Natürlich waren auch die archäologischen Forschungen zur Germania Slavica von den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht unabhängig. Ziele und Fragestellungen wurden nicht allein aus den rfügbaren Quellen entwickelt, sondern ergaben sich ebenso aus den Nachbardisziplinen (Geschichte und Linguistik) sowie aus den öffentlichen Diskursen. Darüber hinaus konnte eine akti Beteiligung an diesen Debatten allgemeine Anerkennung, wissenschaftliche Etablierung und staatliche Unterstützung bedeuten. Es ist daher kein Zufall, dass das "ethnische Paradigma" und Kossinna um die Jahrhundertwende so viel Erfolg hatten; ebenso wenig kann es überraschen, dass die in den 1860er Jahren rstärkte "Germanisierungspolitik" in der preußischen Provinz Posen von historischen und archäologischen "Argumenten" begleitet wurde.
Die territorialen Folgen des ersten Weltkriegs wurden von Kossinna mit zwei Proandaschriften bekämpft, nachdem er schon 1911 und erneut 1914 die "deutsche Vorgeschichte" zur "hervorragend nationalen Wissenschaft" erklärt hatte. Daraus entwickelte sich in den 1920er Jahren ein erbitterter, polemischer Streit zwischen Józef Kostrzewski (1885-1969), der bei Kossinna promoviert worden war und der nun dessen "siedlungsarchäologische Methode" gegen seinen akademischen Lehrer wandte, und Bolko v. Richthofen (1899-1983). Mit Scheinargumenten rsuchten beide Seiten, Ostdeutschland und das Weichselgebiet als "urgermanisches" bzw. "urslawisches" Territorium in der Bronzezeit zu reklamieren (Abb. 11) und daraus politische Gebietsansprüche der Gegenwart offensiv bzw. defensiv zu rechtfertigen.
Abb. 11. Vermeintliche Indizien für kulturelle Kontinuitäten von jüngerer Bronzezeit (unten) über ältere (dritte Reihe) und jüngere vorrömische Eisenzeit (zweite Reihe) bis zur römischen Kaiserzeit (oben). Mit derart allgemeinen Parallelen lässt sich für alle Regionen und Zeiten eine kontinuierliche Besiedlung belegen. Über ethnische Identitäten oder sprachliche Zuordnungen ist damit überhaupt nichts ausgesagt (nach
KOSTRZEWSKI 1965, Taf. V).
Die sich in der Zwischenkriegszeit häufenden Verweise auf die Primitivität slawischer Sachkultur sind ein indirekter Reflex der Politik. Die "frühgeschichtliche[n] Forschung in den Ostgebieten [ erfuhr] seit dem Weltkriege [] durch die politischen Verhältnisse eine starke Belebung" , wie Unrzagt 1942 schrieb. Die Kulturlosigkeit der Slawen und ihre Unfähigkeit zur eigenen Staatenbildung schienen starke historische Argumente für deutsche Territorialansprüche in Ostmitteleuropa zu sein. In Deutschland wurde aus den (rlorenen) Ostgebieten rasch der "deutsche Osten" und schließlich "der Ostraum", beides eindeutig politische Kampfbegriffe. Aus dieser Perspekti gerieten die früh- und hochmittelalterlichen Burgwälle zu "slawische[n] Befestigungen im deutschen Osten": "So wird die Zantocher Schanze für uns zum Symbol des Ringens um den deutschen Osten, zur Burg im Osten schlechthin." Die 1927 gegründete "Burgwall-Arbeitsgemeinschaft" wandelte sich 1932 in die Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Vor- und Frühgeschichte des deutschen Ostens um. Ihr Ziel war es, "durch ernste Arbeit auf gemeinsamer Grundlage den zur Verteidigung der Heimat berufenen Männern zurlässige Waffen zu liefern, zum Nutzen unserer deutschen Forschung und zum Heil für das Deutschtum im Osten". Die Arbeitsgemeinschaft lehnte sich bald eng an die 1933 errichtete Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NODFG) unter Albert Brackmann (1871-1952) an.
Reine Proanda stellte die Arbeit des Krakauer Instituts für deutsche Ostarbeit dar, einer Gründung der NODFG, der mit Radig ein Prähistoriker als wissenschaftlicher Gesamtleiter vorstand: "Die Zeugen germanischer Vergangenheit zerstören die proandistischen Thesen einer ehemaligen polnischen Auch-Vorgeschichtsforschung, die diesen Raum aus politischen Tendenzgründen zum Herd des slawischen Urvolkes umgefälscht hat." Nicht weniger realitätsfern und absurd waren die "neuen Zeitstufen-Benennungen", die Ernst Petersen (1905-1944) 1935 ernstlich einzuführen vorschlug (. 4).
Die besondere Hervorhebung "altslawischer Kultur" in Ostmitteleuropa nach 1945 hatte nicht allein wissenschaftliche Gründe, und sie war auch nicht nur eine Reaktion auf die Negativurteile des früheren 20. Jahrhunderts. Es ging bei der materiellen und ideellen Forschungsförderung auch um politische Interessen. In Polen ließ sich durch die Untersuchung der Anfänge der piastischen Herrschaftsbildung rmeiden, dass die Milleniumsfeier der Taufe Herzog Mieszkos von 966 allzu sehr der traditionell sehr starken und einflussreichen katholischen Kirche Polens zugute kam. In der Tschechoslowakei kamen die Ausgrabungen im "großmährischen" Mikulčice und anderenorts gerade recht, um ebenfalls in den 1960er Jahren den 1100. Jahrestag des Beginns der "kyrillo-methodianischen Mission" auch kultur- und sozialgeschichtlich beleuchten zu können. Aus der Reichsbildung des 9. Jahrhunderts wurden so unrsehens die "Anfänge der tschechoslowakischen Staatlichkeit". Umfang und Stetigkeit des staatlichen Engagements zeigen, dass man die Archäologie für die Stabilisierung nationaler Identitäten bzw. der politischen Verhältnisse zu nutzen beabsichtigte.
. 4. Germanozentrische Zeitstufengliederung zwischen Bronzezeit und Mittelalter
(nach PETERSEN 1935, 146 f.).
Zeit Stufengliederung
1100-1200 Deutsches Mittelalter Stauferzeit
1000-1100 Salierzeit
900-1000 Sachsenzeit
800-900 Karolingerzeit
700-800 Spätgermanische Zeit Merowingerzeit Jüngere
600-700 Altere
500-600 Baiernzeit
400-500 Burgundenzeit
300-400 Hochgermanische Zeit Gotenzeit Jüngere
200-300 Altere
100-200 Markomannenzeit
0-100 Cheruskerzeit
100-0 Frühgermanische Zeit Swebenzeit
200-100 Teutonenzeit
300-200 Keltenzeit Jüngere
400-300 Mittlere
500-400 Altere
600-500 Landnahmezeit Jüngere
700-600 Mittlere
800-700 Altere
1800-800 [Urgermanische Zeit]
In jüngster Zeit wird der "Europa-Gedanke" stärker betont. Große Ausstellungen wie die in Berlin, Mannheim, Budapest, Krakau, Prag und Bratislava gezeigte über "Europas Mitte um 1000" bemühen sich um die fällige Überwindung überholter nationaler Perspektin und Stereotype. Doch existiert auch hier eine latente Gefahr, moderne Verhältnisse und Vorstellungen in eine differente, ferne Vergangenheit zu projizieren. Zur Projektorganisation und -finanzierung ist der Europabezug legitim, doch darf er nicht unbesehen als geeignetes Interpretationsmodell herangezogen werden. Angesichts rstärkter forschungs- und wissenschaftsgeschichtlicher Reflexionen stehen die Chancen dafür recht gut.