Vorm ganz besonderen Thüringen liegt ein Berg sehr allgemeines Deutschland. Klischeevorstellungen von den Deutschen nähren sich aus althergebrachter Wirklichkeit. Alle essen Sauerkraut. Alle benehmen sich krachledern. Alle sind pünktlich. Alle singen, wenn sie übergroße Bierkrüge vor sich stehen haben. Alle haben ein schlechtes historisches Gewissen Neuerdings aber wissen Fremdlinge manchmal, daß die Norddeutschen die Süddeutschen schlecht rstehen, weil "deutsch nur ein Schriftsprachbegriff ist. Ostdeutsche und Westdeutsche mißtrauen einander sowieso, aus jüngst rgangenen Zeiten heraus, und das übriggebliebene Dresdner Barock ist Prager Häuserzierrat viel rwandter als hanseatischer Backsteingröße. Das liegt nämlich, sagt dann der fremdländische Kenner im Vollgefühl seiner Bildung, am Föderalismus!
Die Staaten im Staatswesen
"Jawoll! spricht der kennerhafte Fremdling, Deutschland ist ein Mosaik aus Ländern und Regionen. Weil es früher aus lauter Herzogtümern und Grafschaften und Königreichen bestand, noch zu Zeiten, als andere europäische Länder längst gut zentralistische Sitten pflegten. Doch mitten in diesem föderalen Deutschland steckt ein besonders filigraner Teil des Mosaiks: Thüringen. Das heutige Bundesland bestand noch in diesem Jahrhundert aus einer guten Handvoll Herzog- und Großherzogtümern, aus älteren und jüngeren Linien dirser Grafschaften, aus Fürstentümern, die nach ihren jeweiligen Hauptstädtchen benannt worden waren, aus preußischen und sächsischen Gebieten. In Thüringen wurde nach hessischem oder Berliner Recht geurteilt; die norddeutsche Taler- und die süddeutsche Guldenwährung stießen just in Thüringen aneinander, mitten in einer seiner operettenhaften Grafschaften.
Thüringen, seines Waldreichtums und seiner zentralen Lage wegen auch "Grünes Herz Deutschlands genannt, war in Wirklichkeit das kunterbunte Flickendeckchen im großen Fleckenteppich Deutschland. Um ins Exil zu gehen, genügte ein Spaziergang ins Nachbardorf. Ein thüringischer Fürst war stolz, einen ganzen Flußlauf zu besitzen. In Thüringen saßen in hoch ummauerten Ackerbürgerstädtchen Welt-und Kulturgeschichte dicht beisammen. Belgische und englische Königshäuser entstammen dem Thüringer Fürsten Wirrwarr. Sanssouci zu Potsdam wollte einst ein Klein-Versailles sein. Daraufhin wollte sich der Weimarer Hof mitten in Thüringen sein Klein-Sanssouci schaffen und bestellte Dichter als Minister, Professoren oder Superintendenten. Die Fürstensitze Meiningen, Rudolstadt, Sondershausen, Eisenberg, Gotha, Gera, Greiz, Schleiz, Lobenstein wollten wiederum alle mindestens ein Klein-Weimar sein und bauten ihre Musentempel. So hat Thüringen heute eine gewaltige Residenzschloßdichte und die meisten Berufstheater Deutschlands. Alle größeren und viele kleinere Städte besitzen eigene Orchester, Erben stolzer, höfischer kultureller Traditionen. Eine Handvoll Landesbibliotheken und Landesmuseen sind zu unterhalten, daneben Orangerien und Sommerresidenzen, fürstliche Schloßgärtchen und gräfliche Wasserkünste. Verzweifelt rief der nach der deutschen Einheit erste Ministerpräsident Thüringens -übrigens kein Einheimischer - aus: "So viele Theater und Orchester haben ja nicht mal die großen, reichen süddeutschen Länder Bayern und Baden-Württemberg zu rkraften! - Wir sehen: Kunst und Kultur wird nicht in Unterhal-tungs- und Bildungswerten gerechnet, sondern danach, ob es sich rechnet. Das Bundesland Thüringen, zwischen die einstigen Königreiche Sachsen und Bayern geklemmt, die sich aus einer gewissen Tradition heraus "Freistaat' nennen, rief sich in neuer deutscher Einheitszeit ebenfalls beflissen zum "Freistaat aus, um sich vom Dutzend der "Länder zu unterscheiden. Eigentlich gehören wir in eine ganz andere Gewichtsklasse, will das wohl heißen.
Als Thüringen noch am südwestlichen Rande der DDR lag, ging unter seinen Bewohnern, die damals in drei Bezirken rwahrt und rwaltet wurden, eine ähnliche Möchtegern-Fama um: "Wir sind 1945 von Amerikanern besetzt worden, müßten deshalb zu Westdeutschland gehören. Nur weil der Amerikaner Westberlin wollte, wurde Thüringen an den Osten rkauft Daß die Besatzungszonen noch vor Kriegsende von den späteren Siegermächten längst festgelegt worden waren, daß auch halb Sachsen und Anhalt zunächst unter amerikanischer Verwaltung standen, kümmert den thüringischen Möchtegernwestler nicht. Seine Geschichtchen sollen die wahre Geschichte rkünden.
Die Leutchen in den Städtchen
Thüringen hat keine Großstädte. Die Landeshauptstadt Erfurt tut ein bißchen weltstädtisch mit saftigen Restaurantpreisen und gewaltigen Mietzinsen, und Gera und Jena rweisen stolz darauf, daß sie mehr als hunderttausend Einwohner hätten. Doch wer durch Thüringer Städte bummelt, merkt sofort, daß der Fürst allzeit nah war und die Großindustrie weit. Dabei kamen von hier weltberühmte Waren, vom Jenaer Glas über Zeiss-Brillen und Sonneberger Spielzeug bis zu Greizer Stoffen. Das DDR-Edel-auto "Wartburg aus Eisenach hoppelt bis heute über Straßen, wenn auch nicht mit jenem Kultstatus, den sein kleiner sächsischer Bruder .Trabant genießt. Schaut man aber genauer in die Industriegeschichte, so merkt man schnell: Es waren Familienbetriebe, Handwerksbuden, die da zu Weltruhm aufgestiegen waren. Und das Familiäre hielt sich hartnäckig in den Betrieben. Im DDR-Großkonzern Carl Zeiss Jena war man stolz auf allgegenwärtige Verwandtschaftskreise und Bekanntenkringel. Wie bei allen Familien-Banden hatte auch hier dies Wort einen Beigeschmack von Wahrheit. Zwischen Geborgenheit und Mief war der Unterschied nicht immer so groß, wie er hätte sein sollen. Auch heute ist das, was Thüringer Weltruf ausmacht oder ausmachen könnte, das Kleingewerbe fleißiger Tüftler und Bastler. "Auf dem Wald, wie man hier jene bergige, im Winter oft schneereiche Gegend zwischen dem Vogtländischen Oberland im Südosten und der Rhön im Westen nennt, sind Glasbläser zu Hause und Kleinbetriebe der Elektronik. Hier wurde das Porzellan zum zweiten Mal erfunden, als das sächsische noch Geheimrezept war. Von hier wurden Glasaugen in die weite Welt rschickt. Die Büchsenmacher von Suhl legten ihre ganze Kunstschmiedefertigkeit in Gerätschaften zum Erlegen von Wildtieren und Feindesmenschen. In die große Ackerebene zwischen den Thüringer Gebirgen, das Thüringer Becken, wurden, als Ackerbau nicht mehr aktuell schien, allerlei Betriebe hingesetzt, die Brot, Wohlstand und Schönheit bringen sollten; Schreibmaschinen wurden gebaut und Computer. Im Moment rappeln sich die nach 1990 plattgemachten Betriebe dieser einstigen Ackerebene auf, um irgendwann auch wieder ein Wörtlein auf den Märkten der Welt mitreden zu dürfen. Ob Einheimische dabei mitmischen können, wird sich zeigen. Der Heimatstolz ist ange-
I knackst, nicht so sehr durch vierzig Jahre DDR, als durch die hernach mit gutgemeinten Ratschlägen und besten Finanzen ausgerüsteten eingewanderten Westdeutschen. Sie beherr-
> sehen die Rundfunkkanäle und die inoffiziellen Geldkanäle. Sie wissen vieles wirklich besser, aber Thüringer sind gelegentlich dickköp. Sie reden dann über ihre "Identität, meinen damit wohl auch ein nebulöses Thüringertum, vor allem aber ihre Herkunft. Alle Höhen und Tiefen haben sie an ihrem Heimatort durchgestanden. Und wehe, jemand ändert Altbewährtes. Großen Lärm machte eine Verwaltungsreform, als Gebiete des einstigen Fürstentums Schwarzburg mit herzoglich-meiningischen Territorien zusammengelegt werden sollten. Man ist ein Leben lang darauf stolz, daß man vom Rennsteig stammt, dem berühmtesten, quer durch Thüringen führenden Wanderpfad Deutschlands. Man betont, daß man am Fuße des deutschen Minnesängersymbols, der Wartburg, aufwuchs, den gleichen Schulweg wie Johann Sebastian Bach hatte, Martin Luthers Urururur-großneffe ist und sein ganzes bewußtes Leben im burgenreichen Saaletal zubrachte. Als Folge thüringischer Zwergstaaterei fühlen die Leute hier sich ihrem Sprengel, ihrer Gegend, ihrer Stadt eher zugehörig als einem abstrakten Bundesland. Doch wenn ein Weimarer in breitfreundlicher Mundart sagt: "Ich bin ein Glas-siggstädder! und vor Stolz, daß er und Goethe quasi Spielkameraden sind, fast platzt, so muß man dies nicht immer bierernst nehmen: Ein kleiner Hang zur Selbstironie mag dem Thüringer eigen sein, genährt durch die Operettenstaaten der großen Vergangenheit und das komische deutsche Dreibuchsenland der jüngsten Geschichte.
Die Gefühle im Subjekt
Gelegentlich frage ich mich: Wieso hältst Du es nun schon so lange in Thüringen aus? In diesem kleingliedrigen Ländchen voller zänkischer Bergvölkerschaften? Wo dumpfe deutsche Volksmusik von den Bergen widerhallt, Thüringer Klöße und Thüringer Rostbratwürste ungefragt als Inkarnation kulinarischer Genüsse gelten, gleich, wie lieblos und industriell sie neuerdings gefertigt werden? Wo Heimatliebe so oft zur Tümlichkeit rkommt? Dann antworte ich mir selber mit fester, mutmachender Stimme: Junge, das Ländchen ist ja gar nicht so eng und muf; es gibt hier noch immer unbetonierte Berggipfel, ganz ohne Parkplätze, und großartige, romantisch-rspielte Landschaften; es gibt sogar echte Dörfer und -noch - unrwechselbare Städte. Manche Gemeinden werden auch wieder unrwechselbar. Du hast hier eine Menge Freunde, Eingeborene und Zugewanderte, die just diese feine, schon erwähnte Selbstironie pflegen, eine Eigenschaft, die im mächtigen Einheitsdeutschland unterzugehen droht. Junge, sage ich mir dann, du bist hier gefeit davor, im Wohlgefühl zu rsinken: du findest immer genug an Reibungsfläche. Die Zipfelmützigkeit mancher Hiesigen zeigt dir deutlich, daß die Deutschen noch nicht überall so liberal, weltoffen und fremdenfreundlich sind, wie sie sich neuerdings gerne sehen möchten. Du findest genug Stoff, um dich aufzuregen - und du findest genug Verständnis, um dich auch wieder abzuregen. Du wohnst hier auf halber Strecke zwischen Berlin und München; exakt zwischen Stockholm und Mailand, ob du nach Norden oder nach Süden aus-büxt, ist ganz allein deine Sache und Sache deiner Verbindungen.
Und die großartigen, rschiedenen Sprechweisen, die du hier alle naselang zu hören bekommst, sind doch auch ein Grund, gelegentlich hier und nur hier den Leuten zuzuhören. Da mischt sich DDR-Bürokratendeutsch mit modischem Effizienzgeschwätz. Die Mundarten sind noch lebendig; hinter dem Rennsteig wird fränkisch gesprochen, gegen Osten hin pflegen feinere Leute unrfälschtes Gewandhaussächsisch, im Südosten klingst's vogtländisch, zum Harz hin beginnt jener Sound, den du als Magdeburgisch im Ohr hast, ab Eisenach babbelt man hessisch. Ein Mosaik rschiedener Sprechweisen. Das Land ist ein Land im Übergang in jeder Hinsicht, zwischen norddeutschem Flachland und süddeutschem Alpenglühn, zwischen altrtrauter DDR-Meckerei und neudeutschem Erfolgs-Gedöns, zwischen Lustschloß und Frust-gehäus.
Du findest prächtige Klischees: Leute mit Sauerkrauthorizont und krach lederne Gestalten; Leute mit schlechtem und Leute mit fehlendem historischen Gewissen; aber du findest genug an Leuten, die so sind, wie wir eigentlich alle gern wären: tolerant, großzügig, von heiterem Wesen, humorvoll
Diese Mischung gibt es überall in Deutschland? Mag ja sein, aber ich erlebe sie eben gern in dieser ganz speziellen Form in Thüringen. Die Meinung, daß Thüringen eben doch das Besondere im Allgemeinen ist - die darf ich hier doch mal landestypisch, also bissei dickköp, rtreten, gelle?
Die Wartburg im Thüringer Wald bei Eisenach gilt als das Symbol deutscher Kultur schlechthin. Nur zwei berühmte Ereignisse seien genannt: Im 13. Jahrhundert war die Burg Stätte des berühmten "Sängerkriegs, der Richard Wagner zu seiner Oper "Tannhäuser anregte, und 1521 bis 1522 übersetzte Martin Luther hier das Neue Testament.
Das Holz der Decke und der Wände in der Lutherstube der Wartburg stammt fast vollständig aus der Zeit, als der Reformator hier als "Junker Jörg lebte. Die Bibel auf dem Tisch, 1541 gedruckt, enthält Vermerke Luthers.
In der Geschichte der Glasbläser-Industrie Thüringens spiegelt sich das Schicksal des ganzen Landes: Den Übergang von den traditionellen Produktionstechniken - wie hier bei der Firma Schott -zur High-Tech-Fertigung mußten viele der Handwerkerund Familienbetriebe in Rekordzeit bewältigen.
Thüringen, Deutschlands Mitte, hat in weiten Teilen seine landschaftliche Unschuld bewahrt. Zwischen Werra und Saale (hier bei Lobenstein), Wartburg und Kyffhäuser fand die Nation ihre Mythen.
Das mittelalterliche Ensemble der Türme vom Dom (links) und von der Serikirche krönt das "Thüringische Rom: die Landeshauptstadt Erfurt. Der Domschatz birgt eine bedeutende Sammlung sakraler Kunst.
In der kleinen thüringischen Stadt Schmalkalden gründeten die protestantischen Reichsstände in Anwesenheit von Luther 1531 den Schmal-kaldischen Bund. Die Reformation hatte damit erstmals eine mächtige politische Organisation erhalten.
Das "Römische Haus, errichtet zwischen 1792 und 1797, hat Zeichnungen Goethes zum Vorbild, die er von seiner Italienreise mitbrachte. Das Gebäude diente Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach als Sommersitz.
"Übermütig sieht's nicht aus, bemerkte Johann Wolfgang von Goethe über sein bescheidenes Gartenhaus nahe der lim in Weimar. Bis zu seinem Tode 1832 suchte der große Dichter das Refu-gium gerne auf.
Markttreiben in der Klassikstadt Weimar vor historischer Kulisse: In dem Gebäude mit dem Doppelgiebel rbrachte der Maler Lucas Danach seine letzten Jahre.
Der Saal der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar ist ein Meisterwerk des deutschen Rokoko. Hier wirkte Goethe als Chef; hier arbeiteten die Geistesgrößen der Klassik mit diesen Büchern.
Goethes Wohnhaus am Frauen in Weimar wurde nach seinen Plänen 1792 umgebaut und eingerichtet. Die Wohnräume des großen Dichters und sein schöner Garten können besichtigt werden.
Das Doppeldenkmal der Dichter Goethe und Schiller in Weimar, geschaffen von dem Bildhauer Ernst Rietschel, wurde 1857 eingeweiht.
Erst 1802 konnte sich Friedrich Schiller in Weimar ein eigenes Haus leisten, und nur wenige Jahre durfte sich der 1805 rstorbene Dichter daran erfreuen. Vor der Eingangstür sahen sich die Freunde Schiller und Goethe zum letzten Mal.
Schloß Altenburg entstand auf den Grundmauern einer alten Kaiserpfalz vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Die Schloßkapelle mit ihrem kunstvoll rschlungenen spätgotischen Gewölbe bekam später eine kostbare Barockausstattung.
Erst 18 Jahre war Johann Sebastian Bach alt, als er 1703 die Stelle des Organisten in der Arnstädter Kirche antraf. Heute trägt das Gotteshaus den Namen des großen Barock-Komponisten.
Paulina war die Tochter eines Lehnsmannes von König Heinrich IV. Sie gründete etwa 1105 das Kloster, das später nach ihr benannt wurde: Paulinzella. Kurze Zeit danach begannen die Benediktinermönche mit dem Bau der dreischifen Basilika.
Im Jahre 1640 wurde Gotha Residenz der Herzöge von Sachsen-Gotha. Auf Schloß Friedenstein (1643-l655) gründete der Schauspieler Konrad Ekhof 1775 das erste Hoftheater Deutschlands.
Thüringen ist ein Land der Burgen und Schlösser. Zwischen Gotha und Erfurt stehen die als die "Drei Gleichen bekannten Festen: im Vordergrund Burg Gleichen, hinten die Wachsenburg; die dritte im Bunde, die Mühlburg, ist nicht im Bild.
Im nationalsozialistischen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar starben zwischen 1937 und 1945 mehr als 56 000 Menschen. Die Skulptur von Fritz Cremer auf dem Gelände der nationalen Mahn- und Gedenkstätte erinnert an das Leiden der Opfer.
Auf dem Kamm des Thüringer Waldes rläuft der "Rennsteig. So wird der alte Grenzweg genannt, der etwa 170 Kilometer von der Werra bis zur Saale rläuft.