicht:

O Weimar! dir fiel ein besonder Loos!
Wie Bethlehem in Juda, klein und groß.

Kein geringerer als Goethe beschreibt mit diesen Worten das Wunder von Weimar: daß nämlich ein winziges Duodezfürstentum einige Jahrzehnte zur kulturellen Kapitale der Nation aufsteigen, die größten Geister versammeln und zur Geburtsstätte der deutschen Klassik werden konnte. Zur Kultstätte wurde Weimar dann nach Goethes Tod, zum Gral der deutschen Bildungsbürger, die hier nationale Identität und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit fanden, lange ehe ein deutscher Nationalstaat entstand.



Und war das Deutschland der Weimarer Klassik im Rückblick nicht die beste Zeit der Deutschen? 1879 schreibt Ernest Renan in seinem Brief an einen deutschen Freund bewundernd von dem Deutschland vor fünfzig und sechzig Jahren, das er im Genie Goethes personifiziert sah, »dem großen, klugen, tiefgründigen Deutschland, das uns durch Fichte den Idealismus lehrte, durch Herder den Glauben an die Humanität, durch Schiller die Poesie der moralischen Empfindung, durch Kant die abstrakte Pflicht«. Aber im gleichen Atemzug beklagt er, diese große Zeit habe im Bismarckreich keine Fortsetzung gefunden - im Gegenteil.
Auf Weimars Goldene Zeit folgt eine matt leuchtende silberne - und auf sie dann die schreckliche, die finstere Zeit, in der Weimar nicht ohne seinen Zwilling zu denken ist: das Konzentrationslager auf dem Ettersberg. Weimar ist eben nicht nur Geburtsstättc der deutschen Klassik, sondern ein sehr ambivalenter deutscher Schicksalsort, der für deutsche Größe und deutsche Schande steht, für den deutschen Parnaß wie für den Rückfall in die Barbarei. So kann die politische Kulturgeschichte Weimars, die mit diesem Buch versucht wird, auch nicht mit der Begründung des Musenhofs durch Anna Amalia beginnen und erst recht nicht mit Goethe enden.
Seit der Volksbeauftragte Friedrich Ebert im Februar 1919 vor der Nationalversammlung in Weimar davon sprach, jetzt endlich müsse der Geist der großen Philosophen und Dichter wiederum unser Leben erfüllen, spukt der Geist von Weimar durch die Geschichte. Aber was ist darunter zu verstehen?
Der Begriff Weimar ist ohne die Wartburg nicht zu denken, wo Luther die Bibel übersetzte und die Burschenschafter die nationale Einheit forderten. Beides geschah unter dem Patronat der Ernestiner, der Schutzherren des Protestantismus. Sie erkoren Weimar zu ihrer Residenz, durch sie wurde die Stadt an der Um zur Geburtsstätte jener Ehe von Thron und Altar, die den Deutschen wahrlich keinen Segen brachte. Sicher ist Weimar die Stadt Goethes und Schillers, der silbernen Zeit Franz Liszts und des Aufbruchs zur Moderne, für die Namen wie Henry van de lde und Harry Graf Kessler, aber auch Walter Gropius mit den Anfängen des Staatlichen Bauhauses stehen. Aber gerade die hochgerühmte Klassik siedelt das Ideale in unerreichbaren Höhen an, trennt es von der Wirklichkeit und begründet damit die gefährlich unpolitische Tradition des deutschen Bildungsbürgertums.
Und die Moderne, die den Anlauf zum Dritten Weimar versucht? Sie wird von den Weimaranern, unter Berufung gerade auf die große Tradition der Klassik, aus Weimar vertrieben, lange ehe die Nationalsozialisten mit ihrer Ausstellung »Entartete Kunst« durch die Lande ziehen. Weimar ist Sitz des Nietzsche-Archivs, in dem Elisabeth Förster den »Willen zur Macht« ediert, die Philosophie ihres Bruders verfälscht und Zarathustra zum Propheten Mussolinis und des Dritten Reichs ernennt. Es ist Sitz der ersten rein nationalsozialistischen Landesregierung, die in Deutschland vor der Machtübertragung an Hitler durch Hindenburg regiert, und es gibt kaum eine andere Stadt in Deutschland, in der sich der »Führer« so gern und so oft aufhält.

Seit der Jahrhundertwende immer wieder als Hort deutscher Tiefe, deutscher Innerlichkeit und deutscher Kultur mißbraucht, ja als Kampfbegriff gegen westliches Denken ins Feld geführt, werden Weimar, die Klassik, Goethe und Schiller instrumentalisiert für Reaktion wie für Revolution, gegen die Moderne und für die rtreibung des Bauhauses; für den Nationalsozialismus und für den Kommunismus, der auf ihn folgt. »Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald«, sagte der Germanist Richard Alewyn nach der Rückkehr aus dem Exil. Gerade Buchenwald aber, das nach der Niederwerfung des SS-Staates vom sowjetischen NKWD fortgeführt wird, steht für die Erfahrung zweier Totalitarismen auf deutschem Boden.
Mit ihren Dichtertreffen und der Woche des deutschen Buches nutzt die erste deutsche Diktatur Weimar für ihre Kulturproanda, der zweiten deutschen Diktatur dient der Begriff Weimar gleich doppelt zur Legitimation von Macht: Sie behauptet, die angeblichen Visionen Goethes mit ihrer Politik in die Tat umzusetzen und zugleich das rmächtnis der Widerstandskämpfer vom Ettersberg zu erfüllen. Die pseudosakrale Weihestätte, die sie ihnen unweit des alten Lagers in stalinistischem Monumentalstil errichten läßt, die Massengräber, in denen man die Opfer des NKWD verscharrt und über denen Büsche und Bäume angepflanzt werden, um sie unsichtbar zu machen, stehen für unsere doppelte rgangenheit. Sie wirft lange Schatten auf ein Weimar im Zwiespalt zwischen Geist und Macht.







Haupt | Fügen Sie Referat | Kontakt | Impressum | Nutzungsbedingungen