Der europäische Tourismus bildet in Hinblick auf Angebot und Nachfrage ein Mehrebenen-System und unterliegt in diesem einem starken jahreszeitlichen Wandel, welcher im Nord-Süd-Profil n Europa dem Sunbeltdes Mediterrangebietes höhere Auslastungsquoten als dem Europa nördlich der Alpen zuschreibt.
Kaum beachtet im europäischen Vergleich sind bisher die Effekte des Binnentourismus in den einzelnen Staaten mit spezifischen Unterbringungsstrukturen und Urlaubsgewohnheiten. Sie spiegeln den Stellenwert der sozialen Kontakte in der Familie und im Freundeskreis sowie die sportlichen Akzente und Hobbys der einzelnen Nationen wider, und sie äußern sich in der Gestaltung der Kulturlandschaft.
Die europäische Ebene wird n Reiseländern wie Deutschland und Großbritannien bestimmt, welche entsprechende Touristikmärkte mit der erforderlichen Infrastruktur erzeugt haben. Darüber besteht die erst im Werden begriffene oberste institutionelle Ebene der EU als Player auf dem wachsenden globalen Touristikmarkt.
Historische Anfänge des Fremdenverkehrs
Pilgerreisen im Mittelalter und Bildungsreisen in der Renaissance nach Italien stehen am Anfang des europäischen Reiseverkehrs. Im 18. Jahrhundert entstand mit der Kavalierstour und der "Grand Tour der britischen Aristokraten ein erster Tourismus, der in den Oberschichten des Kontinents bald Nachahmung fand. Die Komödien von Goldoni schildern die Sommeraufenthalte der Bürger von Mailand, Venedig und der Toskana.
Mit der Aufklärung begann die wissenschaftliche Erforschung der Gebirge. Die Frage nach dem höchsten Berg in Europa wurde durch Saussures Besteigung des Montblanc im Jahre 1787 mit einem Höhenmesser geklärt. Damit setzte ein Wettlauf um Erstbesteigungen in den Westalpen, etwas später in den Ostalpen, ein. 1865 wurde als letzter schwieriger Berg das Matterhorn bestiegen.
Im alpinen Tourismus machten die Briten den Auftakt. Der englische Alpine Club wurde 1857 gegründet, ihm folgten 1862 der Österreichische Alpenverein, 1863 der Schweizer und der italienische Alpenklub und 1869 der Deutsche Alpenverein. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatten die alpinen Vereine ein geschlossenes Wegenetz mit über 500 Hütten errichtet (Abb. 9.12). Bereits damals entstand die Bahn auf das Jungfraujoch (Abb. 9.13).
Nahezu synchron mit dem Alpinismus begann die Entwicklung an der Cöte d'Azur. Auch hier gingen Engländer voran. 1777 wurden in Nizza das erste Casino und ein Theater erbaut. Die Promenade des Anglais ist mit 7km heute die längste Strandpromenade von Frankreich. Mit der Konzentration auf die Wintersaison hat sich die französische Riviera vor dem Ersten Weltkrieg zum exklusiven Treffpunkt des europäischen Großbürgertums und des Hochadels entwickelt. Einzelne Grand Hotels, in denen damals die Gäste fünf Wochen blieben, während heute die Aufenthaltsdauer durchschnittlich nur zwei Tage beträgt, haben sich erhalten (Abb.9.1
Durch die Stilrichtung des Historizismus erkennbar, zeichnen die in der Gründerzeit entstandenen Hotelbauten ebenso wie die mit maurischer und asiatischer Exotik ausgestatteten Villen die bedeutende Expansion einer elitären Freizeitgesellschaft nach, welche die Salonkultur der damaligen Metropolen Europas in die neu entstehenden Fremdenverkehrsorte exportierte.
Wenn heute von Sporttourismus gesprochen wird, so vergisst man meist, dass die Jagd zu den ältesten Freizeitbeschäftigungen von Hof und Adel zählt und in der Gründerzeit große Jagdreviere in den Alpen und Karpaten entstanden, in denen die Jagd auf Rotwild nach wie vor zu den exklusiven Sportarten gehört, ebenso wie die Fuchsjagd in Großbritannien, die erst 2004 gesetzlich verboten wurde.
Der Erste Weltkrieg war nicht nur für die politische Landkarte von Europa eine einschneidende Zäsur, sondern auch für den Fremdenverkehr. In der Zwischenkriegszeit brachte in Mitteleuropa ein bescheidener Sommerfrischenbetrieb neue Möglichkeiten für Familien und junge Leute.
Die Etappen des Massentourismus
Die Entwicklung des Massentourismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört einerseits zum Wohlstandssyndrom und wurde andererseits durch direkte und indirekte Maßnahmen in vielen Staaten und Regionen gefördert. Dabei standen die einzelnen Jahrzehnte der zweiten Hälfte des ; 20. Jahrhunderts unter unterschiedlichen Vorzei- 1 chen je nach den Produktionsstilen im Struktur- || wandel von Angebot und Nachfrage.
Der entscheidende Impuls in den 1960er Jahren ging von der Motorisierung aus, mit der sich der Fremdenverkehr in abseits vom Bahnnetz gelegene Gebiete ausweitete, die bis dahin vom Tourismus noch völlig unberührt geblieben waren. Mit dem Motto des Sommerurlaubs "Wasser und Sonne erfolgte die rasante Erschließung der Küstengebiete des Mittelmeeres mit urbanistischen Großprojekten.
In den 1970er Jahren gewann neben dem Sommerurlaub der Winterurlaub an Bedeutung. Das Motto "Sonne und Schnee brachte den Boom in alpinen Hochlagen (Abb. 9.15).
Ende der 1970er Jahre setzten die Kurzurlaube ein und synchron dazu die Abnahme der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der Langzeiturlaube. Immer stärker wurden ferner einfache Gasthäuser und Privatquartiere durch Komforthotels ersetzt.
In den 1980er Jahren fächerten sich die Aktivitäten auf. Die 1990er Jahre brachten die Urlaubsstil-Pakete und den rasanten Bedeutungsgewinn des Flugzeugs mit neuen Billigarrangements für außereuropäische Destinationen.
Zu Beginn des 21.Jahrhunderts besteht aufgrund des Reichtums von Europa an Naturschönheiten sowie des außerordentlich vielschichtigen Erbes des Kulturraumes eine unglaubliche Differenzierung im Angebot, dem eine Aufspaltung in verschiedenste Nachfragesegmente vom Duo des Langzeiturlaubs am Meer und im Gebirge bis hin zum Kurzurlaub als Stadturlaub entspricht. Von den meisten Segmenten, wie den wieder auflebenden Wallfahrten, den Extremsportarten (Wild-wasserfahren, Paragleiten), dem Kur- und Gesundheitstourismus, dem Abenteuer- und dem Bildungstourismus, fehlen Daten.
Der ökonomische Stellenwert des Tourismus
Die EU nimmt eine führende Position im globalen Tourismus als Hauptquelle und ebenso als Zielland von internationalen Touristenströmen (54,8% bzw. 57,8%: WT0-Barometer, Juni 2004) ein. Im Jahr 2002 befanden sich unter den globalen Zielstaaten des Welttourismus mit einem Marktanteil von zumindest 1% folgende europäische Länder:
Zielstaaten Markt Internat. pro 100
des Welt- % Tour. Mio. Einw.
tourismus
Frankreich 11,0 77,0 129
Spanien 7,4 61,7 129
Italien 5,7 39,8 69
Ver. Königreich 3,ft 24,2 40
Osterreich 2,6 18,6 228
Deutschland 2,6 18,0 22
Ungarn 2,3 15,9 158
Griechenland 2,0 14,2 133
Polen 2,0 14,0 36
Portugal 1,7 11,7 116
Schweiz IA 10,0 137
Niederlande 1,0 9,6 60
Schweden 1,1 7,5 84
Kroatien 1,0 6,9 158
Frankreich, Spanien und Italien können zusammen nahezu ein Viertel des globalen Tourismusmarktes auf sich vereinen, wobei in den 1990er Jahren Frankreich eine klare Spitzenposition erobert hat. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist Österreich das Tourismusland Nummer 1 in der EU, gefolgt von den EU-Erweiterungsstaaten Ungarn und Kroatien. Polen hat bereits Griechenland erreicht. Die extrem teuer gewordene Schweiz hat ihre frühere bedeutende Funktion im internationalen Tourismus verloren.
Die Bedeutung des Tourismus für die EU spiegelt ich in den Einnahmen von 249,2 Mrd. Euro 2003 = 6,6% des EU-Exports) wider. Von den rund (01,5 Mio. Gästen im Jahr 2003 wurden pro Gast im lurchschnitt 620 Euro ausgegeben. Als Anbieter ind rund 2 Mio. überwiegend kleine Unternehmen luf dem Markt. Davon hatten im Jahr 1997 94,2% veniger als 10 Beschäftigte. Sie trugen jedoch ,4% zum BNP von EU-15 bei. 2002 betrug die ge-amte Bettenkapazität des kommerziellen Sektors und 10 Mio. Betten. Sie hat sich durch die EU-Erveiterung um rund 800.000 Betten erhöht.
Mit 6,8 bis 8 Mio. direkt (und 20 Mio. indirekt) ieschäftigten entfallen auf die Tourismusbranche t,2 bis 5% bzw. 12% aller Beschäftigten der EU. 'or allem in wenig entwickelten und peripheren, edoch ökologisch attraktiven Räumen ist der :remdenverkehr vielfach zum wichtigsten Arbeit-;eber geworden.
Aus europäischer Sicht liegen die Wachstums-ronten von Angebot und Nachfrage an den Rän-Jern der EU, und zwar einerseits in Irland, Groß-jritannien und der Iberischen Halbinsel und andrerseits in den EU-Erweiterungsstaaten. Italien, iie Beneluxländer und Dänemark verzeichnen da->egen negative Entwicklungen.
Außer dem ökonomischen Beitrag des Tourismus ist jedoch auch seine soziale Funktion zu beachten. Er hat sich aus der Aktivität einer schmalen, privilegierten Gesellschaftsschicht zu einem Massenphänomen entwickelt, an dem die Mehrzahl der Europäer teilnimmt. Die Prognosen rechnen mit einer weiteren Zunahme des Tourismus und einer dementsprechenden Schaffung von Arbeitsplätzen. Gleichzeitig ist er durch seinen "Anschauungsunterricht zu einem wichtigen integrierenden Faktor in der EU geworden.
Tourismusmärkte in der EU
In Hinblick auf die Herkunftsländer von Reisenden sind in der EU mehrere "Märkte zu unterscheiden. Als wichtigstes Herkunftsland steht Deutschland als Reiseland Nummer 1 an der Spitze der EU, gefolgt von Großbritannien, welches aufgeholt hat.
Entsprechend den räumlichen Distanzen sondern sich die Destinationsländer recht deutlich voneinander, wenn auch - abgesehen von der Funktion Österreichs für Deutschland - nirgends ein Monopol eines Herkunftslandes besteht und insgesamt Mengstrukturen charakteristisch sind.
Im Jahr 2002 bildeten deutsche Touristen die größte Nachfragergruppe für Österreich (58,7%), Italien (32%) und Griechenland (32% aller Übernachtungen in Hotels und kommerziellen Betrieben).
Das Vereinigte Königreich war das wichtigste Herkunftsland des Tourismus für Irland (37,4%), Spanien (32,3%), Portugal (30,8%), Frankreich (23,4%), die Niederlande (23,2%) und Belgien (22,9% aller Übernachtungen). Schwedische Touristen waren Nachfrager Nummer 1 sowohl für Dänemark als auch für Finnland mit Werten von 22,1% bis 12,5%.
In Spanien hat sich die Herkunftsstruktur der Touristen gewandelt. War durch viele Jahre hindurch Deutschland das wichtigste Herkunftsland, so hat seit 2002 das Vereinigte Königreich die Spitzenposition inne.
Für die USA haben die EU-Mitgliedstaaten als touristische Zielländer an Bedeutung verloren, wobei Großbritannien (24,4%) und Irland (25,5%) die wichtigsten Reiseländer waren, mit Abstand gefolgt von Deutschland (11,6%) und den Niederlanden (11,3%).
Frankreich steht in keinem EU-Land als touristisches Herkunftsland an erster Stelle, sondern nur als drittwichtigstes in Belgien, Spanien und Großbritannien. Dies ist ein Beleg dafür, dass die meisten Bewohner Frankreichs ihren Urlaub lieber im In- als im Ausland verbringen. Damit ist die wichtige Thematik des inländischen Tourismus angesprochen.
Der inländische Tourismus
Die beschriebenen, die Staatsgrenzen übergreifenden Tourismusmärkte überlagern die spezifischen nationalen Strukturen und Aktivitätsmuster des inländischen Tourismus, der im Allgemeinen viel zu wenig beachtet wird. Nur ein Staat in der EU, nämlich Frankreich, verfügt über umfangreiche statistische Erhebungen über den inländischen Tourismus. Diese belegen das Tourismusverhalten der Franzosen in Frankreich und im Ausland an Hand der Unterkunftsarten, welche für die Übernachtungen in Anspruch genommen werden. Folgende Aussagen stehen zu Buche:
Ungefähr die Hälfte der Übernachtungen im Urlaub bleibt innerhalb des Rahmens familiärer Unterbringungsmöglichkeiten, sei es in den Hauptwohnsitzen von Eltern und Verwandten oder den eigenen bzw. Verwandten gehörenden Zweitwohnsitzen. Interessanterweise gilt diese Aussage auch für den Urlaub im Ausland! Die starke Familienbindung in der Urlaubsgestaltung geht aus diesen Daten klar hervor. Hier handelt es sich um die Beibehaltung eines traditionellen Verhaltensmusters, dessen Bedeutung im europäischen Kontext nur zu vermuten, dessen nationale Differenzierung jedoch nicht bekannt ist.
■ Sportliche Unterkunftsarten, Zelte, Wohnwagen, Jugendherbergen und dergleichen dokumentieren in Frankreich mit nahezu einem Fünftel aller Nächtigungen den sportlichen Charakter der Franzosen und erklären die große Bedeutung von Campingplätzen in allen Feriengebieten.
■ Einen ähnlich hohen Anteil besitzen Mietunterkünfte aller Art, welche unscharf in die (in der Schweiz wichtige) Parahotellerie einzuordnen wären.
■ Die Übernachtung in Hotels ist für den französischen Binnentourismus von eher marginaler Bedeutung! Auch bezüglich des Urlaubs im Ausland werden Hotels nur bei einem Viertel aller Nächtigungen als Unterkunft angegeben.
Der spanische Binnentourismus weist Ähnlichkeiten mit dem französischen auf, wobei die Spanier mit 91% noch stärker im eigenen Land Urlaub machen als die Franzosen, von denen immerhin 17% Reisen ins Ausland unternehmen. Auch in Spanien bleibt der Urlaub im familiären Rahmen von Zweitwohnsitzen, die von nahezu zwei Dritteln der spanischen Urlauber als Unterkunft angegeben werden. Die italienischen Strukturen dürften ähnlich sein.
Die italienische Statistik dokumentiert die Unterschiede des Binnentourismus gegenüber dem Ausländertourismus nach Interessensegmenten:
Hierbei überwiegt bei den Ausländern der Städtetourismus gegenüber dem Badeurlaub am Meer, während bei der italienischen Bevölkerung der Urlaub am Wasser mit über 60% absolute Priorität genießt. In Hinblick auf die Transportmittel im Urlaub ist Italien erstaunlich "altmodisch geblieben. Mit 68,5% stehen Busse weitaus an der Spitze, das Flugzeug benützen nur 10,*+% der Urlaubsreisenden. Ganz anders präsentiert sich Spanien, wo 2001 71% der ausländischen Touristen mit dem Flugzeug anreisten.
Zweifellos Allgemeingültigkeit besitzen die Ergebnisse der französischen Studien, wonach die Verschiebung zu den Kurzurlauben bisher nicht allen Schichten zugute gekommen ist. So bestand 2001 eine erhebliche Spannweite zwischen den Angehörigen der freien Berufe mit im Schnitt zehn derartigen Kurzaufenthalten im Jahr auf der einen Seite und den Landwirten mit nur 1,6 auf der anderen.