In den sozialen Wohlfahrtsstaaten Europas hat sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine stille, zunächst kaum wahrgenommene demographische Rezession vollzogen. Dabei sind globale Phänomene, wie die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung aufgrund des medizinischen Fortschritts, mit einer neuen europäischen generativen Verhaltensweise zusammengetroffen und haben diese verstärkt. Die in den 60er Jahren des 20.Jahrhunderts als Ideal des Zusammenlebens angesehene Kernfamilie geriet in die Krise; neue Formen des Lebensstils entstanden. Die Tendenz zur Selbstverwirklichung des Individuums bei gleichzeitig steigendem Wohlstand und Konsum sowie die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen im gesamten Dienstleistungssektor verhalfen ausgehend vom deutschen Sprachraum der Erlebnisgesellschaft zum Durchbruch, in der Kinder nur mehr eine Einschränkung des Freiraums und vielfach sogar eine Belästigung bedeuten, auf deren Existenz daher verzichtet wird. Es kam zur Weigerung der Bürger der Wohlstandsgesellschaft, Kinder in die Welt zu setzen, das Entstehen eines kinderfeindlichen Milieus war das Ergebnis, zum Teil verstärkt durch die Ressentiments gegen die vom sozialen Wohlfahrtsstaat protegierte neue Haushaltsform der allein erziehenden Mütter.
Irreparable Schäden sind am Altersaufbau der Bevölkerung entstanden. Die Basis der Kinder und Jugendlichen ist zuerst in Deutschland, dann in anderen Staaten weggebrochen. Für den Arbeitsmarkt wurden zunächst Gastarbeiter hereingeholt, nunmehr ist eine "Ersatz-ldeologie auf dem Arbeitsmarkt angesagt. n Statistikerhand geschrieben, stehen die Worte an der Wand: Europa altert und schrumpft. Die Wachstumsideologie der Wirtschaft kann eine solche Aussage nicht tolerieren. Was ist zu tun? Ist massenhafte Zuwanderung die Lösung? Wird Europa ein multikultureller Einwanderungskontinent?
Steigende Lebenserwartung und Alterung der Bevölkerung
Die steigende Lebenserwartung in allen Staaten der entwickelten Welt und selbst in den Entwicklungsländern ist der wichtigste demographische Vorgang in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Die Lebenserwartung betrug 2002 in den EU-15-Staaten bei Männern 75,8 und bei Frauen 81,9 Jahre. Durch die EU-Erweiterung hat sich der Wert um ein ganzes bzw. halbes Jahr verschlechtert, nämlich auf 7»»,8 bzw. 81,3. Er liegt aber immer noch über den zum selben Zeitpunkt gemessenen Werten der USA (73,8 bzw. 79,4 Jahre).
Durch den Anstieg der Lebenserwartung um mehr als zwei Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und um ein Jahrzehnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte eine "Streckung des Altersaufbaus (Abb. 5.5). Es erhöhte sich nicht nur das Durchschnittsalter der Bevölkerung sehr beachtlich, sondern es verschoben sich damit die Beziehungen in der Generationsfolge der Gesellschaft. Die Menschen leben nicht nur länger, sondern sie bleiben auch länger "jung. Die traditionellen Sprüche über die Qualität von Lebensjahrzehnten wie "mit 50 fängt das Alter an, mit 60 schneeweiß, mit 70 ein Greis stimmen nicht mehr. Ebenso wenig passen die klassischen Vorstellungen für den Übergang von der Ausbildung in das Arbeitsleben und für das Ausscheiden aus diesem und den Eintritt in eine Pensionistenexistenz. Es ist sehr bezeichnend, dass der Begriff des dritten Lebensalters, das -wenn man die Normen für EU-Beamte heranzieht - mit 60 beginnt und in dem noch alle Aktivitäten in einer "neuen Freiheit möglich sind, durch den Begriff des vierten Lebensalters ergänzt worden ist, welches derzeit mit 75 angesetzt wird und die Bevölkerungsgruppe umfasst, in der das Eingebundenbleiben in die gesellschaftlichen Aktivitäten sich als zunehmend schwierig erweist und die Pflegebedürftigkeit zunimmt
Auch dieser Vorgang der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung ist erst relativ spät von den politischen Entscheidungsträgern der sozialen Wohlfahrtsstaaten zur Kenntnis genommen worden, welche bereits in den 1980er Jahren Probleme der Arbeitslosigkeit durch Frühverrentung gelöst haben und letztlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer lösen. Aufgrund der immer größer werdenden Zahl von aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen alten Leuten hat das für den einzelnen erfreuliche Phänomen der steigenden Lebenserwartung durch die Verschiebung der Proportionen im Altersaufbau auch die gegenwärtige negative Konnotation für die Gesellschaft erhalten.
Mit der zunehmenden Präsenz der Bevölkerung im dritten Lebensalter ist nicht nur die Anwesenheit der Senioren in den öffentlichen Räumen, sondern auch ihre Integration in die Konsum- und Freizeitgesellschaft von Marktrelevanz geworden, wobei allerdings über Europa hinweg Unterschiede bestehen. Bei einer gleichzeitig immer stärker auseinander gezogenen Jahrgangskette des immer höher werdenden Altersaufbaus reißen die Beziehungen zwischen den Generationen, die demographische Segregation von Kohorten beginnt alle Bereiche des Lebens zu bestimmen.
Die Alterung der Gesellschaft gehört zur programmierten Zukunft der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Der Anteil der 60-jährigen und älteren Bevölkerung betrug 2001 in den meisten EU-Staaten bereits über 20% (vgl. Tabelle 5.6 im Anhang). Den höchsten Anteil hatten die Staaten Mittel- und Südeuropas mit 23,1 bzw. 23%, den niedrigsten Irland mit 15%. In den Bevölkerungsprognosen der EU kann man nachlesen, dass die Altersgruppe der über 60-Jährigen im Jahr 1960 49,1 Mio. (15,5%), im Jahr 2000 81,9 Mio. (21,8%) betragen hat und im Jahr 2025 nach gleich bleibenden Rahmenbedingungen 113,4 Mio. (29,2%) betragen wird, während andererseits die Zahl der Kinder bis 14 Jahre von 62,6 Mio. (16,8%) im Jahr 2000 auf 57,4Mio. (14,8%) im Jahr 2025 sinken wird. Damit ist das eigentliche Rezessionsphänomen angesprochen.
Der Rückgang der Geburten
Nahezu synchron zur steigenden Lebenserwartung hat in allen westlichen Industrienationen die Fertilität drastisch abgenommen. Im Jahrzehnt von 1990 bis 2000 ist das Reproduktionsniveau kontinuierlich gesunken. Es betrug zur Jahrtausendwende in Europa nur mehr 0,65 und lag auf der gesamten Erde zu diesem Zeitpunkt bei 1,14, in Japan bei 0,64.
Die demographischen Regime der Mitgliedstaaten der EU sind in eine in diesem Ausmaß ungewöhnliche Phase der Schrumpfung und des demographischen Alterns eingetreten. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass dieser Vorgang nicht in einer Zeit von Wirtschafts- und Existenzkrisen der Bevölkerung, sondern in einer nie zuvor erreichten Wohlstandsphase erfolgt und hauptsächlich auf die systematische Entkoppelung des Sexualtriebes von der Fortpflanzung zurückzuführen ist. Der berühmte Pillenknick ist im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eingetreten.
Hatten Schweizerinnen 1964 im Durchschnitt noch 2,55 Kinder, so waren es im Jahr 2001 nur mehr 1,27 (Abb. 5.6)!
In allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme von Irland liegen gegenwärtig die Geburtenziffern deutlich unter dem Reproduktionsniveau von 2,1, welches erforderlich ist, um den Bestand eines Bevölkerungskörpers zu garantieren. Hierbei werden die sehr niedrigen Geburtenziffern von 9,3 Promille in Deutschland im Jahr 2000 (Tabelle 3) bereits von südeuropäischen Staaten wie Italien und Spanien erreicht und im Osten von Lettland unterboten (8,5 Promille).
Günstiger liegen die Verhältnisse in Nord- und Westeuropa. Frankreich und Irland nehmen hier Spitzenplätze ein. 2000 wurden in beiden Ländern 1,9 Kinder pro Frau errechnet. Frankreich ist der Staat in Europa, der bereits in der Zwischenkriegszeit mit einer massiven Bevölkerungspolitik, d. h. einer Familienförderung, begonnen hat, die inzwischen bei geänderten Haushaltsstrukturen auf allein erziehende Mütter verlagert worden ist. 1976 wurde in Frankreich das Kindergeld für Alleinerzieherinnen eingeführt (API), 1988 das Eingliederungseinkommen (RMI), um der sozialen Ausgrenzung ein Ende zu setzen. API und RMI stellen ein soziales Mindesteinkommen dar, das zwischen Armutsgrenze und einem Mindestlohn liegt (Messu 1992). In keinem anderen EU-Staat werden so beträchtliche Kinderfreibeträge und eine so ansehnliche Summe Kindergeld zur Verfügung gestellt. Bewährt hat sich auch das Kinderbetreuungsangebot vom Kleinkindalter (creche, ecole maternelle) bis zum Schulsystem, welches als Ganztagsangebot konzipiert ist. Wesentlicher erscheint jedoch, dass in Frankreich eine kinderfreundliche Öffentlichkeit besteht, welche die Lebenspraxis bestimmt und die in Deutschland verloren gegangen ist. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass sich diese Kinderfreundlichkeit mit einem postindustriellen Lebensstil verträgt, wie der hohe Prozentwert von k2% unehelichen Geburten (in Deutschland nur 22%) und das relativ hohe Durchschnittsalter der französischen Frauen bei der Geburt des ersten Kindes mit 29,3 Jahren (in Deutschland 28,6 Jahre) belegen.
Die Reduzierung der Haushaltsgröße
Die Veränderung der Haushaltsformen und die Reduzierung der Haushaltsgröße haben bisher nicht genügend Aufmerksamkeit gefunden.
Vielfach wird von der Entstehung eines neuen postindustriellen Lebensstils gesprochen. Worum handelt es sich? In den 1960er Jahren hat die Kernfamilie, die als neue dauerhafte Form des Zusammenlebens angesehen wurde, traditionelle mehrgliedrige Haushalts- und Familienstrukturen abgelöst, welche sich allerdings in peripheren Räumen Europas, ebenso in einzelnen ländlichen Räumen und vor allem in Südosteuropa bis in die Gegenwart erhalten konnten. Nun wurde die Kernfamilie in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die Rechtsschwäche von normensetzenden Institutionen wie Kirche und Staat sowie Änderungen des Eherechts und der Steuerverfassung von der Haushalts- zur Individu-albesteuerung hin als Leitform von Haushaltsstrukturen in Frage gestellt.
Neue Formen des Zusammenlebens sind entstanden: Lebensgemeinschaften, Alleinerzieherhaushalte und kohortenspezifische Wohngemeinschaften entsprechend einem "postindustriellen Lebensstil. Gleichzeitig hat die Größe der Haushalte abgenommen, welche ebenso wie die Heiratsund Scheidungsrate als Indikator für die demographische Transition der europäischen Bevölkerung dienen kann.
Die Daten von Eurostat belegen die Zunahme der Zahl der Haushalte von 92 Mio. im Jahr 1961 mit durchschnittlich 3,3 Personen auf 148Mio. mit 2,4 Personen 1995 in der EU-15. Aus diesen Änderungen von Haushaltsgrößen und -formen und deren neuer Instabilität ergeben sich grundsätzliche Änderungen für den Wohnungsmarkt und die Wohnungspolitik. Vor allem in den großen Metropolen hat sich die traditionelle Wohnungspolitik bereits als überholt erwiesen. Nicht mehr familienfreundliche Wohnungen, sondern gut ausgestattete Garconnieren sind gefragt.
Europäische Regionen der Lebensstile
Rückblickend gesehen, hat das demographische Regime der Kernfamilie nur eine relativ kurze Periode bestimmt. Bereits die Angehörigen der Babyboom-Generation nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich von diesem Leitbild distanziert. Indikatoren für die Differenzierung der demographischen Lebensstile sind die Eheschließungs-, Scheidungs- und Geburtenziffern, der Anteil der unehelichen Geburten und die weibliche Erwerbsquote. Tabelle 5.1 belegt eindrucksvoll die Unterschiede des demographischen Lebensstils in den Großregionen Europas, die auch weiterhin die Sozialpolitik beeinflussen werden. Europäische Lösungen sind dabei noch weniger in Sicht als beim Komplex der Pensionsversicherung.
Eine Sonderstellung besitzt das schwedische demographische Modell. Es weist eine sehr niedrige Heiratsquote, verbunden mit einer hohen Scheidungsquote, auf. Zwei Drittel der jungen Ehen werden wieder geschieden. Extrem hoch ist die Rate der unehelichen Geburten mit 55,3%. Schweden hat als erster europäischer Staat das Problem der allein erziehenden Mütter in einer postindustriellen Gesellschaft mit umfangreichen Sozialmaßnahmen zu lösen versucht. Auch von Frankreich wurden schon früh zwei Maßnahmenpakete verabschiedet.
Von den westeuropäischen Staaten weist Großbritannien, welches hinsichtlich der Scheidungsquoten gemeinsam mit Belgien an erster Stelle steht, eine ähnliche Struktur des demographischen Lebensstils wie Schweden auf. Insgesamt fallen alle westeuropäischen Staaten ähnlich den nordeuropäischen Ländern durch ihre wesentlich höheren Geburtenziffern auf.
Der deutsche Sprachraum und die Beneluxstaa-ten gruppieren sich zu einer Großregion des demographischen Regimes mit einer mäßigen Heiratsund Scheidungsquote ebenso wie einer mäßigen weiblichen Erwerbsquote bei insgesamt niedrigen Geburtenziffern. In Hinblick auf den Anteil der unehelichen Geburten fällt Österreich mit der zum Teil tradiert hohen Quote in den alpinen Bundesländern aus der Reihe. Gerade diese Übergangssituation des demographischen Regimes erschwert es jedoch dem Gesetzgeber, in einer Rückbauphase der Sozialpolitik entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Anders ist die demographische Situation in den südeuropäischen Staaten. Hier wurde die innereheliche Gebürtigkeit im vergangenen Jahrzehnt überall drastisch reduziert; mit 9,4 Promille hält Italien derzeit den Tiefstrekord in der EU-15.
Gleichzeitig ist jedoch die weibliche Erwerbsquote nicht nach oben geschnellt, und ebenso ist die Zahl der Scheidungen bisher erstaunlich niedrig geblieben. Es fehlen somit die quantitativen Voraussetzungen für eine Sozialpolitik für allein erziehende Frauen.
Blenden wir in die EU-Erweiterungsstaaten hinüber, so ergeben sich klare räumliche Gruppierungen. Die baltischen Staaten weisen durchweg hohe Scheidungs- und niedrige Eheschließungsquoten auf, welche jene der nordeuropäischen Staaten noch über- bzw. unterbieten. Die Geburtenziffer ist in Lettland mit 8,5 Promille die niedrigste in der EU. Hoch ist die Zahl der unehelichen Geburten. Der postindustrielle Lebensstil hat voll Einzug gehalten. Anders sieht es bisher in Polen, der Slowakei und Slowenien aus. Die Scheidungsraten und die Zahl der unehelichen Geburten sind mit Ausnahme von Slowenien niedrig; Tschechen und Ungarn haben hingegen den postindustriellen Lebensstil bereits voll akzeptiert. Mit ihren extrem niedrigen Geburtenziffern unterbieten die EU-Erweiterungsstaaten bereits Südeuropa.