QUALITATIVE SOZIALFORSCHUNG
Was die Methoden der Sozialforschung betrifft, so kann man zwischen der quantitativen und der qualitativen Sozialforschung unterscheiden.
Während sich die quantitative Sozialforschung vor allem mit meßbaren Gegenständen und Statistiken beschäftigt, sucht die qualitative Sozialforschung nach den Motiven des Handelns und interpretiert Zahlen. Dadurch verläßt sie natürlich erzwungenermaßen den Bereich der exakten, konkreten Wissenschaft, doch sagen die Studien mehr aus und sie eher nachvollziehbar. Oft werden beide Methoden in einer Studie angewandt.
Entschließt man sich für das Anwenden der qualitativen Sozialforschung, muß im Vornehinein eine Nominaldefinition des zu untersuchenden Gegenstands formuliert werden, was sich oft als sehr schwierig erweist. (Diese Nominaldefinition kann sich natürlich von Fall zu Fall unterscheiden.)
Ein weiteres Problem ist die Operationalisierung - die Beobachtung muß standardisiert werden, damit man aus den vielen Ergebnissen etwas schließen kann.
Zum Erlangen von Daten können die verschiedensten Dinge herangezogen werden, wie zum Beispiel Tauf- und Sterberegister, Briefe, Beobachtung und Befragung, Experimente, Gesetzestexte, Erzählungen und Märchen oder Umfragen.
Vier der bekanntesten Sozialforschungen nach der quantitativen Methode seien im folgenden genannt:
die Studie über Selbstmorde von Emile Durkheim (1897)
'Polish Peasants' von Thomas und Znaniecki (1906 - 16)
'Die Arbeitslosen von Marienthal' von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld (1930er Jahre)
und die Hawthorne-Studie von Elton Mayo (1920er Jahre)
1. Suizidstudie
Der französische Soziologe Émile Durkheim untersuchte zwischen 1841 und 1872 die Akten über etwa 26000 Selbstmorde.
Dabei kam er natürlich zu vielen Resultaten, daher mußte er die Selbstmorde in verschiedene Kategorien einteilen; eine davon nannte er zum Beispiel 'Anomischer Selbstmord'.
Bei dieser Studie ergab sich das Problem der Nominaldefinition; Durkheim sah sich damit konfrontiert zu erklären, was man unter Selbstmord zu verstehen habe.
Für ihn waren dabei die beiden folgenden Punkte entscheidend:
1. daß der Tod selbst verursacht wurde und
2. daß der Selbstmörder bei seiner Tat bei klarem Verstand war.
Durkheim definierte Selbstmord dementsprechend als 'jeden Todesfall, der auf eine Handlung des Opfers selbst zurückzuführen ist, wobei das Opfer die Folgen seines Handlens kennt.'
In seiner Studie fand Durkheim bezüglich der Variablen Religion, Familie, politische Lage und Wirtschaftsform heraus, daß
sich Protestanten statistisch gesehen am häufigsten umbringen, während die Selbstmordrate bei Juden extrem niedrig ist;
Selbstmorde in Kleinfamilien wahrscheinlicher vorkommen als in Großfamilien;
finanzieller Wohlstand zu einer Steigerung der Selbstmordrate führt.
Der Begriff der Anomie wurde von Émile Durkheim in die soziologische Fachsprache eingeführt und meint eine Sozialstruktur, die
1. entweder durch einen Mangel an geltenden Verhaltensnormen oder
2. durch einander widersprechende Verhaltensnormen nicht stabil ist oder
3. ein (Ausnahme-)Zustand, in dem sich die Glieder einer Gesellschaft nicht mehr
normgerecht verhalten, weil die Normen den einzelnen nicht mehr die erwartete
Verhaltenssicherheit bieten können (z.B. Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen,
Glaubenskrisen, Revolutionen).
Auf die Stelbstmordstudie übertragen bedeutet das, daß die Befreiung von Normen und Zwängen auch eine Belastung darstellt; vor allem durch die erhöhte Erwartungshaltung der Gesellschaft.
Durkheim meinte, daß das Gefühl der Anomie in der Welt des modernen Handelns sehr häufig sei.
2. Polish Peasants
(englisch für 'polnische Bauern')
Diese Studie wurde zwischen 1906 und 1916 von den beiden Soziologen Thomas und Znaniecki durchgeführt, als der Bevölkerungszuwachs in den Vereinigten Staaten Amerikas besonders stark war.
Unter den Einwanderern waren damals besonders viele Polen; die meisten darunter waren einfache Kleinbauern, die in den Vereinigten Staaten ganz von vorne anfangen wollten und noch an den amerikanischen Traum glaubten.
Thomas und Znaniecki waren an den Problemen interessiert, die sich für die Immigranten daraus ergab, daß sie aus einem völlig anderen Kulturkreis stammten, eine andere Sprache sprachen als die Amerikaner und sie bisher ganz andere Berufe ausgeübt hatten.
Sie entschieden sich, diese Studie nicht mittels Befragungen oder gar Experimenten durchzuführen. Sie konzentrierten sich stattdessen auf den Briefverkehr der Polen (die Methode der Briefforschung wurde zum Beispiel bei Norbert Elias' 'Mozart' angewandt, der sich mit den Briefen, die Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater Leopold Mozart geschrieben hatte befaßte), und schlossen daraus Ergebnisse über deren Reaktionen auf die neuen sozialen Gegebenheiten.
Was sie dabei herausfanden, war keinesfalls überraschend: die Polen waren ganz und gar nicht im Einklang mit den Sitten der Vereinigten Staaten.
Sie wußten nicht ganz, was ihre amerikanischen Arbeitgeber von ihnen erwarteten.
Der Begriff der 'vorauseilenden Bestimmung einer sozialen Situation' ging als Thomas-Theorem in die Geschichte der Sozialforschung ein.
3. Die Arbeitslosen von Marienthal
Diese Studie hat Maria Jahoda mit Unterstützung von Paul Lazarsfeld im niederösterreichischen Marienthal der 1930er Jahre durchgeführt, als dort die Industrie zusammenbrach; die Arbeitslosenquote betrug damals 26%!
Interessant an dieser Studie ist, daß die 15 daran beteiligten Psychologen und Soziologen zuerst versuchten, das Vertrauen und die Freundschaft der zu Befragenden zu gewinnen. So sammelten sie zum Beispiel Kleiderspenden oder hielten Nähkurse ab, um die Betroffenen auch wirklich kennenzulernen.
Man hatte eine Liste von offenen Fragen zusammengestellt, die dann an die Marienthaler gestellt wurden. Dabei ergab sich das Problem des Operationalisierens, da durch die Art der offenen Fragestellung klarerweise keine meßbaren Daten erlangt werden können.
Unter anderem wollte Jahoda herausfinden, ob das Anspruchsnivau von Menschen sinkt, wenn sie über längere Zeit gezwungen sind, mit wenig bis gar keinem Geld auszukommen. Man entschloß sich hier für einen interessanten Weg: anhand der Weihnachtswünsche der Kinder wurde untersucht, ob sie ihre Wünsche angesichts der Situation niedriger schrauben.
Ein weiterer Punkt der Studie war die Untersuchung, wie sich die Tagesstruktur der Arbeitslosen im Vergleich zu vorher verändert hatte. Dafür wurden Faktoren wie die Gehgeschwindigkeit der Leute herangezogen. (Man kam zu dem Ergebnis, daß arbeitslose Männer deutlich langsamer gehen als beschäftigte.)
Ein weiteres Untersuchungskriterium waren die Biografien der Betroffenen; die Persönlichkeiten der einzelnen stellte sich als wichtiger Faktor für die Studie heraus.
Die Untersuchung 'Die Arbeitslosen von Marienthal' erlangte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten große Achtung und ging unter die Reihe der wichtigsten Sozialforschungen ein.
4. Hawthorne-Studie
Diese Studie entstand im Chicago der 1920er Jahre, als ein technischer Ingenieur im 'Hawthorne'-Elektrikwerk die beste Beleuchtung für Fließbandarbeit herausfinden sollte. Während seiner Arbeit im Werk fiel ihm auf, daß die Leistung der Gruppe ständig anstieg, unabhängig von seinen Versuchen.
Rein zufällig kannte er Elton Mayo, einen US-amerikanischen Soziologen, der später als Mitbegründer und Hauptvertreter der US-amerikanischen Betriebssoziologie bekannt wurde und sich für bessere soziale Beziehungen der Menschen im Arbeitsprozeß einsetzte. Er erzählte Mayo von diesem Phänomen und dieser zeigte sich daran so interessiert, daß er sich entschloß, die Ursachen dieser seltsamen Gegebenheit zu untersuchen.
Es stellte sich heraus, daß die Arbeitsleistung nur aus dem einfachen Grund anstieg, da das Arbeitsklima am Fließband immer besser wurde, je länger sich die Leute kannten.
Zu diesem Ergebnis kam Mayo, indem er eine Kontrollgruppe zusammenstellte, deren Mitglieder immer wieder ausgewechselt wurden, während die andere Gruppe immer zusammenblieb. Dabei stellte sich heraus, daß die Arbeitsleistung der Kontrollgruppe nicht an die der ersten herankam, wo die Arbeiter sich gegenseitig Aufmerksamkeit und persönliches Interesse schenkten.
Diese Studie ist ein Beispiel für qualitative Soziologie, die auf ein empirisches Forschungsergebnis zurückgreift.
Kunstsoziologie und qualitative Sozialforschung
Die Kunstgeschichte beruft sich eigentlich eher auf quantitative Forschungen, da Stilerkenntnisse immer rein auf Häufigkeit beruhen müssen. Als Beispiel hierfür sei Johann Joachim Winckelmann genannt, der deutsche Archäologe und Kunstwissenschaftler, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten Antikenstudien betrieb und als Begründer der wissenschaftlichen Archäologie gilt. Er mußte eine umfassende Sammlung antiker Skulpturen katalogisieren und konnte so die verschiedenen antiken Stile unterscheiden.
Das Problem, das durch die Anwendung der Methoden der quantitativen Sozialforschung auf dem Gebiet der Kunstsoziologie entsteht, ergibt sich alleine schon durch die Sprache: geht man daran, ein Kunstwerk zu beschreiben, klingt das selbstverständlich jedesmal völlig anders.
Die Kunstsoziologie kennt kaum derart umfangreiche Studien wie die oben genannten.
Pierre Bourdieu stellt in seiner Untersuchung 'Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftichen Urteilskraft' fest, daß der Geschmack von der Klasse des Kunstbetrachters abhängt und daß geschichtete Gesellschaften Kunst als Distiktionsmittel einsetzen.
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