Das geographische Europa und die EU (von Heinz Fassmann)
Die kollektiven Vorstellungen über Sinndeutung und Abgrenzung Europas prägen die politischen Strategien der Europäischen Union. Die Frage "Welcher Staat gehört zu Europa, und wo liegen daher die natürlichen Grenzen der Europäischen Union? limitiert und bestimmt gleichzeitig die zukünftige Erweiterung. Die EU-Erweiterung des Jahres 2004 hat insgesamt zehn Staaten als neue Mitglieder in die Union gebracht. Damit ist ein markanter Schritt im zyklischen Wechselspiel zwischen rtiefung der Gemeinschaft, Stichworte: Euro und Schengen, und ihrer Erweiterung erfolgt. Allerdings nicht zum ersten Mal! Und dieses zyklische Wechselspiel wird als Quelle der politischen Dynamik der EU weitergehen. Die derzeitigen Kandidatenländer Rumänien, Bulgarien und die Türkei stehen vor der Tür, Kroatien hat sein Beitrittsansuchen abgegeben. Die politischen Ambitionen Jugoslawiens, Mazedoniens, Albaniens, Bosnien-Herzegowinas, der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens, auch ein Teil der EU zu werden, sind klar erkennbar (Abb. 1.16).
Wer noch und was dann? Die Frage "Wo endet die Europäische Union? ist gleichzeitig die Frage "Wo endet Europa?.
Die Europäische Union weicht der Frage nach dem, was Europa ist und wo es endet, aus. Im Inneren hat sich eine territoriale Gliederung gebildet. Sie hat ein eigenes System geschaffen, welches für statistische Zwecke vergleichbare territoriale Einheiten in einem Mehrebenensystem definiert. Dieses System der NUTS ist umfassend, ausgefeilt und auch wissenschaftlich durchdacht. Im auffälligen Gegensatz dazu weicht die EU der mindestens ebenso wichtigen Frage, wo deren zukünftige Grenzen liegen, aus. Die EU deklariert nicht, wo sie enden wird, aber das wäre besonders wichtig, weil die Expansion nicht grenzenlos sein kann.
Die geographische "finalite d'Europe bleibt unbestimmt. Es ist der politische Pragmatismus und es sind einige wenige Prinzipien, die darüber entscheiden, was Europa - oder genauer - was die Europäische Union ist und welche Staaten dazugehören können. Diese Prinzipien wurden unter anderem nach zahlreichen bi- und multilateralen Vorgesprächen auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen (Juli 1993) festgelegt. Damals wurden die Aufnahmekriterien definiert, die notwendig sind, damit Staaten der EU beitreten können. Diese Kopenhagener Kriterien definieren die EU nicht aus einer territorialen Perspektive heraus, sondern auf der Grundlage einer politisch-ökonomischen. Nicht, wie weit die EU im Konkreten reichen soll, wurde festgelegt, sondern wer der Gemeinschaft im Grundsätzlichen beitreten kann. Der Europäische Rat beschloss bekanntlich jene drei Dimensionen staatlicher Strukturen, die die notwendigen Voraussetzungen für eine zukünftige Mitgliedschaft
darstellen sollten. Die erste Dimension umfasst Kriterien betreffend Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Schutz der Minderheiten, die zweite Dimension das Ausmaß der marktwirtschaftlichen Organisation der Wirtschaft und die dritte und letzte Dimension die Übereinstimmung mit den rpflichtungen einer potentiellen Mitgliedschaft.
Diese Kriterien sind sehr breit, nicht exakt definiert und lassen damit sehr viel Raum für politische Entscheidungen. Ob die marktwirtschaftliche Organisation Rumäniens oder Bulgariens genügend weit realisiert ist, bleibt der Einschätzung auch der politischen Nützlichkeit überlassen. Und auch dann, wenn das BIP pro Kopf noch nicht den europäischen Durchschnitt erreicht hat, spricht viel für eine Erweiterung. Politischer Pragmatismus ist wichtiger als starre Dogmen. Das politische "Vakuum, welches nach der Auflösung von Warschauer Pakt und COMECON eintrat, verlangte förmlich nach einer Neuordnung im östlichen Europa, nach Visionen für die Staaten, wohin sie langfristig gehören sollen, nach Modernisierungs- und Reformankern, die eine Transformation in diesen Staaten beschleunigen. Diese bereitzustellen ist für die EU wichtiger, als ein Korsett von Bedingungen zu kreieren oder einem dogmatischen Europabegriff nachzueifern.
Ahnliches war bei der inzwischen beantworteten Frage, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen sind, zu beobachten. Die Überprüfung der Kopenhagener Kriterien lässt einen breiten Spielraum. Die Frage, ob beispielsweise die Menschenrechte in der Türkei gewährleistet werden, ist dehnbar zu beantworten. Was viel wichtiger war und ist, sind die strategischen Überlegungen. Möchte die EU einen militärisch und wirtschaftlich wichtigen Partner an der Pforte zu Asien oder glaubt man, darauf verzichten zu können? Die Kopenhagener Kriterien sind dabei nur dezente Begleitung und auch nachträgliche Legitimierung.
Beim Studium der EU fällt noch ein zweiter Gesichtspunkt auf: Neben dem politischen Pragmatismus im Umgang mit der Frage, welcher Staat beitreten kann, existiert auch ein terminologischer Pragmatismus. Die Europäische Kommission, insbesondere die GD XVI, lässt sich - außerhalb des bereits erwähnten NUTS-Systems - auf keinen begrifflichen Dogmatismus ein. Lieberwerden neue Raumkategorien erfunden, bevor die Raumsemantik alter Begriffe aufgearbeitet wird. Österreich heißt auch weiterhin Österreich, aber es ist auch Teil von CADSES. Belastete Assoziationen sind bei der Nennung des Begriffes CADSES nicht möglich. Neue Termini zu schaffen, die frei sind von dem historischen Ballast, den viele territoriale Begriffe mit sich bringen, lautet die Strategie. Die EU hat sich nicht auf eine Mitteleuropadebatte eingelassen, sondern CADSES geschaffen, was so viel heißt wie Mitteleuropäischer, Adriatischer, Donau- und Südosteuropäischer Raum. Deutschland liegt zur Hälfte in CADSES, ein Viertel des Territoriums liegt im Nordseeraum und ein weiteres Viertel im nordwesteuropäischen Metropolraum (vgl. EUREK 1999, S.W). Mit großer Unbekümmertheit werden Neuschöpfungen durchgeführt, womit man erfolgreich terminologische Debatten in die akademischen Gefilde abschieben kann. Zwei weitere "Kostproben illustrieren die Strategie:
Im EUREK finden sich das Territorium "Tor zum Mittelmeer oder das Land "Archimed. Die beiden räumlichen Kategorien sind im Rahmen der EFRE-§10-Pilotaktionen definiert und weitgehend ungebräuchlich, was eben einen ideologiefreien Umgang erlaubt. Das "Tor zum Mittelmeer umfasst das südliche Portugal, das südliche Spanien und das nördliche Marokko, das Land "Archimed Griechenland und das südliche Italien. Die räumliche Abgrenzung des "Tors zum Mittelmeer führt zu einer dritten Bemerkung, nämlich zur Frage "Wo endet Europa?. Bei der Beantwortung dieser Frage lässt sich nicht nur viel Pragmatismus, sondern auch ein Konzept der fließenden Grenzen erkennen. Die EU endet nicht wirklich an der EU-Außengrenze. Viele Interaktionen, der Handel mit Gütern oder die Wanderung von Arbeitskräften und ihren Familienangehörigen, gehen darüber hinaus. Zwei Drittel des Handels werden innerhalb der EU abgewickelt, aber ein Drittel mit Staaten außerhalb davon, häu auch mit direkten Nachbarstaaten der EU. Von den in der EU lebenden rund 20Mio. Ausländern sind zwei Drittel keine EU-Bürger und die meisten davon aus unmittelbaren Nachbarstaaten der EU. Das Geschehen innerhalb der EU wird von der Entwicklung außerhalb erheblich mit beein-flusst. Europa endet eben nicht mehr am Ural oder am Mittelmeer, sondern geht in einer immer mehr vernetzten Welt darüber hinaus. Die EU reagiert darauf mit einem System von bi- und multilateralen rträgen, Abkommen und reinbarungen, die aus einer diskontinuierlichen Eurorenze einen kontinuierlichen Übergang Europas zu seinen Nachbarregionen schaffen sollen.
EU und NATO
Während die bürokratischen Maßnahmen der EU in die Lebenswelt des europäischen Bürgers eingreifen und daher kontinuierlich zur Kenntnis genommen werden, wird die Sphäre der NATO und vor allem ihre Relation zur EU aus der Sichtweise der Öffentlichkeit und der Medien weitgehend ausgeblendet.
Nun ist es eine strategische Tatsache, dass die politische Teilung Europas durch die Gründung des Nordatlantikpaktes 19W von den USA weiter verstärkt worden ist. Zu den zwölf Gründerstaaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Portugal sowie den USA und Kanada traten 1952 Griechenland und die Türkei. Darin äußerte sich der Wandel der Zielsetzung der NATO aus einem Instrument zur Kontrolle Deutschlands in ein globales Instrument im Kalten Krieg mit dem Drohpotential der Atombombe. Nach zehnjähriger Bewährungsfrist wurde 1955 die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen, während sich Frankreich 1966 aus der militärischen Integration zurückgezogen hat.
Treibende Kraft für das Zustandekommen des Bündnisses waren von vornherein die USA, welche damit die militärische Kontrollfunktion über die in erster Linie von wirtschaftlichen Interessen getragene Europäische Gemeinschaft übernommen haben. Dabei besteht eine interessante Koinzidenz zwischen dem atlantischen Verteidigungsbündnis und dem Ausbau der Europäischen Union, wobei nicht nur die Errichtung der NATO in Europa der Errichtung der EG vorangegangen ist, sondern auch die NATO die jeweiligen Schritte der Erweiterung vor denen der EU gesetzt hat.
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion genannt) war zwei Jahre nach Gründung des Europarates der erste wirtschaftliche Zusammenschluss in Europa. Auf Initiative der französischen Politiker Jean Monnet und Robert Schuman sollten die wichtigen Rohstoffe Kohle und Stahl künftig auf einem gemeinsamen Markt gehandelt werden. Frankreich und Deutschland sahen in der Montanunion einen Weg, ihre alte Feindschaft beizulegen. 1952 trat die Montanunion in Kraft. Ihr gehörten neben Deutschland und Frankreich auch Belgien, die Niederlande und Luxemburg sowie Italien an. 1973 traten Großbritannien, Irland und Dänemark bei, 1981 Griechenland und 1986 Spanien sowie Portugal.
Mit dem Ende des Kalten Krieges, der Auflösung des Warschauer Paktes 1991 und dem Zerfall der Sowjetunion entfiel der eigentliche Zweck, für den die NATO gegründet worden war. Die USA wollten jedoch diese wichtige militärische Kontrollfunktion über den europäischen Raum nicht aus der Hand geben und führten eine Reorganisation der Streitkräfte in Europa durch.
1995 erweiterte sich die EU durch die Aufnahme von drei neutralen Staaten: Österreich, Finnland und Schweden, von denen zwei, Österreich und Finnland, an den Eisernen Vorhang angegrenzt hatten. In einem Übersprungseffekt vollzog darauf die NATO 1998 die erste Erweiterung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Sie umfasste die Staaten Ungarn, Tschechien und Polen, welche erst bei der EU-Erweiterung 2004 in die EU aufgenommen wurden. Sieben Staaten - die baltischen Staaten, die Slowakei sowie Slowenien - wurden in diesem Jahr gleichzeitig NATO- und EU-Mitglieder. Wieder in einem Vorgriff gegenüber der EU wurden 2004 von der NATO Rumänien und Bulgarien als neue Mitglieder akzeptiert.
Es ist für die EU schwierig, sich von der militärischen Kontrolle durch die NATO zu emanzipieren. In einer Zeit, in der Sparpakete, Arbeitslosigkeit sowie Rückbau der Pensions- und Gesundheitssysteme die Bürger der Europäischen Union erschrecken, ferner die mittelfristigen Kosten der EU-Erweiterung noch nicht absehbar sind, wird eine Erhöhung des militärischen Budgets politisch kaum durchsetzbar sein. In Hinblick auf die militärische Präsenz der EU auf der globalen Ebene bleibt die Aussage bestehen, dass die USA als Partner der europäischen Verteidigungspolitik diese aufgrund ihrer militärischen Stärke entscheidend mitbestimmen und den europäischen Interessen nichteuropäische gegenüberstellen.