Zum Zeitpunkt seiner Eingemeindung nach Essen (1915) war Borbeck mit 77 000 Einwohnern die größte Landgemeinde im Deutschen Kaiserreich. Ganz bewusst hatte das preußische Innenministerium dem riesigen Industriedorf die seit langem gewünschten Stadtrechte renthalten: Für eine verantwortbare kommunale Selbstverwaltung galt die dortige Arbeiterbevölkerung als zu ungebildet und unzuverlässig. Da war doch das Gängelband des kaisertreuen Landrats sicherer, dem eine dörfliche Polizeibehörde direkt unterstand! Und im Borbecker Gemeinderat sorgte ein Klüngel aus alteingesessenen Landwirten und zugezogenen Industriebaronen dafür, dass die knappen Etatmittel nicht etwa für eine umsichtige Stadtung, ein leistungsfähiges Schulwesen oder einen öffentlichen Erholungspark verschwendet würden
Aufgrund eines Zufalls wissen wir weitaus mehr über Borbeck als über die Geschicke vergleichbarer Industriegemeinden im Ruhrrevier: Um 1900 scheiterte der Borbcckcr Kommunalbaumeister Wilhelm Voßkühler auf tragische Weise bei dem Versuch, dem wild wuchernden Wirrwarr aus Fabriken, Kolonien und Verkehrstrassen ordnende Strukturen überzustülpen. In den Behördenakten, die dieses Scheitern dokumentieren, fand der Historiker Lutz Niehammer den Stoff für eine fesselnde Studie über die >Unfähigkeit zur Stadt-entwicklung< in Preußens größtem Industriedorf, in dem die Wohnstraßen der >besseren Viertel< bereits nach wenigen hundert Metern an der Umfriedung eines Zechcngcländcs und eines Straßenbahndepots endeten und die Fäkalien aus dem Abort der Bürgermeistervilla noch bis 1903 in einem offenen Bahngraben entsorgt wurden. Aus diesen Akten gewinnt auch die kleine Honoratiorenschicht Borbecks ein bizarres Profil: Der Bürgermeister torpediert die Anlage eines urbanen Villenviertels, da die Hauptachse (>KaiseralleeWilden Westcn< an der Emscher war. Die Zechen (Wolfsbank, Ncuwesel, Neucöln, Carolus Magnus, König Wilhelm), die Eisenhütte, die Zinkhütte und die Maschinenfabrik sind längst stillgelegt und abgerissen. Auch zahlreiche Koloniehäuser wurden inzwischen durch moderne Wohnbebauung ersetzt. Auf die lokale Bergbau-Ara verweist u. a. noch eine Lourdes-Grotte an der Dionysiuskirchc im Ortszentrum: Eine Schrifttafel n 1911 nennt den >Borbeckcr Knappenvcrein< als Stifter der Anlage, die eine Marienerscheiung n 1858 aus dem Pyrenäendorf Lourdcs nachbildet. In der Nachbarschaft zeugen gründerzeitliche Prunkfassaden sowie ein Germania-Denkmal n dem längst verjährten Ehrgeiz des Industriedorfs, sein öffentliches Ansehen aufzubessern. Das n Voßkühler entworfene Gymnasium an der Prinzenstraße, ebenfalls ein kommunales Prestigeprojekt, wurde inzwischen modernisiert. Hingegen bewahrte die Privatvilla, die sich der glücklose Kommunalbaumeister 1894 an der Legrandallee errichten ließ, bis heute ihr originales Erscheinungsbild. Der aufwendig gestaltete Ziegelbau im >italienischen< Renaissancestil ist mit schmuckllen Erkern und geschweiften Ziergiebeln dekoriert. Die Stuckverzierung zitiert Muscheln und Ranken, Löwen- und Puttenköpfe. Gereimte Lebensweisheiten deuten allerdings auf ein gefährdetes Selbstverständnis des Bauherrn und mahnen zur Nachdenklichkeit: GENIF.SSE FROH, WAS DIR BESCHIEDEN / ENTBEHRE GERN, WAS DU NICHT HAST / EIN JEDER STAND HAT SEINEN FRIEDEN / EIN JEDER STAND HAT SEINE LAST.
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