Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs in der Europäischen Union - Rechtliche Bindung und Regelungsdefizite
I. Inhaltsverzeichnis
II. Einleitung
1. Entwicklung und Bedeutung des EG-Vertrages
2. Der Art. 3 g des EG-Vertrages
III. Was ist Wettbewerb?
1. Grundlagen und politische Ideen
2. Wettbewerbstheorien
a. Der dynamische Wettbewerb der Klassik
b. Das neoklassische Wettbewerbsmodell
c. Workable competition als second best
d. Effective Competition
e. Chicago-School
3. Definition des Wettbewerbsbegriffes
4. Warum Wettbewerb? - Aufgaben und Funktionen eines Wettbewerbssystems
IV. Das Leitbild der EU von einem Wettbewerbssystem und seine Normierung
1. Art. 85, 86, 92 I EGV: Die Ausgestaltung des Vertragszieles aus Art. 3 g EGV
a. Kartellverbot
b. Mißbrauchsverbot einer Monopolstellung
c. Staatliche Beihilfen
d. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel
2. Die Charakterisierung des Wettbewerbs als 'unverfälscht'
3. Wettbewerb durch Regulierung?
4. Wettbewerb als Mittel der europäischen Integration
V. Die Durchsetzung des Leitbildes und seine rechtliche Bindung
1. Die Vier-Grundfreiheiten
2. Die Kartell-Verordnung
3. Fusionskontrolle
4. Gruppenfreistellungen
5. Deregulierung
6. Kollision mit nationalem Recht und Bindung der Mitgliedstaaten
VI. Regelungsdefizite und Grenzen des Wettbewerbs
1. Sozialproblematik
2. Abschottung nach außen; 'Festung-Europa'
3. Umweltrechtliche Prinzipien in der europäischen Wettbewerbsordnung
VII. Ausblick
VIII. Literaturverzeichnis
zur Homepage
Einleitung
Entwicklung und Bedeutung des EG-Vertrages
Am 1. Januar 1958 traten die Römischen Verträge, bestehend aus dem Vertrag zur
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) und dem Vertrag
zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG-Vetrag oder EURATOM), in
Kraft. Sie wurden ein dreiviertel Jahr vorher in Rom von Italien, Deutschland,
Frankreich und den Benelux-Ländern unterzeichnet. Vorausgegangen war im Jahre
1951 die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder
Montanunion), basierend auf dem Plan des französischen Außenministers Robert
Schumann. Dieser wollte durch Verflechtung und Integration der damals
wichtigsten Industriezweige Kohle und Stahl, eine dauerhafte Friedensordnung
für Europa und langfristig eine europäische Föderation schaffen.
Die drei Wirtschaftsgemeinschaften wurden im Jahre 1967 unter Fortgeltung der
Verträge miteinander verschmolzen. Der EWG-Vertrag hat sich zur Magna Charta
der europäischen Einigung entwickelt, wurde mit dem Vertrag über die
Europäische Union (sogn. Maastricht-Vertrag) vom 7. Februar 1992 umfassend neu
gestaltet und heißt seitdem EG-Vertrag. Er wurde das Grundgesetz der
Europäischen Union und geht weit über eine reine Wirtschaftsverfassung hinaus.
Daher lohnt es sich, eines der Grundprinzipien der Europäischen Union genauer
zu betrachten.
Der Art. 3 g des EG-Vertrages
Art. 3 EGV enthält eine Aufzählung von Prinzipien, die die Gemeinschaftsorgane
in ihrem Handeln verpflichten. Sie dienen als Mittel zur Verwirklichung der
Vertragsziele aus Art. 2 EGV (Errichtung eines Gemeinsamen Marktes, einer
Wirtschafts- und Währungsunion,), sind aber nicht abschließend.
Eines dieser Prinzipien ist in Art. 3 g EGV bestimmt: 'Die Tätigkeit der
Gemeinschaft umfaßt ein System, daß den Wettbewerb innerhalb des
Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt.'
Damit wird im Gegensatz zum wirtschaftsneutralen deutschen Grundgesetz eine bestimmte
Wirtschaftsordnung festgeschrieben. Es ist ein Marktsystem mit Wettbewerb.
Was ist Wettbewerb?
Grundlagen und politische Ideen
Wirtschaftssysteme auf der Grundlage des Wettbewerbs beruhen auf
philosophischen und politischen Konzepten, die wir, obwohl der Begriff erst
1812 in Spanien auftaucht, als Liberalismus bezeichnen.
Die libertas war die Verfassung der römischen Republik. Sie galt für die Bürger
Roms und meinte diejenigen, die frei vom Sklavenstand waren. Liber heißt nicht
nur frei, sondern benötigt einen Bezugspunkt, bedeutet also frei von einer
Fessel, der Sklaverei.
Der Liberalismus entstand als Gegenkonzept zum Merkantilismus der
absolutistischen Monarchien in Europa. Er meint die Freiheit von Abhängigkeit
und Bevormundung, basiert auf der Vernunft des Menschen, auf der individuellen
Selbstbestimmung und ist Ausdruck der Aufklärung.
Die Grundlagen des Liberalismus wurden von John Locke (1632-1704) in seinem
Werk 'über die Regierung' gelegt. Seine Grundaussage besteht darin,
daß die Freiheit des Menschen zum vollkommenen Glück führt. Da der Mensch von
Gott (dem Logos) mit dem Guten (der Vernunft) ausgestattet. wurde, stellt sich
bei dessen freier Entfaltung das vollkommene Glück ein.
Adam Smith (1723-1790) entwickelte dieses Konzept konsequent zu einem auf
freien Wettbewerb basierenden Wirtschaftssystem fort und begründete im Jahre
1776 mit seinem Werk 'Der Wohlstand der Nationen' die
'Klassische Nationalökonomie'. Diese Klassiker des Liberalismus
benutzten den wirtschaftlichen Erfolg auch als Gradmesser für die politische
Kompetenz. Nur wer diese Kompetenz nachweist, hat auch das Recht auf politische
Mitsprache.
Erst John Stuart Mill (1806-1873) setzt diese Kompetenz in seinem Utilitarismus
nicht schon voraus, sondern will sie durch Einbindung des Individuums in ein
freiheitliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell entwickeln. Er benutzt den
Wettbewerb als Chance zur Selbstbestimmung und Freiheit des Individuums.
Obwohl in Deutschland bereits vor und während des 2. Weltkrieges von ökonomen
wie Walter Eucken und Alfred Müller-Armack das Leitbild der sozialen
Marktwirtschaft entworfen wurde, entstand die politische 'Theorie der
Gerechtigkeit' dazu erst später durch John Rawls im Jahre 1971. Nach
dieser lassen sich die Nachteile einer Wettbewerbsordnung nur rechtfertigen,
wenn zwei Gerechtigkeitsgrundsätze beachtet werden. Zum einen der
Rechtsstaatsgrundsatz, daß alle Grundfreiheiten gleich verteilt werden. Zum
anderen der Sozialstaatsgrundsatz, daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheit
nur zulässig sind, wenn Chancengleichheit für jedermann besteht und die am
wenigsten Begünstigten des Wettbewerbs den größten Vorteil daraus haben, d.h.
es muß eine Umverteilung stattfinden.
Wettbewerbstheorien
Parallel zu den politischen Begründungen haben sich die aus ihnen folgenden
Wettbewerbstheorien entwickelt.
Der dynamische Wettbewerb der Klassik
Aus ihren Erfahrungen mit den feudal-merkantilistischen Fesseln war die
Konzeption der Klassiker, wie A. Smith und D. Ricardo, von der freien
Konkurrenz entstanden. Für sie war der freie Wettbewerb ein unbeschränkter, mit
der Freiheit als Ziel in sich. Wettbewerb ist hier ein Verfahren
herrschaftsfreier, gesellschaftlicher Koordination, das eine optimale Synthese
aus den Zielen Freiheit, Gleichheit und Wohlstand für alle garantiert. Die
Aufgaben des Staates bestehen neben der Sicherheitspolitik lediglich in der
Bereitstellung einer funktionsfähigen Rechtsordnung, in deren Rahmen jedermann
seine Interessen frei verfolgen und sein Kapital im Wettbewerb einsetzen kann.
Die Ergebnisse dieses Modells sind die Verteilung des Sozialprodukts nach dem
Leistungsprinzip, Bedarfsbefriedigung durch dezentrale Lenkungsmechanismen und
Konsumentensouveränität, d.h. Angebot nach den tatsächlichen Bedürfnissen und
nicht nach nationalen Prestigeprojekten.
Die Kritik an diesem Modell besteht in der unzureichenden sozialen Kontrolle
des Wettbewerbs zur Vermeidung von verdeckten Qualitätsminderungen und
Täuschung der Marktgegenseite. Es gibt die Gefahr der Selbstbeseitigung des
Wettbewerbs.
Das neoklassische Wettbewerbsmodell
Hierbei handelt es sich um ein statisches Gleichgewichtsmodell, daß den
Endzustand bei vollständiger Konkurrenz beschreibt. Seine Bedingungen wurden in
mathematischen Modellen deduktiv abgeleitet und 1921 von F.H. Knight
formuliert: Rationales Verhalten aller Martkteilnehmer, vollständige
Markttransparenz, unendlich schnelle Reaktionsgeschwindigkeit aller
Marktteilnehmer, vollständige Mobilität der Produktionsfaktoren, unendlich
viele Marktteilnehmer, freier Marktzutritt etc..
Schon dieser Ausschnitt zeigt die Grenzen dieses Modells. Es beruht auf rein
theoretischen überlegungen, ist völlig realitätsfremd, seine Bedingungen lassen
sich nicht auf administrativem Wege erreichen und im Optimum darf es nicht
möglich sein, den Wohlstand zu erhöhen. Folglich läßt sich eine vollständige
Konkurrenz nicht verwirklichen.
Workable competition als second best
Aus diesem Dilemma, der nie zu erreichenden vollständigen Konkurrenz, sollte
die Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs helfen. John Maurice Clark suchte
im Jahre 1940 mit seinem Aufsatz 'Toward A Concept of Workable
Competition' einen Ausweg. Er wollte die Unvollkommenheit der Märkte durch
neu zu schaffende Unvollkommenheiten, sogn. 'Gegengifte',
ausgleichen. Diese 'Gegengifttheorie' basiert auf der Erfahrung, daß
die Beseitigung von Unvollkommenheiten nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen
führt. So wurde z.B. in Deutschland und den USA versucht, die Markttransparenz
durch ein Preismeldeverfahren zu erhöhen. Dies führte aber keineswegs zu einer
Erhöhung der Wettbewerbsintensität. Bei Ungewißheit über das Verhalten der
Konkurrenten nimmt die Neigung zum friedlichen Parallelverhalten ab. Die
positive Bewertung gewisser Marktunvollkommenheiten war das Neue bei Clark.
Dieses Modell hält aber noch am Ideal der vollständigen Konkurrenz fest. Das
Problem besteht in der Definition, was ein positiver ökonomischer Zustand ist,
an dem sich dann die Wettbewerbspolitik mit ihren 'Gegengiften'
ausrichten kann. Die Industriestrukturen entfalten sich nicht mehr im
Wettbewerb, sondern werden festgelegt.
Effective Competition
Dieses Konzept der Wettbewerbsfreiheit, welches aus der Kritik an der
Harvard-School entstand, versteht Wettbewerb als Entdeckungsverfahren und
knüpft an die freie Konkurrenz im klassischen Sinne an. Im Jahre 1961 brach J.
Clark mit seiner Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs und suchte die
Schumpertsche Theorie der Innovation in die allgemeine Wettbewerbstheorie zu
integrieren. Da Unvollkommenheitsfaktoren für den technischen Fortschritt als
unabdingbar erkannt waren, wurde die vollständige Konkurrenz nicht länger als
wünschenswertes Ziel angestrebt.
Der Wettbewerb wird als dynamischer Prozeß gesehen, der durch eine nie
abgeschlossene Vorstoß- und Verfolgungsphase charakterisiert ist.
Pioniergewinne aufgrund temporärer Vorzugsstellungen sind sowohl Folge als auch
Voraussetzung für den Wettbewerb, um dem Unternehmen einen Anreiz zur
Initiative zu geben. Das Zentrale Problem dieser Theorie ist die Unterscheidung
von wünschenswerten und unerwünschten Marktunvollkommenheiten. Ein Zielkonflikt
von 'Freiheit des Wettbewerbs' und 'ökonomischer
Vorteilhaftigkeit' wird verneint, was sich nach Hoppmann empirisch
überprüfen läßt.
Chicago-School
Die Chicago-School entstand wie das Konzept der Wettbewerbsfreiheit in der
Auseinandersetzung mit der Harvard-School. Es basiert auf der Leugnung
empirisch nachweisbarer Zusammenhänge zwischen Marktstruktur, Marktverhalten
und Marktergebnissen. Daher hat sich der Staat weitgehend aus dem Wettbewerb
herauszuhalten. Legitimes Ziel der staatlichen Wettbewebspolitik ist einzig die
Vermehrung der allgemeinen Wohlfahrt und die Steigerung der Effektivität der
Unternehmen. Der Staat hat sich auf die Bekämpfung künstlicher Marktzutrittsschranken
wie Kartelle zu beschränken. Unternehmenszusammmenschlüsse und vertikale
Wettbewerbsbeschränkungen werden grundsätzlich positiv beurteilt, da sie die
Effektivität der Unternehmen und die allgemeine Wohlfahrt fördere.
Definition des Wettbewerbsbegriffes
Synonym für Wettbewerb läßt sich das Wort Konkurrenz verwenden. Konkurrenz
bedeutet das Zusammentreffen zweier Tatbestände oder Möglichkeiten.
übertragen auf den Wirtschaftsprozeß ist darunter eine marktbezogene
Rivalitätsbeziehung zwischen mehreren Wirtschaftssubjekten zu verstehen, der
das erwerbsorientierte Streben von Anbietern und Nachfragern nach
Geschäftsbeziehungen mit Dritten zugrunde liegt. Es handelt sich hiernach um
einen Verfahrensbegriff ohne inhaltliche Festlegung. Der so gesehene Wettbewerb
muß inhaltlich ausgefüllt werden. Dazu dienen die oben beschriebenen Theorien
und die auf ihnen basierende Wettbewerbspolitik. Die Wettbewerbspolitik selbst
muß verfahrensneutral sein, d.h. die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen jedem
den Zugang zum Wettbewerb gewährleisten, niemanden unsachlich bevorzugen oder
benachteiligen und darf die Ergebnisse des Wettbewerbs nicht vorwegnehmen.
Wettbewerbswidrige Strukturen, wie staatliche Monopole etc., müssen immer
wieder neu begründet werden.
Warum Wettbewerb? - Aufgaben und Funktionen eines Wettbewerbssystems
Die Aufgabe des Wettbewerbs ist die dezentrale Steuerung der Wirtschaft zur
Optimierung der einzel- und gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt. Er erfüllt dabei
mehrere Funktionen.
Durch die Inaussichtstellung eines erhöhten Gewinns bei optimaler
Marktanpassung wird eine Anreizfunktion geschaffen. Der Wettbewerb verbessert
die qualitative und quantitative Marktversorgung, führt durch
Rationalisierungsdruck zu Ressourceneinsparung, der technische Fortschritt wird
gefördert und die betriebliche und gesamtwirtschaftliche Anpassungsflexibilität
gesteigert. Es werden inflexible Strukturen verhindert, was zu einer geringeren
Konjunktur- und Strukturanfälligkeit führt. Die Einkommen sind leistungsbezogen
und entsprechen den Knappheitsverhältnissen. Nichtgefragte Leistungen werden
nicht belohnt.
Neben diesen ökonomischen Funktionen hat der Wettbewerb noch eine
gesellschaftspolitische Funktion. Er sichert die Wahrnehmung individueller
Freiheiten und streut ökonomische Macht als Voraussetzung zur Erhaltung einer
freiheitlichen Gesellschaftsordnung.
Das Gegenstück zur dezentralen Steuerung der Wirtschaft ist eine ex
ante-Koordination der Wirschaftspläne durch zentrale Institutionen.
Das Leitbild der EU von einem Wettbewerbssystem und seine Normierung
Art. 85, 86, 92 I EGV: Die Ausgestaltung des Vertragszieles aus Art. 3 g EGV
Art. 3 g EGV fordert die Errichtung eines Systems , das den Wettbewerb
innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt. Diese
Zielvorstellung steht in engem Zusammenhang mit dem Gebot des Art. 2 EGV, eine
harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft zu
fördern. Näher bestimmt wird dieses Ziel durch die Wettbewerbsregeln in Kapitel
1 des Titel V EGV.
Zentrale Vorschriften dieses Abschnittes sind die Art. 85, 86, 92 I EGV. Sie
sind die einzigsten Normen mit direkter Außenwirkung, da sie ein umfassendes
Verbot beinhalten. Sie stellen damit auch die effektivsten Instrumente zum
Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen dar.
Kartellverbot
Das Kartellverbot aus Art. 85 I EGV verbietet alle Verträge und abgestimmten
Verhaltensweisen von Unternehmen sowie Beschlüsse ihrer Vereinigungen, die den
Wettbewerb verhindern, einschränken oder verfälschen. Es folgt ein Katalog mit
Regelbeispielen dieser Verbote, der einige typische Einschränkungen oder
Verfälschungen des Wettbewerbs umschreibt. Der Katalog stellt aber keine
abschließende Aufzählung dar, wie aus dem einleitenden Wort 'insbesondere'
zu schlußfolgern ist. Im Einzelnen sind dies die Festsetzung von Preisen und
Geschäftsbedingungen; die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des
Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investition; die Aufteilung der
Märkte oder Versorgungsquellen; die Diskriminierung von Handelspartnern sowie
Kopplungsgeschäfte.
Das Verbot solcher Verträge und Verhaltensweisen bezieht sich im Gegensatz zum
§ 1 des deutschen GWB nicht nur auf horizontale sondern auf alle Verträge und
Verhaltensweisen, also auch auf vertikale.
Durch später zu besprechende Ausnahmeregelungen nach Art. 85 III EGV kann
dieses Verbot durchbrochen werden.
Mißbrauchsverbot einer Monopolstellung
Weiter ist in Art. 86 EGV die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden
Stellung verboten. Es folgt ein kurzer Katalog mit Regelbeispielen für
mißbräuchliche Ausnutzungen, der aber keine abschließende Umschreibung der
verbotenen Verhaltensweisen oder eine Definition enthält. Zur Auslegung des
Mißbrauchsbegriffes wird auf eine inzwischen anerkannte Interpretationsmethode
zurückgegriffen. Es sind Geist, Aufbau, und Wortlaut sowie System und Ziele des
Vertrages zu berücksichtigen. Damit wird auf das Leitbild der EU von einem
Wettbewerbssystem zurückgegriffen. Auf dieses wird im 2. Abschnitt genauer
eingegangen. Nach gefestigter Rechtsprechung umfaßt der Mißbrauch
'Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung, die die
Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen
der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die die
Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen
Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindern, welche von den Mitteln
eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der
Leistungen der Marktbürger abweichen.'
Auch eine Definition für eine beherrschende Stellung wird nicht geliefert. Als
Auslegungshilfen kommen verwandte Vorschriften des Gemeinschaftsrechts,
insbesondere die Wettbewerbsregeln des EGKS-Vertrages und der Katalog für
Freistellungen vom Kartellverbot aus Art. 85 III EGV in Betracht, aber nicht
die teilweise im Widerspruch zueinander stehenden nationalen Vorschriften der
Mitgliedstaaten. Nach dem Europäischen Gerichtshof ist mit beherrschender
Stellung die 'wirtschaftliche Marktstellung eines Unternehmens gemeint,
die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines Wettbewerbs auf
dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft,
sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern
gegenüber in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten.'
Das Mißbrauchsverbot trägt, im Gegensatz zum Kartellverbot des Art. 85 EGV,
absoluten Charakter. Eine Freistellung ist prinzipiell ausgeschlossen, soweit
das Gemeinschaftsrecht nicht selbst in Art. 90 II EGV das Verbot für
unanwendbar erklärt.
Staatliche Beihilfen
Als letztes direkt wirkendes Verbot untersagt Art. 92 I EGV staatliche
Beihilfen, die den Wettbewerb 'verfälschen'. Der Begriff
'Beihilfe' ist weit zu verstehen, um alle Wettbewerbsverfälschungen,
und nicht nur Subventionen, durch die Mitgliedstaaten zu erfassen. Auf das
Merkmal der Verfälschung wird im 2. Abschnitt näher eingegangen. Ansonsten
überläßt es die vorsichtige Formulierung des Art. 92 I EGV der Rechtsprechung
und der Entscheidungspraxis der Kommission die Unvereinbarkeit festzulegen.
Die Zwischenstaatlichkeitsklausel
Gemeinsames Kriterium dieser Verbote ist die Eignung zur Handelsbeeinträchtigung
zwischen den Mitgliedsstaaten. Diese Zwischenstaatlichkeitsklausel hat die
Aufgabe den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts von demjenigen des
innerstaatlichen Rechts abzugrenzen. Der Begriff des zwischenstaatlichen
Handels umfaßt den gesamten Wirtschaftsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten.
Darunter wird nicht nur der Warenverkehr, sondern auch der
Dienstleistungsverkehr verstanden, wie etwa Bankdienstleistungen und
Zahlungsverkehr, Versicherungen sowie die Niederlassungsmöglichkeit eines
Unternehmens in einem anderen Mitgliedstaat.
Die Bedeutung der Zwischenstaatlichkeitsklausel ist heute nur noch gering, da
die Rechtsprechung praktisch jede Maßnahme verbietet, die Handelsschranken im
Gemeinsamen Markt schafft oder die vom Vertrag gewollte, gegenseitige
Durchdringung der Märkte erschwert.
Die Charakterisierung des Wettbewerbs als 'unverfälscht'
Daß es sich beim Leitbild der Europäischen Union um ein Marktsystem mit
Wettbewerb handelt, muß eigentlich nicht mehr festgestellt werden. Die
konkretere Einordnung innerhalb der verschiedenen Wettbewerbsvorstellungen
bleibt aber noch näher zu erläutern.
Die Zielvorstellung des Art. 3 g EGV, ein System des unverfälschten Wettbewerbs
zu errichten, steht in engem Zusammenhang mit dem Gebot des Art. 2 EGV, eine
harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft zu
fördern. Art. 85, 86 EGV sind in diesem Lichte auszulegen und so anzuwenden,
daß sie einen wirksamen Wettbewerb herbeiführen. Ergänzt wird Art. 3 g EGV
durch die Präambel des Vertrages, die ein einverständliches Vorgehen verlangt,
um einen redlichen Wettbewerb zu gewährleisten. Die Festlegung auf ein Prinzip
des unverfälschten Wettbewerbs öffnet das Tor für ordoliberale Vorstellungen.
Wir sind also wieder in der Freiburger Schule der schon erwähnten ökonomen
Walter Eucken und Alfred Müller-Armack. So sah es Alfred Müller-Armack auch
selbst als er schrieb: 'Der Vertrag enthält kein ausdrückliches Bekenntnis
zur Sozialen Marktwirtschaft. Diese ist zur Zeit der Abfassung des
Rom-Vertrages noch viel zu sehr als deutsche Spezialität angesehen worden, .
Aber was den Inhalt des Gemeinsamen Marktes angeht, so unterliegt es keinem
Zweifel, daß er im Prinzip allein durch die Anwendung der Grundsätze der
Sozialen Marktwirtschaft gestaltet werden kann.'
Der Wettbewerb soll nicht als Institution , wie etwa bei Adam Smith, geschützt
werden, sondern als Instrument zur Erreichung optimaler wirtschaftlicher
Ergebnisse eingesetzt werden. Nach Erhard Kantzenbach ist dies bei beweglicher
Nachfrage (durch Produkthomogenität und Markttransparenz) und großer
Leistungsfähigkeit der Unternehmen (durch hohe Marktanteile im weiten Oligopol)
zu erwarten.
Der Begriff der Wettbewerbsverfälschung wird im EG-Vertrag in einem doppelten
Sinne gebraucht. Zum einen wird er in Art. 85 I EGV für Kartelle verwendet.
Hier ist er eng zu verstehen. Zum anderen muß der in Art. 3 g EGV verwendete
Begriff der Wettbewerbsverfälschung weiter als der in Art. 85 I EGV verwendete
Begriff sein, da Art 3 g EGV sich primär auf Art. 85 I EGV bezieht. Der Begriff
der Wettbewerbsverfälschung in Art. 92 I EGV muß auch in diesem weiten Sinne
ausgelegt werden. Das Verbot der Wettbewerbsverfälschung umfaßt also die
Beseitigung und die Beschränkung des Wettbewerbs selbst, darüber hinaus die
Wettbewerbsverfälschung im engeren Sinne zwischen den Unternehmen.
Gebunden durch das Verbot wird die Gemeinschaft selbst. Das System des
unverfälschten Wettbewerbs stellt einen allgemeinen Grundsatz des
Gemeinschaftsrechts dar. Weiter werden die Mitgliedstaaten, z.B. in Art. 92 I
EGV und die Unternehmen, wie in Art. 85 I oder 86 EGV gebunden. Dieser
Grundgedanke zieht sich durch den gesamten Vertrag.
Diesem Prinzip müssen jedoch Grenzen gesetzt sein. Verstehen wir unter der
Wettbewerbsverfälschung jede staatliche Maßnahme, welche sich auf den
Wettbewerb auswirkt, würde das umfassende Verbot letztlich alle Unterschiede
zwischen den nationalen Rechtsordnungen verbieten.
Eine Grenze könnte der Anwendungsbereich des EGV unter dem Stichwort
Zwischenstaatlichkeitsklausel sein. Doch abgesehen von der schweren
Konkretisierbarkeit dieses Begriffes, enthält der EGV allgemeine Regeln, die
deutlich über den Kreis der durch den Vertrag geregelten Materien hinausgehen
und sich auf die Gesamtheit der Politik der Mitgliedstaaten beziehen können.
Die Unterteilung in 'künstliche' und 'natürliche'
Wettbewerbsverzerrungen könnte eine weitere Grenze darstellen, da nach dem
liberalen Wirtschaftsmodell nur künstliche Wettbewerbsverzerrungen verboten
sind. Jedoch baut Art. 2 EGV gerade auf der Tatsache auf, daß es natürliche
Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten gibt. Außerdem will der Vertrag
gerade die Unterschiede, wie z.B. der Arbeitsbedingungen, abbauen, auf denen
sich die Theorie der natürlichen Wettbewerbsbedingungen stützt.
Schließlich können in zahlreichen Bereichen die nationalen Allgemeininteressen
so stark sein, daß ein generelles Verbot staatlicher Maßnahmen ausgeschlossen
werden muß. Und hier liegen auch die Schranken des Verbotes. Danach können
diese Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts durchbrochen werden, wenn
überragende europäische oder nationale Allgemeininteressen dies zwingend erfordern.
Es hat also eine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit den üblichen Komponenten der
Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zwischen den Grundprinzipien
des Gemeinschaftsrechts und den Allgemeininteressen stattzufinden.
Zum Instrumentarium für die Ausgestaltung dieser ordoliberalen Vorstellungen
wird auf den späteren Abschnitt 'Durchsetzung des Leitbildes'
verwiesen.