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"Urheimat", "Primitivität" und Werturteile

"Urheimat", "Primitivität" und Werturteile

Miteinander konkurrierende "Schulen" lassen sich angesichts des kleinen, erst im 20. Jahrhundert etablierten Faches nicht erkennen. Dennoch fielen die Antworten auf Forschungsfragen durchaus unterschiedlich aus. Heftige Kontroversen gab es in vielen Fragen, solange grundlegende Probleme der Klassifikation nicht befriedigend gelöst waren. Hinzu kamen differierende Bewertungen der vorliegenden Beobachtungen. Größere Resonanz fanden einfache Erklärungen, während es sorgfältig abwägende Stimmen schwerer hatten.
Hauptsächlich unter dem Eindruck der (indogermanistischen) Linguistik fragten Archäologen nach der "Urheimat" der Slawen. Nach der Herkunft der Germanen glaubte man nicht suchen zu müssen, denn die hatte schon Tacitus als "Ureinwohner" Mitteleuropas bezeichnet. Aus den antiken Beschreibungen ergab sich ferner, dass in Ostmitteleuropa verschiedene germanische und gotische "Völker" gesiedelt hatten. Die ebenso unbestreitbare slawische Besiedlung seit dem frühen Mittelalter erschien lediglich als Intermezzo, das von der "deutschen Ostsiedlung" im hohen Mittelalter beendet worden war, denn über die Postulierung kultureller Kontinuitäten ergab sich eine germanische Besiedlung seit der Bronze- oder gar Steinzeit. Bis in die Gegenwart tradiert Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte die längst überholte Auffassung, aus der "Vereinigung" der bäuerlichen Megalith- und der nomadischen, indogermanischen Streitaxt-Kultur seien in der Jungsteinzeit die Germanen hervorgegangen. Von der These einer "Wiederbesiedlung" eines "uralten Heimatbodens" war es schließlich nicht weit zu "Urgermanentheorien", die eine ununterbrochene germanisch( deutsch)e Besiedlung auch im Mittelalter postulierten.



Eine "slawische" Gegenposition knüpfte an die Erwähnung der Venedi bei Tacitus an, von denen dieser aber nicht wusste, ob er sie Sarmaten oder Germanen zurechnen sollte. Eine Verbindung mit den mittelalterlichen "Wenden" sah man bereits im 19. Jahrhundert durchaus kritisch. Doch ebenfalls bis in die Gegenwart hält sich hartnäckig die Vorstellung, man könne die während der Regierungszeit Justinians (527-565) erstmals beschriebenen Sklavenoi mit den 500 Jahre zuvor erwähnten Venetern und Anten gleichsetzen, wie dies um die Mitte des 6. Jahrhunderts bereits Prokop und Jordanes taten (Abb. 5). Mancher Archäologe bemühte sich daher um die Ermittlung kultureller Kontinuitäten zwischen frühmittelalterlichen und eisenzeitlichen "Kulturen".

Abb. 5. Ein Bild der slawischen Einwanderung ins östliche Mitteleuropa. Die Darstellung orientiert sich deutlich an den Siedlertrecks, die im 19. Jahrhundert den Westen Nordamerikas in Besitz nahmen. Frauen und Kinder sitzen auf Wagen mit allem Hab und Gut, bewaffnete und berittene Männer schützen den friedlichen
Zug und treiben das Vieh (nach VAŇÁ 1983, 30 f.).
Die in Frage kommende, meist als "gotisch" geltende Černjachov-Kultur wird dann zumindest als "polyethnisch" angesehen. Auf diese Art hatte Kostrzewski die "Urslawen" in der Lausitzer Kultur erkannt, wobei die postulierten Kontinuitäten auf derart allgemeine und verbreitete kulturelle Merkmale zurückgreifen, dass damit höchstens eine generelle und für fast jede Region und Zeit anzunehmende Besiedlungskontinuität belegt werden kann. Vor lauter Kontinuitäten geriet etwas aus dem Blick, wann eigentlich die Herausbildung dieser Großgruppen, d. h. der Beginn der postulierten kontinuierlichen Entwicklungen, angesetzt werden müsse. Für Kelten, Germanen und Slawen gingen viele von der (jüngeren) Bronzezeit aus, ohne allerdings überzeugende Argumente anbieten zu können, warum dies nicht bereits im Neolithikum geschehen sei.
Dass die Slawen eine "primitive Sachkultur" besessen hatten, war seit dem späten 19. Jahrhundert zum allgemeinen Stereotyp auch der Archäologie geworden. Wenn erst die hochmittelalterliche "Ostkolonisation" Kultur in den slawischen Osten gebracht hatte, wie man annahm, dann ergab sich diese These von selbst. Nach anfänglicher Begeisterung in der Romantik für die slawische "Ursprünglichkeit" hatte sich der Topos durchgesetzt, die Slawen seien ehemals zu großen Teilen eine "Fischerbevölkerung" gewesen - sie hätten also den Ackerbau gegenüber Viehhaltung und Jagd vernachlässigt. Als "Maßstab" fungierten einerseits die älteren kaiserzeitlichen, andererseits die jüngeren mittelalterlichen Befunde. "Alles, was wir von der wendischen Kultur wissen und kennen, trägt den Stempel der Armseligkeit an der Stirn und zeugt nur dafür, wie jäh der Absturz von der germanischen Kultur der Völkerwanderung zur wendischen herab gewesen ist", stellte Albert Kiekebusch (1870-1935) fest. Kossinna sprach von der "in armutsvoller Eintönigkeit ausgeprägten altslawischen Zivilisation", und Christoph Albrecht (1898-1966) gelangte "zu einer geringschätzigen Beurteilung der an sich 'primitiven' Kultur". Nach 1933 wurden die Urteile noch negativer und dürftiger: Werner Radig (1903-1985) zufolge kannte "der Westslawe" nur "primitive Holzbauten, wie sie andere indogermanische Völker schon 4000 Jahre früher angelegt haben".
Ebenso "eindeutig" fiel der Vergleich für das Mittelalter aus. Über die angebliche "slawische Primitivität", so Wilhelm Unverzagt (1892-1971), "geben die Grabungen in Oppeln und Zantoch ein eindrucksvolles Bild. Wohn- und Wehrbauten in primitivster Blockbautechnik mit offenen Herdfeuern im Innern der Häuser sind auf dicken Schichten festgestampften Mistes errichtet. Der Geruch, der noch heute aus diesen Trümmern aufsteigt, vermittelt eine nur zu deutliche Vorstellung von den damaligen kulturellen Zuständen. Wenn man sich vor Augen hält, daß solche Behausungen in Sitzen slawischer Fürsten erscheinen, und zwar zu einer Zeit, in der am Rhein und in Mitteldeutschland schon die herrlichen romanischen Kirchenbauten stehen, die noch heute unsere höchste Bewunderung erregen, so versteht man, was der kulturell hochstehende germanische Westen dem primitiven slawischen Osten zu geben hatte." Nach diesen Worten wird verständlich, daß auch Burgenbau und Herrschaftsbildung "natürlich" keine eigenständigen Entwicklungen gewesen, sondern nur von außen - vorzugsweise durch "nordgermanischen Einfluss" bzw. später durch die deutsche "Kulturmission" - übernommen worden sein konnten (Abb. 6). Mit dieser noch zunehmenden Abwertung ging eine immer frühere Datierung "frühdeutscher" Funde einher, die nicht nur dem späten Mittelalter zugerechnet, sondern auch für die Karolingerzeit postuliert und schließlich wie bei Leonhard Franz (1895-1974) sogar bis an das Ende der Spätantike heraufdatiert wurden.

Abb. 6. Frühmittelalterliche Keramik vom "Schmiedeberg" in Gustau (Gostyń). Die Frühdatierung dieser Gefäßformen in das 6./7. Jahrhundert diente der Postulierung starken, durch direkten völkerwanderungszeitlichen Kontakt hervorgerufenen germanischen Einflusses auf die frühen Slawen. Heute wird diese Keramik dem 9./10. Jahrhundert zugewiesen, was schon aus chronologischen Gründen "germanischen Einfluss" ausschließt.
Keramikstile widerspiegeln vor allem zeittypische Moden. - M. 1:5 (nach LANGENHEIM 1938, 79 Abb. 1).
Neben dem verbreiteten Verdikt "slawischer Primitivität" (korrespondierend mit dem Postulat "altgermanischer Kulturhöhe"), auf das man bei genauer Lektüre häu stößt, existierten durchaus nüchterne Urteile. Schuchhardt hielt beispielsweise Radig entgegen, dass die Silberschatzfunde "aufs deutlichste [zeigen], wie weit die Verbindungen der Slawen reichten und was ihre Stammesverwandtschaft mit dem Südosten dem Norden zugebracht hat". Ohne abqualifizierendes Werturteil kam auch Heinz Arno Knorrs Dissertation über die slawische Keramik aus, die 1937 in der von Hans Reinerth (1900-1990), dem Führer des Reichsbunds für Deutsche Vorgeschichte, herausgegebenen "Mannus-Bücherei" erschien. Nuancierungen waren also ungeachtet der politischen Verhältnisse möglich.
Auf die Negativeinschätzungen folgten in den "sozialistischen Staaten", nicht überraschend angesichts der slawischsprachigen Bevölkerungen, konträre Bewertungen. Man bemühte sich darum, eine derjenigen West- und Mitteleuropas vergleichbare, d. h. ebenbürtige historische Entwicklung zu belegen und damit auch die Rolle der hochmittelalterlichen Ostsiedlung zu relativieren. Die erwartete Parallelität der Veränderungen ließ sich zusätzlich mit "historischen Gesetzmäßigkeiten" begründen. Dies betraf die Sachkultur ebenso wie Burgenbau und Herrschaftsbildung. Daraus ergaben sich u. a. besonders frühe Datierungen (die an Vorstellungen der 1930er Jahre anknüpfen konnten ), um der sozialen Differenzierung genügend Zeitraum zu verschaffen. Des Weiteren wurden "frühstädtische" Entwicklungen gelegentlich an unzureichenden Befunden konstatiert und ebenfalls sehr früh angesetzt. Der Mangel an absoluten Datierungen für die Zeit zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert bot genügend Spielraum für unterschiedliche Ansätze.
An dieser "optimistischen" Sicht gab es durchaus Zweifel. Die Frühdatierung des Burgwalls von Tornow in der Niederlausitz wurde gelegentlich skeptisch beurteilt , und auch an der Anwendung marxistischer Gesellschaftskonzepte ("militärische Demokratie", "Feudalismus", "Klassengesellschaft") sowie den endlosen "Periodisierungsdiskussionen" in den sozialistischen Ländern wurde Kritik geübt. Insgesamt überwog jedoch die Meinung, trotz noch unzureichender Datierungsgrundlagen tragfähige Hypothesen erarbeitet zu haben. So beruhten auch die Zeitansätze und Einordnungen in der Bundesrepublik unternommener Projektforschungen - in Berlin-Spandau (. 2) und in Oldenburg (Starigard) - auf denselben Vorstellungen.

. 2. Alte und neue Datierungen von Berlin-Spandau. Erst die letzten drei Phasen stimmen ungefähr überein. Die archäologische Datierung der frühen Phasen beruhte auf Interpolationen, die den Beginn des Burgenbaus mit einer slawischen Einwanderung verbanden, und orientierte sich an den Ansätzen für die Burg von Brandenburg/Havel (nach MÜLLER / MÜLLER-MUČI / NEKUDA 1993, 17; HEUßNER / WESTPHAL 1998,
230 Abb. 7).







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