Die unbekannte Schöne
Es gehört elleicht zu den »Merkwürdigkeiten« Esslingens, die Achim von Arnim notierte, als er seinerzeit durch die Gassen und Weinberge schlenderte, dass die »Schöne am Neckar« so wenig bekannt ist, selbst (oder vor allem) den Stuttgartern. Zu verstehen ist das nicht. Nur erzehn S-Bahn-Minuten von der Landeshauptstadt entfernt, geizt die ehemalige Freie Reichsstadt nämlich wahrlich nicht mit ihren Reizen. Von ungewöhnlicher Geschlossenheit zeigt sich die mittelalterliche Altstadt mit Türmen und Toren, prächtigen Kirchen und mächtigem Fachwerk, mit Kanälen, Wasserrädern und Brückenhäusern. Merk-Würdigkeiten, im Wortsinn, gibt es auch heute noch genug: die älteste Fachwerk-Häuserzeile Deutschlands, einen ungewöhnlichen mittelalterlichen Geschlechterturm, die früheste gotische Hallenkirche im Südwesten, die älteste gewölbte Bettelordenskirche in Deutschland und eles mehr.
Geschichte
Die erste Urkunde stammt aus dem Jahr 777, als Abt Fulrad eine kleine klösterliche Gemeinschaft am Grab des hl. Vitalis seiner Abtei Saint-Denis bei Paris vermachte. Bereits zu Zeiten Karls des Großen besaß Esslingen das Marktrecht. Damals führte die wichtige Handelsstraße von Flandern nach Oberitalien hier an der weit und breit einzigen Furt durch den Neckar. 1286 wurde die Pliensaubrücke gebaut, neben jener über die Donau in Re-gensburg die älteste erhaltene Steinbrücke Deutschlands. Unter den Staufern erlebte Esslingen seine größte Blüte, was noch heute die bedeutenden Baudenkmäler eindrucksvoll belegen: Klöster, Kirchen und die Befestigung. Trotz ständiger Plänkeleien mit den nahen Württemberger Herzögen, der Wirren des Dreißigjährigen Krieges und der Franzoseneinfälle, Pestepidemien und Unwetter wurde Esslingen nie zerstört. Zwar war die Reichsstadt-Herrlichkeit 1802 zu Ende, doch entwickelte sich Esslingen in der Folgezeit zu einer bedeutenden Industriestadt und gelangte allmählich wieder zu ansehnlichem Wohlstand. Schon damals wurde eine Ingenieurschule gegründet, die heute geschätzte Fachhochschule für Technik. Heute leben in Esslingen 91000 Einwohner. Eine Esslinger Besonderheit bilden die ehemaligen Pfleghöfe auswärtiger Klöster, die von hier aus ihren Besitz in und außerhalb der Stadt verwalteten. Da zu diesen Besitztümern vor allem Weinberge gehörten, waren viele Pfleghöfe mit eigenen Keltern ausgestattet.
Die traditionsreichste deutsche Sektkellerei hat übrigens ihr Domizil im ehemaligen Speyrer Pfleghof. Georg Christian Kessler war es, der 1826 das Rezept für das prickelnde Getränk von der Firma Veuve Clicquot aus Reims an den Neckar brachte.
Stadtrundgang
Am Rossneckarkanal
Alt-Esslingen lässt sich bequem zu Fuß vom Bahnhof aus erkunden. Für Autofahrer bietet sich das Parkhaus Pliensauturm an.
An der Pliensaubrücke (13. |h.) über dem Neckar bewacht der Pliensauturm den ehemaligen Eingang zur Stadt vom Fluss her. Von hier führt die Fußgängerzone Pliensaustraße mit vielen Geschäften und Lokalen in die Altstadt. Die Häuser auf der Inneren Brücke über den Rossneckarkanal scheinen schwerelos in der Luft zu schweben.
Besonders schön ist das Ensemble zu sehen, wenn man die Treppe hinunter zur Maille, der Grünanlage unter der Brücke, geht.
Zwischen die Brückenhäuser schmiegt sich die kleine Nikolauskapelle von 1300, die zu einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus umgewidmet wurde. Mit dem von einem Figurenfries geschmückten Postmichelbrunnen 0 in der Ritterstraße hat es eine besondere Bewandtnis (s. re.). Einer der schönsten ehemaligen Klosterpfleg- höfe, der Speyrer Zehnthof © hinter der Stadtkirche, war seit 1213 im Besitz des dortigen Domkapitels. Seit 1826 ist er das Domizil der Firma Kessler, der ältesten Sektkellerei Deutschlands.
Rund um den Marktplatz
In dem Fachwerk-Ensemble am Marktplatz fällt das prächtige Kielmeyerhaus (Stadtinformation) auf, das 1582 als Kelterbau des reichsstädtischen Spitals errichtet wurde. Drei der wichtigsten Kirchen Esslingens liegen hier nur wenige Schritte auseinander. An der Südseite steht die mächtige zweitürmige *Stadtkirche St. Dio-nys O mit ihren zwei auffallend unterschiedlichen Türmen (1213-1310). St. Dionys entstand in seiner jetzigen Form im 13. jh. über der Keimzelle der Stadt, jener von Abt Fulrad 777 erstmals erwähnten Vitalis-Zelle, deren älteste Teile in der Krypta zu sehen sind. Besonders beachtenswert im Inneren des Gotteshauses sind die Glasfenster (um 1300) und das Chorgestühl aus dem beginnenden 16. Jh.
Jeden Mittwoch und Samstag findet vor der Stadtkirche ein malerischer Markt statt.
Eher bescheiden erscheint die ehemalige Dominikanerkirche St. Paul, Deutschlands älteste gewölbte Bettelordenskirche. Der 1255 begonnene Sakralbau wurde 1268 durch Albertus Magnus geweiht.
Leicht erhöht steht hinter dem Marktplatz die spätgotische Frauenkirche© mit ihrem filigranen Turm, die zu den Hauptwerken süddeutscher Gotik zählt. Die Baumeisterfamilien Ensinger und Böblinger haben über Generationen hinweg an der dreischif-figen Hallenkirche gearbeitet. Vom Baubeginn 1321 bis zur Vollendung des Turmes vergingen fast 200 Jahre.
Von der Frauenkirche geht es vorbei am mächtigen Quaderbau des ehemaligen Salemer Pfleghofs O zu einer überdachten Treppe, die steil zur Burg hinaufführt.
Im Schreiber-Museum im Salemer Pfleghof werden die schönen Bücher und künstlerisch aufwendig gestalteten Papierobjekte des bekannten Esslinger Schreiber-Verlags ausgestellt.
Die Burg
Ihre unverwechselbare Silhouette zieht die Blicke aus allen Richtungen auf sich. Braune Quadermauern umgeben den stadtischen Weinberg, zur Rechten vom Dicken Turm (heute Restaurant), zur Linken von der zierlichen Hochwacht beschützt.
Spätestens auf dem so genannten Burghof wird deutlich, dass die Anlage eigentlich gar keine Burg, sondern nur der nördlichste Teil der alten Stadtbefestigung war.
Äußerst eindrucksvoll ist der *Blick von hier über den Weinberg auf die verschachtelte Dachlandschaft der alten Reichsstadt, die von den Kirchtürmen und den drei erhaltenen Stadttoren überragt wird.
Den Abstieg von der Burg kann man über die Steige durch den Weinberg wählen.
Am Rathausplatz
Zwei verschiedene Gesichter zeigt das Alte Rathaus, ein architektonisches Kleinod und Meisterwerk der Zimmermannskunst. Erbaut wurde es zu Beginn des 15. Jhs. als städtisches Kauf- und Steuerhaus. Die Rückfront zeigt noch die ursprüngliche Fassade mit der Fachwerkkonstruktion vom Typ »Schwäbischer Mann«, so genannt, weil die Stützen wie Lastträger aussehen, die Arme und Beine spreizen.
Verblüffend ist der Kontrast zu der vom Hofbaumeister Schickhardt von 1586-1589 umgebauten Schaufassade zum Platz hin. Der geschwungene Renaissancegiebel erhielt eine astronomische Uhr mit beweglichen Figuren. Täglich um 8, 12, 15, 18 und 19.30 Uhr erklingt das Glockenspiel. Beim gegenüberliegenden Neuen Rathaus 0 handelt es sich um einen barocken Stadtpalast aus der Mitte des 18.Jhs.
Vom Hafenmarkt zur Küferstraße
Die Gebäude zwischen Altem Rathaus und Hafenmarkt aus der Zeit um 1330 erkannte man vor wenigen Jahren als Deutschlands älteste bekannte Fachwerk-Häuserzeile. Das Gelbe Haus © am Hafenmarkt ist ein vollständig erhaltener Wohnturm aus dem 13.1h. mit einem im Jahre 1701 angebauten Wohnhaus, heute Sitz des Stadtmuseums. Gleich dahinter steht in der Heugasse der Bebenhäuser Pfleghof, der heute die Stadtbücherei beheimatet.
Am Blarerplatz laden kleine Straßencafes zu einer Kaffeepause ein.
In der Städtischen Galerie Villa Merkel (Pulverwiesen), etwas außerhalb der Esslinger Altstadt, wird internationale Gegenwartskunst ausgestellt (Öffnungszeiten: Di 11-20, Mi-So 11-18 Uhr; Tel. 35 12 26 40).
Das Evangelische Gemeindehaus steht an der Stelle des im 19.1h. niedergelegten Langhauses der Hinteren Kirche © des Franziskanerordens. Im Chor sind Glasmalereien aus dem frühen 14. Jh. zu bewundern.
Das schönste und älteste Esslinger Stadttor, das um 1220 entstandene Wolfstor liegt an der von Lokalen flankierten Küferstraße.
Hotel Am Schillerpark, Neckar-str. 60, Tel. 9 3133-0, www. hotel-am-schillerpark.de. Komfortables Hotel garni, citynah.
Hotel am Schelztor, Schelztorstr. 5, Tel. 3 96 96 40, www. hotel-am-schelztor-de. Modernes Haus am Rand der Altstadt.
Hotel-Restaurant Kelter, Kelter-str. 104. Tel. 918 90 60,
Fax 9189 06 28. Hoch über Esslingen mit Blick aufs Neckartal.
Dicker Turm, auf der Burg,
Tel. 35 50 35. Speisen im mittelalterlichen Turm mit Superblick auf die ganze Stadt.
Goldenes Fässle, Heugasse 27, Tel. 35 7126. Gehobene schwäbische Küche unter bemalten Gewölben.
Oscars, Ulmer Str. 40, Tel. 30513 00. »Essen, Trinken, Kultur«; ab 21.30 Uhr wechselnde Livebands, v. a. Jazz.
Palmscher Bau, Innere Brücke 2, Tel. 35 02 45. Schwäbisches und Böhmisches; Biergarten.
Württembergische Landesbühne, Strohstr. 1, Tel. 3512 30 50. Anspruchsvolle Theateraufführungen.
Kabarett der Galgenstricke, Webergasse 9, Tel. 35 44 44. Gegenwartskabarett im mittelalterlichen Gewölbe.
DAS DICK, in der ehemaligen Feilenfabrik Dick in Bahnhofsnähe, ist mit seinen vielseitigen Angeboten - Kino, Disco, Kneipen, Fitness-Center - ein Kultziel der Region.
Ausflug nach Plochingen
Allen Fans von Friedensreich Hundertwasser sei die kurze Fahrt (10 km) nach Plochingen (14000 Einw.) empfohlen. Die Stadt wurde 1994 architektonisch verschönt. »Wohnen unterm Regenturm« heißt das von Hundertwasser entworfene, in märchenhaften Farben und Formen schwelgende Wohn-Einkaufs-Gastronomie-Projekt, das Plochingen außer dem mittelalterlichen Marktplatz für Architekten wie Touristen interessant macht.
Stadtmarketing Treffpunkt Plochingen, Schulstr. 5, 73207 Plochingen,
Tel. 0 7153/7 00 50,
www.plochingen.de