Leipzig - für viele verbindet sich mit der Nennung des Namens zuerst einmal der Gedanke an die "Leipziger Messe, andere erinnern sich vielleicht noch an die "Völkerschlacht bei Leipzig, einige denken sicher an Goethe und Auerbachs Keller, an Johann Sebastian Bach und die Thomaskirche, wer dann noch Namen wie Tele-mann, Gottsched, Geliert oder Brockhaus kennt und vielleicht den Bogen schlägt zu unserer Zeit und sich an die stürmischen Oktobertage von 1989 und an die Montagsdemonstrationen erinnert, die nur zu leicht und zu rasch in Vergessenheit geraten, der ist schon ganz gut beschlagen.
Es ist ja im wahrsten Sinne des Wortes eine überschaubare Großstadt, dieses Leipzig. Wer gut zu Fuß ist, wird die 500 Stufen zur Plattform des Völkerschlachtdenkmals hinaufsteigen, und wer es bequem haben möchte, wird (wenn es möglich ist) den Lift zum Dachrestaurant des Universitäts-Hochhauses benutzen. Beide Male bietet sich bei gutem Wetter von oben ein prachtvoller Blick nicht nur über die Stadt, sondern weit über die Leipziger Bucht bis zum Harz im Norden und dem Erzgebirge im Südosten. Trotz der Wunden, die der Zweite Weltkrieg geschlagen hat, ist vom Universitätsriesen aus der Kern des alten Leipzig deutlich erkennbar, wie ihn schon Bodenehrs bekannter Stadtgrundriß von 1720 zeigt. Pläne und Augenschein sagen etwas aus über die Stadtlandschaft, wer die Kulturlandschaft, das Wesen der Stadt Leipzig ausloten möchte, wird weit in die Geschichte zurückgehen müssen und, wie so häufig, weniger nach Denkmälern als nach den Spuren der Menschen suchen müssen.
Keimzelle der heutigen Stadt war eine slawische Siedlung etwa an der Nordwestecke der heutigen Altstadt. Dort wurde um 1015 eine deutsche Burg erbaut. Die älteste Marktsiedlung entstand etwas nördlich davon, etwa dort, wo sich die Nord-Süd- mit der Ost-West-Handelsstraße kreuzte, von unserem Aussichtspunkt aus unschwer zwischen Hauptbahnhof und Sachsenplatz zu markieren. Der Raum der heutigen Altstadt wurde etwa um die Mitte des 12. Jahrhunderts bebaut. Zur gleichen Zeit erhielt die Siedlung Stadtrecht verliehen und wurden die ersten großen regelmäßigen Märkte an Ostern und Michaeli ausdrücklich erwähnt.
n da an ging es mit dem Handel und den Geschäften in der jungen Stadt stetig aufwärts. Der erste bedeutende Leipziger, der uns begegnet und von dem wir sogar ein Bild, wenn auch kein Porträt, besitzen, ist allerdings kein Geschäftsmann, sondern der Dichter Heinrich von Morun-gen. Er zählt zu den bedeutendsten Minnesängern vor Walther von der gelweide, den er mit seinen Liedern beeinflußte. Als alter, für damalige Verhältnisse schon sehr alter Mann trat er 1217 in das Thomaskloster in Leipzig ein, dem er auch seine Besitzungen schenkte. In der Thomaskirche liegt er, wie eine Tafel neben dem Eingang vermerkt, begraben. Die berühmte Manessische Liederhandschrift zeigt sein Bild gar nicht so fromm und asketisch, sondern vielmehr in höchst weltlicher Situation als einen Herrn, der auf seinem Lager ruht, während ihn die Geliebte gerade verläßt. Vielleicht ist es die Szene, die er in einem seiner Rollcnlieder besingt und wo er klagt:
"Oh weh, soll mir nun nimmermehr Hell leuchten durch die Nacht Noch weißer denn ein Schnee Ihr Leib, so wohl gemacht? Der trog die Augen mein. Ich wähnt, es sollte sein Des lichten Monden Schein, Da tagte es.
Oh weh, soll ihm nun nimmermehr Der Morgen hier auftagen. Daß uns die Nacht vergeh. Daß wir nicht dürfen klagen? Oh weh, nun ist es Tag, Sie rief er voller Klag, Da er jüngst bei mir lag. Da tagte es.
Oh weh, sie küßte ohne Zahl In meinem Schlafe mich. Da rollten hin zu Tal Ihre Tränen nieder sich. Ich sagt ihr gute Ding, Bis daß ihr Weh verging. Und sie mich ganz umfing. Da tagte es.
Oh weh, daß da so glühend sich Sein Herz bei mir verbrannt.
Als er aufdeckte mich. Da wollt er ohn Gewand Mich Arme schauen bloß; Es war ein Wunder groß, Daß ihn das nie verdroß. Da tagte es. (W. Vespor)
Daß der Dichter ausgerechnet in das Thomas-Kloster eintrat, erscheint kein Zufall. Eine heute in Wien befindliche Handschrift dieses Klosters vermerkt: "Im Jahr des Herrn 1222 starb der Herr von Moringen, der den Heiligen Thomas in Indien aufgesucht hat. Auch andere ähnliche Hinweise im sogenannten "Lied vom edlen Moringcr oder in der Leipziger Chronik des Andreas Öhl lassen den Schluß zu, daß der Minnesänger eine für die damaligen Verhältnisse geradezu einmalige und sensationelle Reise unternommen hatte und auf den Spuren des hl. Thomas, den er anscheinend hoch verehrte, auf dem Landwege nach rderindien gezogen war, um dort an der Malabarküste den Thomaschristen nachzuspüren. Seinen genauen Reiseweg kennen wir nicht, vermuten nur, daß er am 3. Kreuzzug teilnahm, nach Indien weiterzog und erst nach sieben Jahren die Heimat wieder erreichte. Wenn es zutrifft, dann mögen im Thomas-Kloster die Mönche gern den Erzählungen des weitgereisten Mitbruders gelauschtJiaben.
Ein wichtiges Jahr in der Geschichte der nun schon höchst angesehenen Stadt ist 1409. Streitigkeiten an der Universität Prag und der Verlust alter Rechte hatten einen Teil der dortigen deutschen Studenten und Professoren veranlaßt, nach Leipzig auszuwandern und mit Unterstützung des Herzogs von Sachsen eine eigene hohe Schule zu gründen. Es waren insgesamt nur 369 Scholaren und anfangs nur einige unbedeutende Professoren, doch auch hier ging es wie mit dem Handel langsam, aber stetig aufwärts, und die Studentenzahl wuchs allmählich auf über 600 an. Allerdings besaß die Universität noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts keinen allzu guten Ruf, und dementsprechend versetzten ihr die berühmten "Dunkelmännerbriefe auch einige kräftige satirische Seitenhiebe.
Die Märkte dagegen waren Ende des 15. Jahrhunderts schon hoch angesehen, und Kaiser Maximilian I. verlieh der Stadt deshalb 1497 und nochmals zehn Jahre später ganz außerordentliche Privilegien, die den Charakter Leipzigs als Handels- und Messestadt hervorhoben und bestätigten. Die Leipziger konnten zufrieden sein, garantierten ihnen die kaiserlichen Privilegien doch nicht nur die Sicherheit der Handelswege, sondern auch das Stapel- und Nicderlagerechl im Umkreis von 15 Meilen, das heißt, keine andere Stadt in einem Umkreis von 115 Kilometern durfte Handelsgüter lagern, keine Jahrmärkte oder gar Messen abhalten. Die in diesem Bereich erzeugten Waren mußten zuerst nach Leipzig gebracht und hier drei Tage feilgeboten werden, che sie anderweitig verkauft werden durften. Selbst Papst Leo X. aus dem geschäftstüchtigen Hause der Me: dici bedrohte jeden mit dem Kirchenbann, der dieses kaiserliche Gebot mißachtete!
Die Leipziger verfügten aber nicht nur über konkurrenzlose Märkte, sondern mischten auch fleißig mit in europaweiten Handels- und Geldgeschäften. Besonders enge wirtschaftliche Beziehungen bestanden zu Nürnberger und Augsburger Handelshäusern, vor allem der Tuch-, Pelz-, Leder- und Metallhandel florierte.
Man war nun eben wer und konnte sich auch etwas leisten. Prachtvolle Bürgerhäuser wurden errichtet, aber vor allem auch wichtige Kirchen und öffentliche Bauten. Die Bürgerhäuser sind längst den Umbauten des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Noch erinnert das Alle Rathaus am Markt, das älteste Renaissancerathaus in Deutschland, an die einstige Bautätigkeit, zugleich aber auch an jenen Hie-ronymus Lotter, dessen tragisches Schicksal im Alter wir schon in Schloß Augustusburg kennenlernten. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts stand dieser in Nürnberg geborene spätere kurfürstliche Baumeister auf dem Höhepunkt seines Ansehens und seines Reichtums. Er war ein begabter Architekt, tüchtiger, geradezu gerissener Unternehmer und kluger Politiker. In Leipzig baute er mit staunenswerter Schnelligkeit von nur neun Monaten das Rathaus, aber auch andere öffentliche Gebäude, als Unternehmer dehnte er seine Geschäfte weit über die engere Stadt aus, als Politiker kümmerte er sich um ihr Wohl. Wie beliebt er war, läßt sich leicht aus der Tatsache ablesen, daß er zwischen 1555 und 1573 trotz aller anderen Verpflichtungen siebenmal das Amt des Bürgermeisters bekleidete. Es ist kaum zu glauben, daß ein solcher Mann völlig verarmt und im Elend enden sollte.
Die Verbindung von öffentlichen Amtern und Geschäften, wie wir sie bei Lotter erleben, war durchaus nicht ehrenrührig. So baute der Professor der Medizin und zeitweilige Rektor der Universität Heinrich Stromer 1525 im Zentrum der Stadt nicht weit entfernt von der Universität einen Hof und eröffnete dort eine Weinschenke, die sich bald vor allem unter den Universitätsangehörigen größter Beliebtheit erfreute. Da Stromer aus Auerbach in der Oberpfalz stammte, wurde die Schenke, ein Kellerlokal, wie wir heute sagen würden, kurzerhand "Auerbachs Keller genannt. Merkwürdigerweise verfaßte der Schenkenbesitzer in seiner Eigenschaft als Professor eine Schrift "Eine Getrewc, vleissige und ehrliche Verwarnung Widder das heßliche laster der Trunkenheit. Vielleicht betrieb er seine Studien dazu in der eigenen Wirtschaft. Munter muß es dort schon zugegangen sein, soll doch der berühmte und berüchtigte Doktor Faustus den Keller besucht und mit den Studenten seinen Schabernack getrieben haben. Sicher bewiesen ist der Besuch zwar nicht, wenn es auch zwei Gemälde dort, die auf 1525 datiert, in Wirklichkeit aber ein Jahrhundert später entstanden sind, belegen wollen. Jedenfalls hat sich das "lksbuch vom Doktor Faust der Geschichte angenommen, und deshalb ist sie auch im Druck erschienen:
"Es studierten damals zu Wittenberg einige vornehme polnische Herren von Adel, welche mit Doktor Faust viel umgingen und gute Kundschaft bei ihm hatten. Nun war eben zu dieser Zeit die Leipziger Messe; sie verlangten daher sehr, dieselbe einmal zu besuchen, teils weil sie von ihr oft und viel gehört, teils weil etliche gedachten, allda von ihren Landsleuten Geld zu erheben. So baten sie denn den Doktor, er wollte doch, wie sie wohl wüßten, daß er's könnte, mit seiner Kunst so viel zuwegen bringen, daß sie dahingelangen möchten. Doktor Faustus wollte sie keine Fehlbitte tun lassen und schaffte durch seine Kunst, daß des andern Tages vor der Stadt draußen ein mit vier Pferden bespannter Landwagen stand, auf welchen sie getrost aufsaßen und in schnellem Laufe fortfuhren. Kaum aber waren sie etwa bei einer Viertelstunde fortgerückt, da sahen sie sämtlich quer über das Feld einen Hasen laufen, was sie für ein böses Reisezeichen hielten, wie sie denn mit diesen und andern Gesprächen etliche Stunden zubrachten, so daß sie noch vor abends zu ihrer großen Verwunderung in Leipzig ankamen.
Folgenden Tages besahen sie die Stadt, verwunderten sich über die Kostbarkeiten der Kaufmannschaft, verrichteten ihre Geschäfte, und als sie wieder nahe zu ihrem Wirtshaus kamen, nahmen sie wahr, daß gegenüber in einem Weinkeller die sogenannten Wein- und Bierschröter allda ein Faß Wein, sieben oder acht Eimer haltend, aus dem Keller schroten oder bringen wollten, vermochten aber doch solches nicht, wie sehr sie sich auch deswegen bemühten, bis etwa ihrer noch mehr dazukämen. Doktor Faustus und seine Gesellen standen da still und sahen zu; da sprach Faust (der auch hier seiner Kunst wegen wollte bekanntwerden) fast höhnisch zu den Schrötern: ,Wie stellet ihr euch doch so läppisch dazu, seid eurer so viel und könnet ein solches Faß nicht zwingen, sollte es doch einer wohl allein verrichten können, wenn er sich recht dazu schicken wollte!' Die Schröter waren über solcher Rede recht unwillig und warfen, dieweil sie ihn nicht kannten, mit herben Worten um sich, unter andern: ,Wenn er denn besser als sie wüßte, solch Faß zu heben und aus dem Keller zu bringen, so sollte er's in aller Teufel Namen tun, was er sie viel zu verlieren hätte?' Unter diesem Handel kommt der Herr des Weinkellers herzu, vernimmt die Sache, und sonderlich, daß der eine gesagt, es könnte das Faß einer wohl allein aus dem Keller bringen; deswegen spricht er halbzornig zu ihm: ,Wohlan, weil ihr denn so starke Riesen seid, welcher unter euch das Faß allein wird herauf und aus dem Keller bringen, dessen soll es sein!'
Doktor Faustus aber war nicht faul, und weil eben etliche Studenten dazugekommen, ruft er diese an zu Zeugen dessen, das vom Weinherrn versprochen worden, ging also hinab in den Keller, setzte sich recht breit auf das Faß, gleich als auf einen Bock, und ritt, so zu reden, das Faß nicht ohne jedermanns Verwunderung herauf: Darüber denn der Weinherr sehr erschrak; und ob er wohl vorwandte, daß dieses nicht natürlich zuginge, mußte er doch sein Versprechen halten, wollte er anders nicht den Schimpf zusamt dem Schaden haben. Also ließ er das Faß mit Wein dem Doktor Faustus verabfolgen, der es denn seinen Gesellen, zugleich auch den Zeugen, den Studenten, zum besten gegeben, welche alsbald Anstalt machten, daß das Faß in das Wirtshaus geliefert wurde, wohin sie noch mehr andere gute Freunde baten, und sich etliche Tage davon lustig machten, solang ein Tropfen Wein darin war.2
Mehr noch als die kleine Episode aus dem lksbuch isi natürlich die Szene aus Goethes "Faust bekannt geworden und hat Auerbachs Keller Weltruhm verschafft. Wir können die Herren Faust und Mephisto in Lebensgröße am Eingang zur Mädlerpassage begegnen, wo sie seit 1913 die Passanten begrüßen und für den Keller werben.
Die folgenden 130 Jahre waren eine bewegte und harte Zeit für Leipzig. Sie lassen sich leicht abgrenzen mit den Jahreszahlen 1519 und 1650. Es begann vergleichsweise harmlos, sozusagen als Streit zwischen Gelehrten, als sich Luther und Doktor Eck, der wortgewandte Vertreter der katholischen Seite, auf der Pleißcnburg zu einem dreiwöchigen Streitgespräch trafen. Leopold von Ranke hat es in seiner "Geschichte der Reformation ungemein lebendig beschrieben:
"Am 24. Juni zogen auch die Wittenberger ein, auf einigen offenen Rollwagen die Lehrer, Karlstadt voran, dann Luther und Melanchthon zusammen, einige junge Lizentiaten und Bakkalaureen, mit ihnen Herzog Barnim von Pommern, der damals in Wittenberg studierte und die Würde eines Rektors bekleidete, um sie her zu Fuß ein paar hundert eifrige Studenten mit Hellebarden, Handbeilen und Spießen. Man bemerkte, daß sie von den Leipzigern nicht eingeholt worden waren, wie es wohl die Sitte mit sich gebracht hätte.
Unter der Vermittlung des Herzogs Georg wurden nun zunächst die Bedingungen des Kampfes festgesetzt; nur ungern fügte sich Eck in die Forderung, Rede und Widerrede durch Notare aufzeichnen zu lassen; dagegen mußte auch Luther zugeben, daß das Urteil einigen Universitäten anheimgestellt würde; er brachte dazu selbst Paris und Erfurt in rschlag. Auf diese Dinge drang der Herzog besonders eifrig; er behandelte die Sache wie einen Prozeß: er wollte die Akten gleichsam an ein paar Spruchkollegien versenden. Indessen ließ er auf dem Schloß einen geräumigen Saal zu dem literarischen Gefechte herrichten; zwei Katheder stellte man einander gegenüber auf, mit Teppichen behängt, auf denen die streitbaren Heiligen, St.-Georg und St.-Martin, abgebildet waren; es fehlte nicht an Tischen für die Notare, an Bänken für die Zuhörer. Endlich, am 27. Juni, ward die Aktion mit einer Heiligen-Geist-Messe eröffnet.
Karlstadt hatte es sich nicht nehmen lassen, zuerst zu disputieren; jedoch trug er wenig Ruhm davon. Er brachte Bücher mit, las daraus vor, schlug weiter nach und las wieder vor; auf die Einwendungen, die sein Gegner heute äußerte, antwortete er erst den anderen Morgen. Welch ein ganz anderer Disputator war da Johann Eck: - er besaß seine Wissenschaft zu augenblicklichem Gebrauch. Er studierte nicht lange: unmittelbar nach einem Spazierritt bestieg er das Katheder; ein großer Mann, von starkem Gliederbau, lauter, durchdringender Stimme; indem er sprach, ging er hin und her; auf jedes Argument hatte er eine Einrede bereit; sein Gedächtnis, seine Gewandtheit blendeten die Zuhörer. In der Sache selbst, den Erörterungen über Gnade und freien Willen, kam man natürlich nicht weiter. Zuweilen näherten sich die Streitenden einander so weit, daß ein jeder sich rühmte, den anderen auf seine Seite gebracht zu haben; dann gingen sie wieder auseinander. Eine Dislinktion Ecks etwa ausgenommen, ward nichts Neues vorgebracht; die wichtigsten Punkte wurden kaum berührt; die Sache war zuweilen so langweilig, daß der Saal sich leerte.
Um so lebendiger ward die Teilnahme, als nun endlich Luther auftrat, Montag, den 4. Juli, früh um sieben Uhr, der Gegner, nach dem Eck vor allen verlangt, über dessen aufkommenden Ruhm er auf das glänzendste zu triumphieren hoffte. Luther war von mittlerer Gestalt, damals noch sehr hager. Haut und Knochen; er besaß nicht jenes donnernde Organ seines Widersachers, noch sein in mancherlei Wissen fertiges Gedächtnis, noch seine Übung und Gewandtheit in den Kämpfen der Schule. Aber auch er stand in der Blüte des männlichen Alters, seinem 36sten Lebensjahre, der Fülle der Kraft; seine Stimme war wohllautend und deutlich; er war in der Bibel vollkommen zu Hause, und die treffendsten Sprüche stellten sich ihm von selber dar; - vor allem, er flößte das Gefühl ein, daß er die Wahrheit suche.3
Die dreiwöchige Disputation brachte kein Ergebnis, führte nur zu einer Verhärtung der Fronten. Die Leipziger Universität stellte sich gegen die Wittenberger, die Stadt blieb katholisch. Dann aber kam es zu inneren Spannungen. Längst hatten Drucker und Buchhändler in der Universitätsstadt Fuß gefaßt. Was nutzte es dem Herzog von Sachsen, daß er den Besitz und gar den Verkauf deutscher Bibeln bei Todesstrafe verbot, daß er einen, den Buchhändler Herrgott, wegen Verkaufs lutherischer Schriften sogar auf dem Markt hinrichten ließ, daß 1532 dreihundert protestantische Familien aus der Stadt vertrieben wurden - nach seinem Tode wurde 1539 doch in Leipzig die Reformation eingeführt.
Kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges geriet das reiche Leipzig in erhebliche wirtschaftliehe Schwierigkeiten. Die Stadt hatte einfach die eigenen Kräfte überschätzt und sich wirtschaftlich verspekuliert, der Kriegsausbruch trug noch das Seine bei, so daß es schließlich 1624 zu einem völligen Zusammenbruch der städtischen Finanzen kam. Mit vier Millionen Talern Schulden, eine für damalige Verhältnisse horrende Summe, wurde Leipzig 1627 unter kurfürstliche Zwangsverwaltung gestellt. Seit 1630 begann auch der Krieg bedrohlich näherzurücken, kaiserliche Truppen belagerten und besetzten die Stadt. 1632 kam es fast vor ihren Toren zur Schlacht bei Lützen. Leipzig wechselte mehrfach die Besatzungen, wurde belagert und schwer beschossen, bis schließlich 1642 die Schweden nach längerer Belagerung die Kapitulation erzwangen und bis 1650 als Besatzung verblieben.
Dann aber folgten auf die mageren die fetten Jahre, mit anderen Worten und genauer auf die 130 Jahre der inneren Schwierigkeiten, des Niedergangs und der Verwüstung folgten 110 Jahre der raschen Konsolidierung, des wirtschaftlichen Aufschwungs und vor allem einer in ihrer Art einmaligen kulturellen Blüte. Erhaltene Zeugen einer regen Bautätigkeit sind die alte Handelsbörse am Naschmarkt, mit der sich die Leipziger Kaufleute in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts einen repräsentativen und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung angemessenen Versammlungsort bauen ließen, sowie einige palaisartige Bürger- und Handelshäuser. Als schönstes Beispiel dafür darf wohl das Haus des Bürgermeisters Romanus in der Ka-tharinenstraße (Ecke Brühl) angesehen werden. Der Herr Bürgermeister hatte dafür 25 000 Taler ausgegeben, konnte sich aber nur wenige Wochen an seinem neuen Haus erfreuen; denn bald nach der llendung wurde er 1705 auf Befehl des Kurfürsten August des Starken verhaftet und 41 Jahre lang bis zu seinem Tode auf dem Königstein inhaftiert. Ein Prozeß wurde ihm nie gemacht, es scheint, daß er in dubiose Geldgeschäfte zugunsten Augusts verwickelt gewesen war und- diibei die Bausumme für sein Haus abgezweigt hatte.
Die großen Häuser wurden nicht nur aufwendig, sondern auch zweckmäßig gebaut, indem man ihre großen Innenhöfe so anlegte, daß die Einfahrt für Fuhrwagen in einer Gasse und die Ausfahrt in einer anderen erfolgte und die Wagen nach dem Be- und Entladen nicht wenden mußten. Barthels-hof an der Westseite des Marktes mag heute noch als Beispiel dafür dienen. Die Messen blühten wieder auf, zu den bisherigen hatte sich schon seit Anfang des 17. Jahrhunderts ein Wollmarkt und ein regelmäßiger Büchermarkt gesellt.
Den Überblick über die großen Geister der Universität in diesem goldenen Jahrhundert möchte man ja gern mit dem wohl bedeutendsten Denker Deutschlands beginnen, aber ausgerechnet den hatte die hohe Schule schnöde abgewiesen. Gottfried Wilhelm Leibniz war 1646 in Leipzig geboren worden. Er hatte die Nicolaischule besucht und danach ab 1661, also mit 15 Jahren, in Leipzig und Jena Philosophie und Rechtswissenschaften studiert. Sein Ziel war eine Professur in der Vaterstadt, doch als er sich an der Universität um die Promotion bewarb, wies man ihn wegen seiner Jugend ab. Trotzig wandte er der Heimat den Rük-ken zu, promovierte 1667 mit einem so vorzüglichen Ergebnis an der Universität Altdorf bei Nürnberg, daß man ihm dort sogleich eine Professur anbot. Leipzig blieb nur der Ruhm, seine Vaterstadt zu sein, und man setzte ihm ein Denkmal vor der Universität, die ihn abgewiesen hatte.
Auch ein zweiter berühmter Leipziger hatte in dieser Zeit wenig Glück mit seiner Vaterstadt. Christian Thomasius (1655-l728) erhielt zwar 1687 eine juristische Professur, doch als er es wagte, erstmals rlesungen in deutscher Sprache zu halten, wurde er so angefeindet, daß er Leipzig verlassen mußte, erst nach Berlin und dann nach Halle ging, wo er Rektor der neugegründeten Universität wurde.
Leibniz und Thomasius wären Ruhmesblätter für die Universität gewesen, das kann man für einen der bekanntesten Studenten dieser Zeit zumindest aus der Sicht der würdigen Herren nicht gerade sagen, war dieser Christian Reuter doch ein verbummeltes Genie. Geboren 1665 als Sohn eines Bauern in Kutten, nördlich von Halle, begann er in Leipzig erst mit dem Theologie-, dann mit dem Jurastudium, das er aber nach 14 Jahren immer noch nicht abgeschlossen hatte. Er wohnte im "Roten Löwen an der Ecke Brühl/Reichsstraße bei der Gastwirtswitwe Anna Rosine Müller, deren einer Sohn ein liederliches kavaliersmäßiges Leben führte, während die beiden Töchter eine über ihre dürftigen Verhältnisse hinausgehende Partie zu machen suchten. Als es zum Streit mit der Witwe kam, die Reuter schließlich wegen seiner Mietschulden an die Luft setzte, rächte sich dieser auf höchst unfeine, für uns heute aber amüsante Weise, indem er sie als Madame Schlampampe zur Heldin eines Lustspiels "Die Ehrliche Frau zu Plissine machte, das zugleich die Zustände in der Plciße-Stadt zeichnete. Frau Müller klagte darauf bei den Universitätsbehörden, und Reuter erhielt 15 Wochen Karzer und Relegation auf zwei Jahre. Er setzte seinen Federkrieg aber unvermindert fort und schrieb jetzt mit "Schelmuffskys Wahrhafftige Curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung jenen Lügen- und Schelmenroman, der ihn als ein literarisches Genie auswies. Mit der ur des Schelmuffsky karikierte er den Sohn der Müllerin, der sich als ein besonders geeignetes Objekt dafür erwies. Noch heute gilt der "Schelmuffsky als der wohl beste barocke Lügenroman, und wir begleiten mit Vergnügen seinen großmäuligen Helden auf dessen Reisen durch Europa und zum Großmogul. Leipzig spielt zwar keine Rolle, aber mit der Schilderung der Verhältnisse im Gasthof "Zum Roten Stier in Padua zeichnet der Dichter eine köstliche Karikatur des "Roten Löwen in Leipzig und der Familie Müller:
"Ich kehrete mit meinem Pferde und großen Kober in einen Gast-Hofe (zum rothen Stier genant) ein, allwo eine wackere ansehnliche Wirlhin war. Sobald ich nun mit meinem großen Kober von dem Pferde abstieg, kam mir die Wirthin gleich entgegen gelauffen, fiel mir um den Halß und küssete mich, sie mehnele aber nicht anders ich wäre ihr Sohn. Denn sie hatte auch einen Sohn in die Frembde gesschickt, und weil ich nun unangemeldet flugs in ihren Gast-Hoff hinein geritten kam, und sie mich nur von hinten ansichtig wurde, so mochte sie in den Gedancken stehen, ihr Sohn käme geritten, so kam sie Spornstreichs auf mich zu gewackelt, und kriegte mich von ihnten beym Kopffe und herzte mich. Nachdem ich ihr aber sagte: daß ich der und der wäre, und die Welt auch überall durchstanckert hätte, so bat sie hernach bey mir um Verzeihung, daß sie so kühne gewesen wäre.
Es hatte dieselbe Wirthin auch ein paar Töchter, die führeten sich der Tebel hohl mer galant und propre in Kleidung auff, nur Schade war es umb dieselben Menscher, daß sie so hochmüthig waren, und allen Leuten ein Klebe-Fleckchen wüsten anzuhängen, da sie doch der Tebel hohl mer von oben biß unten selbst zu tadeln waren. Denn es kunte kein Mensch mit Frieden vor ihren Hause vorbey gehen, dem sie nicht allemahl was auff den Ermel heffteten, und kiffen sich einen Tag und alle Tage mit ihrer Mutter, ja sie machten auch bißweilen ihre Mutter so herunter daß es Sünde und Schande war, und hatten sich an das heßliche Fluchen und Schweren gewöhnet, daß ich der Tebel hohl mer viel mahl gedachte: Was gilts? die Menscher werden noch auff den Miste sterben müssen, weil sie ihre eigene Mutter so verwünschen. Allein es geschähe der Mutter gar recht, warum hatte sie dieselben in der Jugend nicht besser gezogen
Nun waren auch viel Studenten da im Hause, mit denenselben stunden der Fr. Wirthin ihre Töchter vortrefflich wohl. Sie lieffen des Morgens immer zu den Studenten auff die Stuben, und quälten sie so lange, bis sie musten ein gut Frühstücke hohlen lassen. Wenn das Ding nun gleich ihre Mutter sähe oder wußte, daß ihre Töchter die Studenten-Stuben besuchten, so sagte sie ihnen der Tebel hohl mer nicht das geringste, sondern wenn sie gewahr wurde, daß die Studenten ein gut Glaß Wein hatten hohlen lassen, so machte sie sich auch ein Gewerb zu sie, und schnabelirte da so lange mit, biß es alle war. Hernach so ging sie wiederum ihrer Wege und sagte zu den Töchtern: Wenn sie gnug hätten, sollen sie bald nachkommen, welches sie auch bißweilen thaten. Ich kunte die Menscher aber niemahls um mich leiden, denn vors erste redeten sie kein klug Wort mit einem, und wer mit mir dazumahl reden wolte, der mußte der Tebel hohl mer Haare auff den Zähnen haben. r das andere, so hatte ich vor denselben Menschern flugs einen Abscheu, wenn sie mir nur etwas zu nahe traten, denn sie hatten einen erbärmlichen übelrüchenden Athem.
Reuter verließ schließlich Leipzig und ging 1697 nach Dresden, wo er Sekretär eines Kammerherrn wurde, von 1703 an lebte er in Berlin als Gelegenheits- und Festspieldichter für den brandenburgisch-preußischen Hof bis zu seinem frühen Tode 1712. Ein Denkmal haben ihm die Leipziger bis heute nicht gesetzt.
1723 kam Johann Sebastian Bach nach Leipzig, um an der Thomaskirche als Kantor zu wirken. 38 Jahre war er damals alt, 27 blieben ihm noch, manche gute und viele böse Tage; denn das Leben in Leipzig wurde ihm vor allem von der "wunderlichen, den Musen wenig ergebenen Obrigkeit nicht leichtgemacht. Das geht aus einem Brief hervor, den er 1730 an einen ehemaligen Schulfreund, den kaiserlich russischen Hofrat Georg Erdmann, richtete:
"Hirselbst bin nun nach Gottes Willen annoch beständig. Da aber nun 1) finde, daß dieser Dienst bey weiten nicht so erklecklich, als man mir ihn beschrieben, 2) viele aeeidentia dieser Station entgangen, 3) ein sehr theurer Orth u. 4) eine wunderliche und der Music weni ergebene Obrigkeit ist, mithin fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben muß, als werde genöthiget werden mit des Höchsten Beystand meine Fortun anderweitig zu suchen. Solten Er: Hochwohlgeb. vor einen alten treuen Diener dasiges Orthes eine con-venable Station wißen oder finden, so ersuche gantz gehorsamst vor mich eine hochgeneigte Recommendation einzulegen: an mir soll es nicht manquiren, daß dem hochgeneigten rspruch und interceßion einige satisfaction zu geben, mich bestens beflißen seyn werde. Meine itzige Station belaufet sich etwa auf 700 Cr. [Anm.: Courant = Kurant-Taler], und wenn es etwas mehrere, als or-dinairement, Leichen gibt, so steigen auch nach proportion die aeeidentia; ist aber eine gesunde Lufft, so fallen hingegen auch solche, wie denn voriges Jahr an ordinairen Leichen aeeidentia über 100 Cr. Einbuße gehabt. In Thüring kann ich mit 400 Cr. weiter kommen als hiesiges Orthes mit noch einmahl so vielen hunderten, weg der excessiven kostbahren Lebensarth.5
Aber es waren die Jahre, in denen die Johannesund die Matthäus-Passion, die h-Moll-Messe und schließlich "Die Kunst der Fuge sowie einige hundert Kantaten und Motetten entstanden, insgesamt zwei Drittel seiner Werke überhaupt. In den letzten Lebensjahren führte ein Augenleiden zu seiner Erblindung und damit zur Vereinsamung, die Zeitgenossen verstanden ihn häufig nicht, und doch war es, "als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung möge zugetragen haben. An dieses Wort Goethes sollten wir denken, wenn wir im Altarraum der Thomas-kirche vor der Bronzeplatte stehen, die sein Grab deckt. Nicht immer hörte der Kantor die Orgel hier in seiner letzten Ruhestätte erklingen; denn beerdigt hatten ihn die dankbaren und kunstsinnigen Leipziger ohne Grabstein "sechs Schritt vor der Mauer der Johanneskirche entfernt, und erst 1894 war das Grab wieder entdeckt und freigelegt worden, und 1950 wurden dann die Gebeine in die Thomaskirche überführt. Das Denkmal Bachs wurde 1908 vor der Kirche errichtet, mehr noch als dieses ungemein realistische Kunstwerk erinnern aber das Bacharchiv und eine Gedenkstätte gegenüber der Kirche an Leben und Werk des Thomaskantors, und natürlich pflegt die Stadt heute in den alljährlichen Bach-Festen, Wettbewerben usw. sein Andenken, das sie jahrhundertelang vernachlässigte.
Da hatte man zu seinen Lebzeiten einen Zeitgenossen Bachs schon mehr geachtet, weil sein würdevolles Leben und vor allem Auftreten so ganz nach dem Geschmack der gebildeten Welt war, und dazu zählten viele Leipziger, die wir gleich noch aus berufenem Munde hören werden. Dieser Herr hieß Johann Christoph Gottsched (1700 bis 1766). Er stammte aus Ostpreußen, wegen seiner stattlichen ur hatte er vor den Werbern des preußischen Königs fliehen müssen, der Männer wie ihn nur zu gern für die Armee rekrutierte. 1726 hat er sich in Leipzig habilitiert, wurde Professor der Poesie, heiratete mit Luise Adelgunde Viktorie Kulmus aus Danzig eine ihm an Geist und ur ebenbürtige Dame und prägte in den folgenden Jahrzehnten das literarische Leben nicht nur in Leipzig, sondern in ganz Deutschland, indem er sich bemühte, durch Übernahme der starren Regeln und Normen der klassischen französischen Dichtkunst das Niveau der deutschen dramatischen Literatur zu heben. Wollte er dabei sozusagen auch den Teufel mit Beelzebub austreiben, so hatte er doch durch jahrelange Zusammenarbeit mit der Neuberin und Unterstützung ihrer Reformbewegungen, bessere Ausbildung der Schauspieler, Hebung ihres sozialen Ansehens, durch seinen Kampf gegen die Formlosigkeit und Verwilderung der deutschen Sprache wesentlich mitgeholfen, der deutschen Klassik den Weg zu ebnen. Der junge Goethe besuchte den trockenen Pedanten und Geschmacksdiktator und zeichnete in "Dichtung und Wahrheit ein köstliches Bild des Herrn Professors:
"Wir ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer, indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebärde, die er machte, nicht recht verstanden, wüßte ich nicht zu sagen; genug, wir glaubten, er habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer sonderbaren Szene: denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem gründamastnen, mit rotem Taft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Türe herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitentüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perücke von dem Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Türe hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.5
Sein Gegenstück, wenn auch nicht sein Gegenspieler - dazu war er viel zu bescheiden - war der Professor für Poesie und Rhetorik Christian Fürchtegott Geliert. Er stammt aus Hainichen am Fuße des Erzgebirges, wo er 1715 als Sohn des dortigen Pfarrers geboren wurde, hatte nach dem Besuch der Meißner Fürstenschule in Leipzig Theologie und Literatur studiert und galt wohl als einer der populärsten Dichter der deutschen Aufklärung. Zwar sind seine etwas trockenen Lustspiele weitgehend vergessen, und auch seinen Familienroman "Die schwedische Gräfin von G lesen nur noch die Fachleute, dafür aber schätzt man seine Fabeln und Lieder immer noch. Seinerzeit war der Herr Professor bei Arm und Reich, Hoch und Niedrig gleichermaßen beliebt. Daß ihn Friedrich der Große eigens zu einer Audienz lud, wußte früher jedes Kind, und auch die - übrigens wahre - Geschichte vom braven Bauern, der dem Dichter für seine schönen Fabeln eine Fuhre Holz nach Leipzig brachte, kannte jeder; eine besonders heitere Episode mit einem stürmischen Verehrer schildert dann aber Geliert selbst in einem Brief:
"Den 18. November (1758) ließ sich ein Husarenleutnant von dem Gefolge des General Mala-kovsky sehr ungestüm bei mir melden. - Der Gewalt, dachte ich, kann niemand widerstehen; fasse dich und nimm den Besuch an, es begegne dir auch, was da will! Sogleich trat ein hagrer schwarzer Mann mit drohenden Augen, kotigen Stiefeln und blutigen Sporen hastig auf mich zu. Sein gelbes Haar war in einen großen Knoten und sein Bart in etliche kleine geknüpft. Mit der linken Hand hielt er seinen fürchterlichen Säbel und in der rechten (den Arm mit dazu genommen) den Stock, ein Paar Pistolen, die Mütze und eine Kor-batsche, mit Draht durchflochten. ,Was ist zu Ihrem Befehle, Herr Leutnant', fing ich mit Zittern an? ,Haben Sie Ordre, mich zu arretieren? Ich bin unschuldig.' - ,Nein, mein Herr! Sind Sie der berühmte Bücherschreiber und Professor Geliert?' -,Ja, ich bin Geliert.' - ,Nun, es erfreut mich, Sie zu sehen und zu umarmen (o wie zitterte ich bei dieser Umarmung!) Ich bin ein großer Verehrer Ihrer Schriften; sie haben mir in meinen Feldzü gen viel Dienste getan, und ich komme, Ihnen zu danken und Sie meiner Freundschaft zu versiehern.'
"Als ich in Leipzig ankam, war es gerade Meßzeit, woraus mir ein besonderes Vergnügen entsprang: denn ich sah hier die Fortsetzung eines vaterländischen Zustandes vor mir, bekannte Waren und Verkäufer, nur an andern Plätzen und in einer andern Folge. Ich durchstrich den Markt und die Buden mit vielem Anteil; besonders aber zogen meine Aufmerksamkeit an sich in ihren seltsamen Kleidern jene Bewohner der östlichen Gegenden, die Polen und Russen, vor allen aber die Griechen, deren ansehnlichen Gestalten und würdigen Kleidungen ich gar oft zu Gefallen ging.
Diese lebhafte Bewegung war jedoch bald vorüber, und nun trat mir die Stadt selbst mit ihren schönen hohen und untereinander gleichen Gebäuden entgegen. Sie machte einen sehr guten Eindruck auf mich, und es ist nicht zu leugnen, daß sie überhaupt, besonders aber in stillen Momenten der Sonn- und Feiertage, etwas Imposantes hat, so wie denn auch im Mondschein die Straßen, halb beschattet, halb beleuchtet, mich oft zu nächtlichen Promenaden einluden.8
Goethe lebte sich rasch ein, fand Anschluß an den berühmten Direktor der Kunstakademie Adam Friedrich Oscr, verliebte sich in Käthchen Schönkopf', die Tochter eines kleinen Schankwirts, der am Brühl 19 eine Weinwirtschaft unterhielt, in der es auch billigen Mittagstisch für die Herren Studiosi gab, schrieb Gedichte und Lieder und das Lustspiel "Die Laune des Verliebten. Er verkehrte mit seinen Freunden sicher auch im "Kaffeebaum in der Kleinen Fleischergasse, immerhin dem Zweitältesten Kaffeehaus Europas, und natürlich zechte er auch in "Auerbachs Keller, dem er mit der Szene in seinem "Faust ein einmaliges Denkmal setzte - und eine bis heute nachwirkende Reklame lieferte. Dort steht auch das inzwischen geflügelte Wort: "Mein Leipzig lob' ich mir! Es ist ein klein Paris Längst haben die Goetheforscher jedem Schritt und jeder Minute des jungen Dichters in Leipzig nachgespürt, bis zum bitteren Ende; denn das ungebundene Leben bekam ihm nicht, und an seinem 19. Geburtstag mußte er lebensgefährlich erkrankt nach Frankfurt in das Elternhaus zurückkehren.
Zu Goethes Zeit hatte das "Klein-Paris an der Pleiße allerdings schon wieder viel von seinem barocken Glanz eingebüßt. Der Siebenjährige Krieg hatte schwere Wunden geschlagen, doch die Messen und der damit verbundene weltweite Handel erholten sich rasch. Für 1799 gibt ein durchreisender Edelmann eine farbige, jedoch auch durchaus kritische Schilderung der Verhältnisse:
"Die vielen hier anwesenden Messverkäufer, die aufgeschlagenen Butiken, Kramläden und Stände, so wie das unaufhörliche und bis in die späteste Nacht fortwährende Unwesen, welches durch die Schleifen deutscher, polnischer, russischer und griechischer Kaufleute verursacht wird, machen zwar das sonst öde und lodte Leipzig im Ganzen um einen großen Theil lebhafter und, wenn du willst, angenehmer, im Gegentheil aber auch um ein Merkliches enger, und, mir wenigstens, odiöser.
Du glaubst gar nicht, wie sehr man in dem tollen Gedränge sich vorsehen muss; wie nöthig es ist, auf seine Uhr, Börse und Schnupftücher ein stets wachendes Auge zu haben, und wie rathsam es selbst dem fürsichtigsten Manne wird, in einem Augenblicke sich wenigstens viermal umzusehen, wenn er nicht zuweilen Gefahr laufen will derbe Ribbcnstösse zu erhalten, von einhcrrollenden Wagen umgefahren zu werden, oder sich wohl gar in die Gespanschaft pohlnischer Pferde zu verlieren.
Allzuweit sind ohnedem die Strassen in Leipzig nicht, mache dir also eine Idee, wie viel Platz da seyn kann, wo zwischen einem Räume von vierzehn Ellen (denn so breit sind circa die meisten Strassen) noch zwei Budenleute einander gegenüber stehen, deren Behältnisse beide zusammen genommen doch immer auch eine Breite von acht Ellen ausmachen, und rechne für jeden derselben noch eine Elle, die gewiss die um ihn herumstehenden Käufer und Gaffer ausfüllen, hinzu, so hast du in Summa eine Straße, wo in einem Zwischenräume von nicht mehr als vier Ellen -Vieh, Menschen und Esel bequemlich wandeln sollen. Hier ist also kein anderer Ausweg: entweder du musst während der Messe gänzlich auf das Strassengehn Verzicht thun, oder mit Hintansetzung aller Bequemlichkeit deinen raschen Schritten eine Bcinschelle anlegen, und hinter Karren und Schleifen so langsam und bedächtig einher-gehn, wie ein schwarzer Leichenbediente bey der Prozession an der Kutsche, oder musst wenigstens die hereinbrechende Nacht und ihre Schatten erwarten, wo dir dann keine Schleife und kein pohl-nisch Pferd den Weg mehr vertreten, sondern höchstens etwa ein girrendes Täubchen durch Husten und freundliches Zusprechen in sein dunkles Nestchen dich einladet.
Nirgends aber und in keiner Strasse ist das Drängen und Treiben ärger, so wie der Raum nirgends enger, und das Gehen daher beschwerlicher und in der That gefahrvoller, als in dem von bärtigen und unbärtigen Juden wimmelnden Brühle.
So wie es oft mit den weisesten Veranstaltungen zu gehen pflegt, so stark und unverzeihlich versündiget man sich auch hier an der Bequemlichkeit der Leipziger Messfremden - an dem guten Willen des hiesigen Magistrats - und selbst an der Nahrung und dem Fortkommen einheimischer Kaufleute.
Die Leipziger Jahrmärkte, denn Messen würde man sie mit Unrecht noch nennen, sind leider ihrem Ersterben sehr nahe, und fangen an das Schwanenlied zu singen.
Geschäfte der Art, wie man sie ehedem in grosser Menge machte, kommen jetzt nur selten noch vor, und dies freilich um so mehr, da, wie bekannt, die jetzigen politischen Verhältnisse dem ganzen Kommerzium einen gewaltigen Sturz gegeben haben. Der Handel nach Russland, wohin ehedem ein ungeheurer Absatz sächsischer Fabrikate ging, ist fast gänzlich gesperrt, und die polnischen Kaufleute allein würden noch gern die Niederlagen alter und neuer Handlungen ausleeren, wenn man aus guten Gründen nicht längst schon Bedenken getragen hätte, ihre Wechsel für baare Münze zu halten. Ueberdem bemüht sich jezt das spekulirende England mehr als jemals seine Fabriken im Gange zu erhalten und lässt seine Waaren daher fast unter die Hälfte des wahren Werths verkaufen, wodurch nun zwar seine eigene Absicht erreicht, der Schade für die sächsischen Handelsleute aber, nur desto fühlbarer wird.
Nie hat man wohl in den Leipziger Messen mehr verkauflustige Menschen gesehen, als iezt, im Gegentheil aber auch warlich nie weniger Abkaufen Die Gewölber fassen eine Menge Waaren in sich, die meistentheils alle so wieder eingepackt werden, wie man sie auslegte, Die Käufer drehen sich an den Buden umher, besehen, durch-schnopern alle Artickel und - kaufen nichts!
Die Entwicklung wurde erneut durch die politischen und militärischen Ereignisse unterbrochen, in deren Strudel Leipzig hineingezogen wurde, als es 1813 vor den Toren der Stadt zu der entscheidenden Schlacht zwischen Napoleon und den gegen ihn verbündeten preußischen, österreichischen, russischen und schwedischen Armeen kam. Die schweren Kämpfe zwischen den 19 000 Mann Napoleons und seinen 306 000 Gegnern zogen sich vom 16. bis 19. Oktober hin, und zu Recht darf man von einer "Völkerschlacht sprechen. Besonders die rstädte litten schwer unter dem Beschuß. Unter den zahlreichen Augenzeugenberichten über die Ereignisse nimmt die Schilderung des Postillions Gabler eine Sonderstellung ein, der den französischen Kaiser während der Schlacht als ortskundiger Führer begleiten mußte und später darüber in der dritten Person in einer Aufzeichnung berichtete:
"n Probstheida ritt der Kaiser denselben Weg nach der aksmühle wieder herunter und blieb hier wieder bis halb zwei Uhr. Nun wollte er nach Schönefeld, allein schon bei dem Chausseehause an den königlichen Straßenhäusern standen die französischen Batterien, die sich bis an den Parthefluß hinunterzogen. m Chausseehause an war nun die Wurzener Chaussee bis Stünz von der französischen Artillerie gedeckt. Hier war die Gefahr zu groß. Schönefeld war schon eingenommen, und die Verbündeten drängten die Franzosen immer weiter herauf. Nachdem er einige Worte mit Marschall Marmont gesprochen, ritt er wieder nach der Mühle zurück, von wo aus er wieder zum König von Neapel ritt und denselben hart bedrängt fand. Allein die Franzosen waren nicht eine Handbreit gewichen. Das Dorf wurde schrecklich von den Kanonenkugeln verwüstet. Nach Ablauf von ungefähr einer Stunde kam der König von Neapel zum Kaiser. Es dunkelte. Ein kleines Wachtfeuer ward auf Befehl des Kaisers angebrannt. Allein bald nach seinem Auflodern kam eine Granate geflogen und wühlte sich ganz in der Nähe des Kaisers (etwa eine halbe Elle von ihm entfernt) in die Erde. Gabler wollte die zerstörte Flamme wieder anbrennen und brachte Stroh und Reisig; allein nur wenige Schritte vom Feuer noch stehend, schlug eine zweite Granate ein und löschte das Feuer vollends aus. Der Kaiser blieb ganz ruhig und betrachtete sinnend die Kugel, das Feuer wurde nun nicht wieder angezündet. In dem Augenblick, da diese beiden Granaten einschlugen, stand auch der König von Neapel in der Nähe des Kaisers. Das Kanonenfeuer wurde nun schwächer, und die Wachtfeuer erhoben sich an allen Orten zu Tausenden. Gegen halb sieben Uhr in der größten Dunkelheit verließ der Kaiser das Schlachtfeld und ging nach Leipzig in das Hotel de Prusse. Nach sieben Uhr kamen schon Tausende auf der Retirade von Probstheida her. Da die Grimmaische Straße von einkehrenden Wagen und Mannschaften dicht gedrängt war, so führte Gabler den Kaiser an dem Spitalteiche vorüber auf die Johannisgasse, die sie auch ohne ein Hindernis passierten, in das genannte Hotel, wo Gablers Pferd mit dem des Kaisers eingezogen wurde. r dem Hotel biwakierten die Garden, Gabler ist hier unter den Soldaten geblieben. Er wurde auf Befehl des Kaisers bewacht, damit er ihm nicht entrinnen könne. Der Kaiser hatte ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ihm sogar noch von Frankfurt aus seinen Lohn für den letzten Tag, den 20. Oktober (täglich bekam Gabler 1 Louisdor), wo er sich in Weißenfels entfernt hatte, hereingeschickt. Ein kräftiger Beweis, daß Napoleon geleistete Dienste nicht vergaß; und unter welchen Umständen hatte er seines Führers in den Schlachttagen noch gedacht!!! -I0
m Ausgang der Kämpfe lesen wir kurz und bündig in einem Brief des preußischen Marschalls Blücher, der besser mit der Waffe als mit der Feder umzugehen wußte:
"Den 19. wurde zu Ende des Kampffs Leipzig mit Stuhrm und großer auf-Opffrung genomen. man wollte Leipzig in brand schißen, ich wider setzte mich die Russischen Batterien und sie durften nuhr mit kugell Schißen. An meiner seite drank die Russische Infanterie zu erst in die Stadt, an der andern seite die brawn Pomern, es wahr ein kämpf ohne gleichen, 100 Canonen sind in Leipzig genomen. unsre monarchen, das heißt der ost-reichsche, der Russische kaiser und unser könig haben mich auf öffentligen markte gedankt, Alexander drückte mich ans Hertz. So Fihl der große Colosh wie die Eiche vom Stuhrm, der große Ti-ran, hat sich gerettet, aber seine knappen sind in unsern henden.''
Rund 75 Gedenksteine und Denkmäler erinnern in und um Leipzig an die Schlacht und an die 90 000 Toten auf beiden Seiten, allen voran das gewaltige VÖlkcrschlachtdcnkmal, das nach einer fünfzehnjährigen Bauzeit 1913 in Gegenwart des deutschen Kaisers Wilhelm IL eingeweiht wurde. Der Kaiser mochte seinen Gefallen an dem Monumentalbau aus Granitporphyr gefunden haben, heute ist es bestimmt nicht mehr nach jedermanns Geschmack, wenn man sich auch der Gesamtwirkung nicht entziehen kann. Aber es gibt kleinere Denkmäler, die stärkere Erinnerung ausstrahlen, wie etwa der Napoleonsstein an der aksmühle, von wo aus der Kaiser den Befehl zum Rückzug gab, oder jene 44 Steine, die der Schriftsteller Theodor Apel auf eigene Kosten über das ganze ehemalige Schlachtfeld verteilt setzen ließ, um die Positionen der Truppen anzuzeigen. Und nicht zu vergessen die russische Gedächtnisstätte mit der Kirche im Nowgoroder Stil des 16. Jahrhunderts, die an die 22 000 gefallenen russischen Soldaten erinnert.
Das 19. Jahrhundert brachte den Wandel. Drei Aspekte sind dabei hervorzuheben: Leipzig als Bücherstadt, als Musik- und als Messestadt. Schon Leibniz hatte eine zentrale Organisation der Verleger und Buchhändler angeregt, aber erst 1825 wurde sie mit der Gründung des Buchhändler-BörsenVereins in Leipzig Wirklichkeit. Der Boden war hier durch die Messen und vor allem durch die ansässigen großen Verlage vorbereitet. Göschen gehörte dazu, bei dem die bedeutendsten Dichter der damaligen Zeit ihre Werke herausbrachten, Brockhaus und das von Hildburghausen hierher verlegte Bibliographische Institut, der Musikverlag Breitkopf & Härtel, Reclam, der Schöpfer der "Universalbibliothek, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Nicht genug damit, erschien von 1843 an in Leipzig mit der "Illustrirten Zeitung, die allgemein nur "Die Leipziger genannt wurde, die erste regelmäßige Illustrierte in Deutschland, zehn Jahre später begann von Leipzig aus die "Gartenlaube ihren Siegeszug durch die guten Stuben der deutschen Familien, Höhepunkt der Entwicklung aber war der Bau der Deutschen Bücherei, die dazu bestimmt wurde, die von Verlegern aus ganz Deutschland kostenlos gelieferten Pflichtexemplare aufzunehmen und damit das gesamte deutsche Schrifttum zu sammeln.
Die Musikstadt Leipzig war gewiß nicht neu und konnte allein schon mit den Kantoren der Thomaskirche von Calvisius bis Bach auf eine große Tradition zurückblicken, 1743 hatten dann einige Kaufleute im damaligen Gewandhaus Konzerte organisiert, 1781 war im gleichen Bau ein Konzertsaal eingerichtet worden, in dem einmal wöchentlich das Gewandhaus-Orchester spielte. Als dann 1835 der junge Felix Mendelssohn Bar-iholdy (1809-l847) das Amt des Kapellmeisters übernahm, erlangte das Orchester rasch eine Bedeutung weit über die Stadt hinaus. Robert Schumann wirkte hier, am nahegelegenen Theater Albert Lortzing (1801-l851). 1878 erlebte Leipzig die erste zyklische Aufführung des "Ring der Nibelungen außerhalb Bayreuths, für den 1813 in Leipzig geborenen Richard Wagner, dessen Musik seine Vaterstadt bisher wenig Sympathien entgegengebracht hatte, eine große Genugtuung. 1944 sank das Gewandhaus bei dem großen Bombenangriff in Schutt und Asche, an seiner Stelle entstand 1977/81 das Neue Gewandhaus, das die große Tradition des Leipziger Musiklebens nun fortsetzt.
1839 wurde mit dem Verkehr von Leipzig nach Dresden die erste größere deutsche Bahnstrecke in . Deutschland in Betrieb genommen. Schon 1902/15 erhielt Leipzig mit seinem Hauptbahnhof den größten Kopibahnhof Europas. In den dazwischenliegenden siebzig Jahren vollzog sich jener große verkehrstechnische Wandel, der auch den Wandel der Messen bedingte. In einer Zeit, in der die Handelsgüter und Maschinen rasch mit der Bahn transportiert werden konnten, bedurfte es nicht mehr der alten Handelsmessen. Die Ausstellung von Gütern genügte, um den Handel anzuregen. Und so wandelte sich vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an die Verkaufs- in eine Mustermesse. Das aber verlangte neue Messebauten, die alten Höfe, Gewölbe und Buden wurden rasch abgelöst durch rund dreißig mehrstöckige Messehäuser, von denen ein Teil sogar die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs überdauert hat und heute noch das Gesicht der Innenstadt prägt. Zu diesen Häusern gesellte sich im Süden der Stadt am Fuße des Völkerschlachtdenkmals seit 1920 ein Ausstellungsgelände mit großen Hallen für die "Technische Messe, wie sie ursprünglich hieß. Der Zweite Weltkrieg unterbrach die Entwicklung, aber schon 1946 konnte wieder eine-Frühjahrsmesse abgehalten werden, und die beiden großen ineinandergefügten M als Symbol der Mustermesse erlangten wieder internationale Bedeutung. Seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten muß auch ein neues Kapitel in der Geschichte der Leipziger Messen geschrieben werden. Noch ist der Wandel nicht abgeschlossen, aber es scheint, daß Leipzig seinen neuen Weg so erfolgreich gehen wird wie den alten.
Uns bleibt noch Zeit für zwei kurze Abstecher. Der eine führt in das nahe Gohlis, das heute längst eingemeindet ist, können wir dort doch in dem Schlößchen, das sich ein reicher Leipziger Handelsherr um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Landsitz errichten ließ, den schönsten Rokokobau Leipzigs bewundern, und gleich in der Nähe liegt jenes ehemalige Bauernhaus, in dem Friedrich Schiller vom Mai bis September 1785 wohnte und wo er am "Don Carlos arbeitete. Hier schrieb er auch jenes "Lied an die Freude, das Beethoven vertonte und als einen Höhepunkt in seine 9. Symphonie einfügte. Letztes Ziel ist das 26 Kilometer östlich von Leipzig gelegene Würzen an einer alten Furt über die Mulde. Die Stadt war politisch einmal ein Kuriosum; denn nach der Teilung Sachsens in die Albertinische und die Ernestini-sche Linie kam sie wegen der Furt unter gemeinsame Verwaltung, was zu manchen Konflikten führte. Schloß und Dom sind ebenso bemerkenswert wie das Posttor mit dem kursächsischen und dem königlich polnischen Wappen. Und ganz sicher werden wir auch an einen gewissen Hans Bötticher denken, der 1883 hier geboren wurde, uns aber weit besser unter seinem Künstlernamen Joachim Ringelnatz als Kabarettist und Dichter bekannt wurde. Die "Kultel Daddeldu-Lieder haben ihn berühmt gemacht, in den "Reisebriefen eines Artisten führt er nach Hongkong und nach Reichenbach im gtland, nach Amsterdam, Wien, Berlin, Paris und anderswohin, für Leipzig blieben aber nur ein paar traurige Zeilen:
"Die Berge sind so schön, so erhaben! -Aber es gibt hier keine. -Wo hier zwei Menschen sind, ist keiner alleine. -Über manche Leute, die jemand begraben. Lache ich beinahe mich selber zu Tode. -Fast alle Sachsen sind sächsisch. Sie zeigen sogar.
Daß die Pariser und die Londoner Mode r zwei Jahren eigentlich auch sächsisch war. Bei deiner Großmutter bin ich gewesen.
Es tut einem weh:
Sie nagelt - die Siebzigjährige - Stiele an Besen, Und trinkt - weil das jetzt am billigsten - Blutreinigungstee.
Sie hat eine alte Kommode, wertvolles, frühes Barock.
Ich klärte sie auf. Und denke dir: Sie - unabwehrbar - schenkte sie mir, Trug sie persönlich mir heimlich nachts ins Hotel in den dritten Stock. Was nun mit ihr, was mit der Kommode machen?? -
Genug für heute. Ich bin so müde gefragt. Es ist doch billig, über die Sachsen zu lachen.
Der müßte selber ein
(und würde kein) Sachse sein.
Der einmal recht ihre rzüge sagt.