Die Kurden: Ein Überblick
Die Kurden zählen zu den indogermanischen Völkern. Mit 25-30 Millionen
Menschen sind sie weltweit das größte Volk ohne eigenen Staat. Ihr
Siedlungsgebiet wurde nach dem 1. Weltkrieg zwischen den neu entstandenen
Staaten Syrien, Irak, Türkische Republik und Iran aufgeteilt. Eine
kurdische
Streuminderheit lebt in der ehemaligen Sowjetunion. Das alte Siedlungsgebiet
Die unwegsame Gebirgsgegend ihres Siedlungsgebietes bildete seit jeher eine
natürliche Grenze zwischen dem Osmanischen und dem Persischen Reich, die
schlecht kontrollierbar ist. Daher blieben die regionalen kurdischen Herrscher
lange Zeit weitgehend unabhängig. Offene Grenzen ermöglichten ihnen den
ungehinderten Übertritt von einem Reich ins andere. Die kurdische Bevölkerung
empfand sich bis ins 20. Jahrhundert vor allem als Angehörige bestimmter
Stämme. Zweites identitätsstiftendes Element war die Zugehörigkeit zum Islam
vorwiegend sunnitischer Prägung.
Ein kurdisches Nationalgefühl entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert unter
dem Einfluss europäischer Ideen und als Reaktion auf die Zentralisierungs- und
Assimilierungsbestrebungen der jeweiligen Staaten. Als nach dem ersten
Weltkrieg das Territorium des Osmanischen Reiches aufgeteilt wurde, stimmte nur
ein Teil der Kurden mit der Forderung nach einem kurdischen Staat überein,
andere Stammesführer sahen ihre Machtinteressen durch die Loyalität zu den neu
entstandenen Nationalstaaten garantiert. Die innerkurdische Zerrissenheit
verhinderte einen gemeinsamen Kampf um einen eigenen Staat oder zumindest eine
Autonomie für die kurdisch besiedelte Region.
So kam es zu verschiedenen Zeiten in den einzelnen Staaten immer wieder zu
Aufständen, während derer die jeweils kämpfenden Kurden sich in den meisten
Fällen von einem der Nachbarstaaten unterstützen ließen, selbst wenn diese
ihrerseits die innerhalb ihrer eigenen Grenzen lebenden Kurden unterdrückten.
Kurden in der Türkei 1923 schlossen die Türkei als unabhängige Republik und die
Alliierten des Ersten Weltkriegs den Vertrag von Lausanne. Ursprünglich durch
den Vertrag von Sevres (1920) anerkannte Minderheiten, so auch die Kurden,
wurden nicht mehr berücksichtigt.
Fortan existierten in der Türkei offiziell nur noch die religiösen Minderheiten
der Juden, Armenier und griechisch-orthodoxen Christen. Die Kurden wurden
entsprechend des islamischen Nationenbegriffs mit allen anderen zwar
gleichfalls islamischen aber ethnisch und kulturell verschiedenen Gruppen wie
Tscherkessen oder Lasen als türkischer Staatsangehöriger der türkischen Nation
eingegliedert. Alle Moslems, die einen türkischen Pass besitzen und damit
türkische Staatsbürger sind, gelten automatisch als Türken. Kulturelle oder
ethnische Unterschiede werden geleugnet.
Diese Bezeichnung kennzeichnet zugleich die unteilbare Einheit von Staatsgebiet
und Staatsvolk bei - zumindest theoretischer - Garantie der Gleichberechtigung
aller Bürger. Diese starre Haltung aller bisheriger Regierungen in der Türkei
hat zu einem starken Assimilationsdruck und zu heftigen Aufständen geführt. Die
Worte Kurde und Kurdistan wurden aus allen Schulbüchern, Lexika und Landkarten
getilgt oder gelten nur noch für die Kurden in den Nachbarstaaten. Die
öffentliche Verwendung der Sprache ist verboten, ebenso sind dies kurdische
Kulturvereine und politische Parteien. Kurdische Schulen wurden nicht
zugelassen. Kurdische Zeitungen, Zeitschriften und Bücher werden immer wieder beschlagnahmt
oder verboten, Verlage geschlossen. Kurdische Familien- und Ortsnamen wurden
turkifiziert.
1934 wurde ein Gesetz erlassen, das die Zwangsumsiedlung solcher
Bevölkerungsgruppen, die nicht mit der nationalen Kultur verbunden sind,
rechtfertigt. Seit 1979 werden regelmäßige Razzien des Militärs in den
kurdischen Dörfern durchgeführt. Seit August 1984 führt die Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), in der Bundesrepublik mittlerweile verboten, einen
Guerillakrieg gegen militärische und zivile staatliche Einrichtungen, aber auch
gegen Kurden, die der Zusammenarbeit mit dem Staat bezichtigt werden. Dieser
Aufstand wird von der türkischen Regierung nicht mit politischen Mitteln unter
Einbeziehung der politisch arbeitenden kurdischen Opposition geführt, sondern
mit brutalem militärischen Einsatz, der keine Rücksicht auf die
Zivilbevölkerung nimmt.
Dem Bericht einer Untersuchungskommission des türkischen Parlamentes von 1998
zufolge wurden insgesamt 3.428 Dörfer zerstört und drei Millionen Kurden zu
Flüchtlingen. Allein das kurdische Siedlungszentrum in der Türkei Diyarbakir
nahm ca. eine Million Flüchtlinge auf. 5.500 Zivilisten wurden in diesem
brutalen Krieg getötet, 17.000 verletzt. 2.200 von 5.000 Schulen und 740 von
850 Gesundheitsstationen wurden geschlossen. Hinzu kamen Maßnahmen des Staates
wie Weideverbot, Verminung der Almwege. Die Politik im Staat wird faktisch vom
Nationalen Sicherheitsrat diktiert, der zu einer Art Staat im Staat geworden
ist. Die Zivilbevölkerung ist dem Druck der auf Zusammenarbeit drängenden
radikalen Guerilla und der mit Ausnahmerechten ausgestatteten türkischen
Behörden und Militärs ausgesetzt.
Sie steht zwischen den Fronten. Hunderte sitzen wegen Unterstützung der PKK
oder wegen des bloßen Verdachts darauf im Gefängnis. Im Februar 1994 wurden
gewählte kurdische Parlamentarier der DEP-Partei (Leyla Zana u.a.) inhaftiert,
kurdische Parteimitglieder und Journalisten wurden und werden verfolgt,
gefoltert oder von unbekannten Tätern ermordet. 1998 wurde auch die
Führungsspitze ihrer Nachfolgepartei HADEP verhaftet sowie etliche ihrer
Funktionäre. Kurden im Iran Auch im Iran müssen die Kurden, die zur iranischen
Sprachgruppe gehören, um ihre kulturelle Autonomie kämpfen, auch dort gelten
sie 'nur' als Iraner. Obwohl der kulturelle und sprachliche
Unterschied im Iran nicht so gegensätzlich ist wie zwischen dem türkischen
(Turksprache) und arabischen (semitische Sprachgruppe) Kulturkreis, resultiert
der Konflikt auch in diesem Land nicht nur aus dem Unabhängigkeitsstreben der
Kurden gegen den staatlichen Zentralismus und die Unterdrückung der kurdischen
Sprache.
Er ergibt sich auch aus dem beträchtlichen religiösen Gegensatz zwischen den
schiitischen Iranern und den sunnitischen Kurden. Dieser Gegensatz spielt
besonders unter dem Mollah Regime, von dem sich die Kurden anfangs sogar
Autonomie versprochen hatten, eine große Rolle. Die Republik Mahabad Die
einzige autonome Republik der Kurden, die mit Unterstützung der Sowjetunion in
den 40er Jahren im iranischen Mahabad ausgerufen worden war, wird bis heute in
allen Teilen Kurdistans als Modell kurdischer Selbstverwaltung idealisiert. Sie
nahm bereits nach einem Jahr (1947) ein gewaltsames Ende, nachdem sie durch den
Abzug der sowjetischen Truppen aus Azerbeidjan ihre Schutzmacht verloren hatte.
In der Folgezeit gab es immer wieder regionale Aufstände, gefolgt von
Deportationen und der Vernichtung ganzer Stämme. Im August 1979 verkündete
Khomeini den Heiligen Krieg gegen die Kurden.
Kurdistan wurde zum militarisierten Sperrgebiet, zu dem weder Journalisten noch
ausländische Delegationen Zutritt haben. Die sunnitischen Moscheen wurden
zerstört und die Jugendlichen in den Schulen umerzogen. Die kurdische
Opposition ging in den Untergrund; immer wieder werden iranische Kurdenführer
auch im Ausland Opfer von Mordanschlägen des iranischen Staatsterrorismus.
Kurden in Syrien Die Kurden bilden mit schätzungsweise einer Million
Angehörigen etwa 10 Prozent der Bevölkerung Syriens. Während sie bis Ende der
50er Jahre kulturelle Freiheiten genossen, begann um 1962 mit dem Erstarken der
panarabischen Ideologie und 1963 mit der Machtübernahme der panarabischen
Baath-Partei, die eine ethnische und kulturelle Eigenständigkeit von
Minderheiten leugnet, eine restriktive Kurdenpolitik. Sie fand ihren Ausdruck in
einer Sondervolkszählung, bei der schon 1962 fast 120.000 Kurden zu Ausländern
erklärt und damit aller Bürgerrechte beraubt wurden.
Die Zahl der ausgebürgerten Kurden liegt heute bei etwa 200.000. Sie können
keinen Pass beantragen, ihre Kinder nicht registrieren und einschulen lassen,
nicht legal heiraten, bekommen keine Anstellung im Staatsdienst etc. .
Ebenfalls auf Beginn der 60er Jahre geht die Politik des Arabischen Gürtels
zurück, die entlang der Grenze zur Türkei einen 15 km tief in syrisches Gebiet
hineinreichenden Streifen Land schaffen wollte, aus dem die ansässigen Kurden
aus- und regimetreue arabische Wehrbauern angesiedelt werden sollten. Präsident
Assad erklärte das Projekt 1976 offiziell als beendet. Es wird jedoch heimlich
fortgesetzt. Mittlerweile werden in Syrien kurdische Dorf-, Berg- und
Flussnamen durch arabische ersetzt. Auch die Kurden, die eine
Staatsangehörigkeit besitzen, genießen keine autonomen kulturellen Rechte.
Allerdings werden viele von ihnen stark in das staatliche Leben einbezogen,
vielfach sogar in privilegierten Stellungen eingesetzt, um den Präsidenten, der
einer religiösen Minderheit angehört, zu unterstützen. Syrien ist immer wieder
Zufluchtsland für kurdische Partisanenführer aus den Nachbarländern Irak und
Türkei gewesen.
Auch der Generalsekretär der PKK führte seine Operationen von Syrien aus. Dabei
ging es jedoch nicht um eine wirkliche Unterstützung kurdischer Rechte, sondern
wohl eher um das politische Kalkül Syriens gegenüber den Regierungen der
Nachbarstaaten. Als im Herbst 1998 die Türkei Syrien mit Krieg drohte, wenn es
seine Unterstützung für die PKK nicht einstellt, floh Öcalan ins Ausland.
Syrien erklärte, dass die PKK-Lager im Libanon und in Syrien geschlossen
werden. Am 12. November 1998 wurde PKK-Chef Öcalan bei der Einreise nach
Italien in Rom verhaftet und stellte einen Asylantrag. Kurden im Irak Der Irak
war der erste Staat mit einer beträchtlichen kurdischen Minderheit, der in
einem Verfassungsdokument 1958 die nationalen Rechte der kurdischen Bevölkerung
anerkannte:
Dieser Nation gehören Araber und Kurden an, die Verfassung garantiert ihre
nationalen Rechte im Rahmen des irakischen Gemeinwesens. Diese Rechte standen
jedoch nur auf dem Papier. 1970 kam es mit den 1968 an die Macht gekommenen
sozialistischen Baathisten zu einem Abkommen, das eine Autonomie nach einer
Übergangszeit von vier Jahren vorsah. Umgesetzt wurde es nicht. Gegen die
Kurden wurde eine Politik der Umsiedlung und Vertreibung, der Bombardements und
Arabisierung durchgeführt, die Widerstandskämpfe und eine Massenflucht von
Kurden in den Iran zur Folge hatte. In den 80er Jahren wurde ein beispielloser
Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden geführt. 1988 - während des 1.Golfkrieges
- wurde die kurdische Stadt Halabja mit Giftgas bombardiert. Mehr als 5000
Frauen und Kinder starben damals qualvoll an den Folgen des Giftgases.
Tausende erduldeten unter dem Baathregime des Präsidenten Saddam Hussein
Folter, Hunger, Gefangenschaft, Deportation und Massenbegräbnisse bei
lebendigem Leibe. Insgesamt wurden 4500 Dörfer, rund 90 Prozent der ländlichen
Region, völlig zerstört und dem Volk damit die materielle und kulturell-soziale
Lebensgrundlage geraubt. Nach der Befreiung durch die Alliierten des
Golfkrieges wurde für Irakisch Kurdistan durch die UNO-Resolution 688 eine
Schutzzone nördlich des 36. Breitengrades eingerichtet. Sie soll die Menschen
vor den Überfällen des irakischen Präsidenten Saddam Hussein schützen. Bis
heute (Stand: November 1998) existiert die Schutzzone, die alle sechs Monate erneut
bestätigt werden muss, weiter. Sie bietet die einzige Chance für die dort
lebenden Kurden, ihre Dörfer und Acker wieder nutzbar zu machen, eine eigene
Verwaltung aufzubauen. Im Mai 1992 konnten unter dem Schutz der Alliierten in
Irakisch-Kurdistan die ersten freien Wahlen stattfinden.
Die beiden großen Parteien, der Wahlsieger Demokratische Partei Kurdistans KDP
und die Patriotische Union Kurdistans PUK, einigten sich auf ein Patt (50:50),
die KDP trat außerdem Sitze an die Kommunisten, die Assyrer und die Ismalisten
ab. Gegenseitige Vorwürfe führten dann im Dezember 1993 zum Zerwürfnis zwischen
KDP und PUK, das in der Besetzung des Parlaments durch Peshmargas der PUK
gipfelte. Dies führte zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die im
Frühjahr 1994 eskalierten und zu einer Zweiteilung des Nordirak führten
(Nordwesten: KDP, Südosten: PUK). Im Sommer 1995 meldete auch die PKK Ansprüche
im Nordirak an; sie stellte sich an die Seite der PUK und gegen die KDP. Nach
einem Waffenstillstand (und auf Druck der USA) unterzeichneten die beiden
Parteien 1998 einen Friedensvertrag. Für das Frühjahr 1999 sind Wahlen
vorgesehen, die hoffentlich das bisher gespannte Verhältnis zwischen beiden
Parteien entkrampfen werden.
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