Am 1. Juli 1841 fuhr der erste Zug vom Anhalter Bahnhof nach Jüterbog. Gezogen wurde er von der ersten Lokomotive aus der Maschinenfabrik Borsig. Die Kapazitäten des Bahnhofs reichten bald nicht mehr aus; nach Plänen des Architekten Franz Schwechten entstand 1874-80 der drittgrößte Kopfbahnhof Europas. Ein technisches Novum stellte die riesige Halle mit einer Dachkonstruktion aus Glas und Stahl und einer Spannweite von 62,5m dar. Den Entwurf hatte der Ingenieur und Schriftsteller Heinrich Seidel geliefert.
Für die Berliner wurde der »Anhalter« zum Fernbahnhof schlechthin. Er war das Tor zum Süden: Täglich fuhren 20000 Reisende nach München, Dresden, Leipzig, Wien, Rom, Nizza, Paris und Athen oder kamen von dort an. Zum Schauplatz der Geschichte wurde der Bahnhof durch zahlreiche Staalsempfän-ge. In der festlich geschmückten Halle empfing am 21. Mai 1889 Kaiser Wilhelm IL in Anwesenheil der Generalität und des Reichskanzlers Fürst von Bismarck den italienischen König Umberto I. 1913 reisten Zar Nikolaus IL und andere fürstliche Gäste zur Hochzeit der Kaisertochter Viktoria Luise an. 1919 fuhr von hier Friedrich Eben zur Nationalversammlung nach Weimar. Im September 1926 trat Außenminister Gustav Strcscmann vom »Anhalter« seine Reise zum Völkerbund in Genfan.
Nicht selten war der Bahnhof auch Schauplatz »nichtoffizieller« Geschichte. Als 1882 unter dem Sozialistengesetz sieben Gewerkschaftsführer aus Berlin ausgewiesen wurden, begleiteten ihre Kollegen sie unter Hochrufen und Singen der »Arbeiter-Marseillaise«. Polizisten schlichen in der Menge umher und brachten Kreidestriche auf den Rücken derer an, die verhaftet werden sollten. Am 21. Dezember 1924 veranstalteten Berliner Ar-beiler eine »gewaltige Empfangsdemonstration« für den nach mehrjähriger Haft wegen Beteiligung an der Münchener Räterepublik amnestierten Dichter Erich Mühsam.
Wie keine Regierung zuvor nutzte das nationalsozialistische Regime Staatsempfänge zu politischer Machtdarstellung. Höhepunkte waren die Ankunft Hitlers am 10. April 1938, dem Tag der Volksabstimmung über die Annexion Österreichs, sowie am 6. Juli 1940, nach dem siegreichen Abschluß des Frankreichfeldzuges. Der Bahnhof war in ein Meer von Hakenkreuzfahnen gehüllt. Eine vieltausendköpfige Menschenmenge begrüßte unter Glockengeläut den »Führer«. Am 12. November des Jahres empfing die Regierung einen Vertreter des Landes, das man in Kürze zu überfallen gedachte: Der sowjetische Außenminister Molotow traf in Berlin zu Verhandlungen ein. Mit zunehmender Kriegsdauer wurde der Bahnhof Sammelplatz für Kinder und Frauen, die evakuiert werden sollten. Als am 30. April 1945 sowjetische Stoßtrupps das Bahnhofsgelände erreichten, sprengte die SS die Schottenkammern des Landwehrkanals. Viele Zivilisten und verwundete Soldaten, die in den Tunneln des S-Bahnhofs Schutz gesucht hatten, ertranken oder kamen in der allgemeinen Panik um.
Der Bahnhof wurde im Kriege stark beschädigt, jedoch nicht zerstört. Mitte August 1945 fuhren wieder Züge in die ländlichen Gebiete der sowjetischen Besatzungszone (»Hamsterfahrten«). Im Mai 1952 wurde dann der Zugverkehr eingestellt. Was Bomben und Artillerie nicht vermocht hatten, gelang dem Amt für Abräumung.
Am 27. Januar 1961 wurde das Bauwerk trotz zahlreicher Proteste gesprengt und abgetragen: nur ein Fragment des Bahnhofsportals blieb erhalten.
Einen Eindruck von der Größe des ehemaligen Anhalter Bahnhofs vermittelte eine Skulptur des Architekten Andreas Reidemei-ster. Aus Anlaß des Berlin-Jubiläums 1987 installierte er einen riesigen Stahl-bogen, der den Umrissen des Südportals entsprach. Im März 1990 wurde der Bogen auf Weisung der Senatsbauverwal-lung demontiert.