Titel Der aristotelische Handlungsbegriff. Über einige seiner Voraussetzungen und Folgen bezüglich der Nikomachischen Ethik. 1)
Inhaltsverzeichnis
Abstract
I. Ontologische Voraussetzungen in der NE
Was außerhalb des Menschen existiert und was im Menschen existiert (Internes/Externes). Stabilität versus Veränderlichkeit. Bewegung und Ursache. Einzelgegebenes. Streben. Güter und Ziele. Die Güterhierarchie. Werte. Vollkommenheit.
II. Psychologische Voraussetzungen in der NE
Leib und Seele. Person und Charakter. Die Struktur und Funktion der Seele. Tüchtigkeit. Trefflichkeit. Feste Grundhaltungen. Lust und Unlust. Streben. Die Mitte.
III. Epistemologische Voraussetzungen in der NE
Wissen und Denken. Spekulation und Reflexion . Ahnlichkeit zwischen Seele und Erkenntnisgegenstand. Bekanntes. Der erforderliche Exaktheitsgrad. Einzelgegebenes und Allgemeines. Wissenschaften und Künste. Erkenntnis und Entschluß.. Bewegende Prinzipien. Hervorbringung. Syllogismen.
IV. Staatsphilosophische Voraussetzungen in der NE
Staatskunst. Werte (Edles und Gerechtes).Künste. Lob und Tadel. Erziehung.
V. Der Abriß einer aristotelischen Handlungsphilosophie
Außerer / innerer Aspekt. Veränderungen. Umstände und Zielsetzungen. Entscheiden und Ursache. Körper. Freiwilligkeit / Unfreiwilligkeit des Handelns. Ansichten (Wissen). Planen. Absichten. Willen. Handlungsfreiheit / Willensfreiheit.
VI. Der Aufbau der Ethik unter Verwendung dieser Voraussetzungen
Handeln im Bereich der Werte. Sittliche Grundhaltung. Sittliche Werte. Das Mittlere. Sittliche Einsicht. Wählen und Entscheiden.
Anmerkungen
Abstract
In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Nikomachische Ethik des Aristoteles in aufeinander aufbauende Strukturen zu zerlegen. Die zur Ethik hinführenden ontologischen, psychologischen, epistemologischen, staatsphilosophischen und handlungsphilosophischen Strukturen werden dabei als Voraussetzungen verstanden, nach deren expliziter Herausarbeitung der Aufbau der Ethik auf dann schon Vorgestelltes zurückgreifen kann. Die Komplexität des aristotelischen Werkes wird einerseits durch diese Gliederung sichtbarer, zerstört aber andererseits den argumentativen Zusammenhang des Werkes. Die hier verwendete strukturalistische Interpretationshypothese (Strukturen im logisch-mathematischen Sinne von Relationengebilden oder Relativen) ist wegen des knappen zur Verfügung stehenden Raumes nur angedeutet und bedarf der weiteren Ausarbeitung. Der Verfasser hat sich im Sinne einer Heuristik von einem grafischen Modell leiten lassen, das im Anhang beigefügt ist.
I Ontologische Voraussetzungen in der NE
Was außerhalb des Menschen existiert und was im Menschen existiert (Internes/Externes). Stabilität versus Veränderlichkeit. Bewegung und Ursache. Einzelgegebenes. Streben. Güter und Ziele. Die Güterhierarchie. Werte. Vollkommenheit.
Wenn sich die Metaphysik - und hierin speziell die Ontologie - mit dem Seienden ('insofern es ist', vgl. Metaphysikvorlesung, Kurseinheit 1 von J. Beckmann, S.27) als Erkenntnisgegenstand befasst, dann ist es nicht ohne Reiz zu fragen, von welchem Seienden Aristoteles in der NE seinen Ausgang nimmt (im Sinne von Grundgegebenheiten, vgl. I,7,S.18)3). Da es bei der NE letztlich um die sittlich handelnde Person gehen soll, wird sich das ontologische Interesse um eben diese Person ranken, einerseits ihr 'Inneres / Internes' betrachten und andererseits das in ihrer Macht stehende Vermögen zur handelnden Veränderung der (Um)Welt ('Außeres / Externes'). Es gibt nun Formen des Seienden, deren Seinsgrund solche Veränderungen zulässt und Formen des Seienden, deren Seinsgrund Veränderungen nicht zulässt (VI,2,S.154). Das in der NE interessierende Seiende ist ein solches, 'das Veränderungen zuläßt.' (VI,6,S.161), denn 'bei dem, was Veränderungen zuläßt, ist die Möglichkeit des Hervorbringens und die des Handelns zu unterscheiden.' (VI,4,S.157, vgl. auch VI,5,S.159, wo das Gebiet des Handelns explizit als veränderlich bezeichnet wird). Das Hervorbringen oder Schaffen durch praktisches (fachliches) Können in künstlerischem oder handwerklichem Bereich findet als Vorgang seine Sättigung, wenn das Werk, welches einen Wert in sich hat, in seiner charakteristischen Beschaffenheit 'schließlich da ist.' (II, 3,S.40) (externer Aspekt). Nicht so die Handlungen insbesondere im sittlichen Bereich: das Auftreten einer gerechten oder besonnenen Handlungsweise wird nicht qua Auftritt zu einer solcherart zu qualifizierenden, wenn nicht gleichzeitig die handelnde Person entsprechend sittlich verfasst ist, d.h. eine gerechte oder besonnene ist (interner Aspekt). Im Zusammenhang mit den die Handlung begleitenden Überlegungen benennt Aristoteles die Seinsbereiche, die Veränderungen zulassen und in diesem Sinne in unserer Macht stehen: 'Wir überlegen uns das, was in unserer Macht steht und verwirklicht werden kannDas sind nämlich die bekannten Ursachen: Natur, Notwendigkeit und Zufall, dazu Geist und alle menschliche Wirkenskraft.'(III,4,S.62, Hervorhebung vom Verfasser). Dem Veränderlichen gegenüber steht das Stabile, von dem wir zunächst nur so viel erfahren, daß es im Bereich des Handelns wie des Nützlichen nicht anzutreffen ist (II,2,S.36). Das Stabile (Unveränderliche) ist Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis (fällt also aus der hier abzuhandelnden Ethik heraus), ihm haftet die Eigenschaft der Allgemeinheit und Notwendigkeit an (vgl. VI,6,S.160), während dem sittlichen Tun und dessen Erfassen (durch Einsicht) das Besondere, der Einzelfall oder das Einzelgegebene zugeteilt ist (VI,8,S.163 oder auch VII,5,S.183).
Zurück zum Veränderlichen: Veränderung ist eine Form der Bewegung (vgl. die Physik des Aristoteles) und diese folgt auf ein bewegendes Prinzip (vgl. z.B. III,5,S.64), auf eine Ursache (VI,2,S.154) hin. Diese Ursache ist nun eine (Handlungs-)Entscheidung und diese wiederum ist ein von Überlegung gesteuertes Streben und eine Reflexion, die den Zweck oder das Ziel der Handlung aufzeigt (VI,2,S.154 ff.). Das Streben (als ein Vermögen der Seele, vgl. Kap.II) ist via Handlung auf Güter gerichtet (im Sinne eines Ziels), insofern diesen ein Wert zukommt (I,5,S.xx). Die Wertbestimmung erfolgt über die Methode der Zweck-Mittel-Überlegung und diese prägt den Gütern eine Ordnungsstruktur (im Sinne von 'x ist höherwertig als y') auf: dasjenige Gut, welches nicht mehr als Zweck für ein weiteres Gut interpretiert werden kann, ist das höchste oder vollkommenste Gut (das Endziel), es ist das Glück (I,5,S.xx). Die Vollkommenheit existiert aber nicht nur im Sinne des Maximalwertes in einer Werteordnung bzw. Ordnungsrelation, sie gehört vielmehr zum Wesen der Dinge, seien sie natürlicher oder geistiger Art: 'liegt es doch im Wesen der Dinge, die an das Wirken der Natur gebunden sind, möglichst vollkommen zu sein. Das gilt auch für das, was menschliche Absicht und jede Ursächlichkeit bewußt schafft und ganz besonders für das, was an das Wirken der höchsten Ursächlichkeit [an den Geist - nous - Anm.d.Verf.] gebunden ist.' (I,10,S.22 ff.). In welcher Seinsform das Glück auch immer existieren mag (Aristoteles wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die 'Platonischen Ideen' als eine solche Seinsform und damit auch gegen die Teilhabe-Relation): es kommt zu einer Verwirklichung dieses Gutes (I,4,S.13, I,9,S.20 sowie VI,5,S.160), wenn nur das Handeln und die handelnde Person entsprechend verfasst ist (vgl. Kap.VI).
Wir wollen die vorstehend erläuterten Tatbestände der aristotelischen Ontologie wie folgt in eine Struktur bringen:
Der hier (in der NE) also interessierende Ausschnitt der Welt ist zumindest von folgenden Entitäten (Gegebenem oder Grundgegebenheiten) bzw. Klassen (Trägermengen, im Sinne von Trägern der u.a. Relationen) von solchen 'bevölkert': (1) Lebewesen (z.B. Menschen, Tiere),
(2) Güter (z.B. Lust, Ehre, Erkennen/Einsicht, Tüchtigkeit, Glück), (3) Ziele (z.B.Geld, Flöten, überhaupt Werkzeuge), (4) Werte (z.B. sittlich Wertvolles, Edles, Gerechtes, Tapferes). Unter diesen Gegebenheiten gibt es jeweils ausgezeichnete (hervorgehobene) Elemente : unter den Lebewesen etwa Menschen (Personen von bestimmter Verfassung), unter den Gütern das Glück unter den Zielen das Endziel und unter den Werten der höchste.
Diesen Entitäten sind ferner Eigenschaften zugeordnet: Lebewesen etwa sind tätig, sie besitzen eine Seele, Menschen handeln, sind fähig zu erkennen und zu wissen (aber hierin auch: sich zu irren), Menschen vollbringen ihnen eigentümliche Leistungen; Güter sind hierarchisch geordnet, sie werden angestrebt (erworben, verwirklicht) von handelnden Personen, es gibt in der Hierarchie ein oberstes Gut, dies ist rein für sich erstrebenswert, da vollkommen, die Güter werden klassifiziert in äußere, seelische und leibliche (I,8,S.19); entsprechend sind auch die Ziele geordnet, es gibt ein oberstes Ziel, ein Endziel; ebenso sind Werte geordnet, Werte werden erwählt um ihrer selbst willen oder aber ein niedrigerer Wert wird erwählt um eines höheren willen (wenn der niedere zum höheren führt).
Neben diesen Eigenschaften des Gegebenen gibt es Relationen, in denen diese Entitäten zu anderen Entitäten (oder zu sich selbst) stehen: handelnde Menschen streben nach einem Gut; den Zielen gilt das gesamte menschliche Handeln und Entschließen; man gewinnt bzw. verwirklicht als Mensch Werte durch tätiges Bemühen, Werte sind an die dem Menschen eigentümliche Leistung geknüpft (d.h. an das 'Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element' (I,6,S.17)).
Als zentrale ontologische Aussage soll festgehalten werden: es gibt in der Welt der Güter, ein höchstes, vollkommenes Gut, welches im Sinne eines (End-)Ziels von Menschen durch tätiges Bemühen angestrebt wird, weil es für den Menschen einen (höchsten) Wert darstellt.
Die der NE zu Grunde liegende Ontologie sei also die Struktur (das geordnete n+8 tupel):
(M,G,Z,W,m,g,z,w,R1,R2,,Rn)
mit: M: Klasse der Lebewesen, G: Klasse der Güter, Z: Klasse der Ziele, W: Klasse der Werte, sowie den ausgezeichneten Elementen hieraus: m:= Menschen von bestimmter Verfassung, g:= Glück, z:= Endziel, w:= oberster Wert und den Relationen (Eigenschaften sind hierbei einstellige Relationen): R1:= handelnde Menschen verfolgen ein Ziel, R2:= alles Handeln strebt nach einem Gut; R3:= es gilt, daß dieses erstrebte Gut das Ziel ist; R4:= den Gütern sind Werte zugeordnet etc.pp. Es wäre sicherlich eine reizvolle formale Aufgabe, die Anzahl der Relationen derart zu minimieren, daß viele aus einigen Grundrelationen ableitbar würden. Das kann im Rahmen dieser Arbeit natürlich nicht geleistet werden.
II. Psychologische Voraussetzungen in der NE
Leib und Seele. Person und Charakter. Der Aufbau und die Funktion der Seele. Tüchtigkeit. Trefflichkeit. Feste Grundhaltungen. Lust und Unlust. Streben. Die Mitte.
Wir können nun in der in Kap.I vorgestellten Art und Weise fortfahren, eine Struktur aufzubauen für die aristotelischen Psychologie der NE (die allgemeine Psychologie des Aristoteles ist ja an anderer Stelle seines Gesamtwerkes ausgeführt).
Es gilt innerhalb der NE als ausgemacht, daß der Mensch aus Leib und Seele besteht (I,12,S.29 u. 30) bzw. aus ihnen seine ihm eigentümlichen Leistungen hervorbringt, d.h. neben der sittlichen Einsicht auch die Vorzüge des Charakters (VI,13,S.172). 'In jedem Falle wirdauch die Person des Handelnden in Betracht gezogen und gefragt, wer er ist und welche Voraussetzungen bei ihm gegeben sind.' (IV,4,S.97). Diese 'Vorzüge des Charakters', d.h. die Charakterlage bestimmen unmittelbar Leben, Handeln und Reden des Menschen und nur die Absichten (IV,13,S.113) sind stark genug, das Handeln in eine andere Richtung zu lenken. Die Wirkungen der Seele nach außen sind einmal irrationale Regungen und zum anderen Handlungen, jenachdem ob eine Entscheidungsinstanz mit vorhergehender Überlegungsphase aktiviert worden ist (Handlungen) oder nicht (Regungen, z.B. aus Angst oder Schmerz). Die Wirkungen der Seele nach innen beim Ausführen einer Handlung sind das Empfinden von Lust und Unlust (II,2,S.38).
Ohne Beschränkung der Allgemeinheit (für den vorliegenden Untersuchungszweck) dürfen wir den Allgemeinbegriff 'der Mensch' interpretieren als Klasse (Trägermenge der aufzubauenden Struktur) aller Menschen und diese bestehen dann aus der Klasse ihrer Leiber und Seelen (als Entitäten). Die Rolle des Leibes ist bei Aristoteles gegenüber der der Seele völlig in den Hintergrund gerückt: es ist die Seele, der Aristoteles ein eigenes Tätigsein und Handeln zuordnet (I,8,S.19); sie bedient sich bestenfalls des Körpers bei der Verwirklichung der Handlungen (vgl. III,1,S.55). So wird denn auch das oberste, dem Menschen erreichbare Gut (das Glück) eben durch dieses seelische Handeln erstrebt (I,13,S.30). Das ausgezeichnete Element der zu konzipierenden Struktur sei also die Seele (oder ein Teil der Seele), insofern sie für das in der aristotelischen NE abzuhandelnde sittliche Handeln relevant ist. Zu den Eigenschaften der Seele gehört einmal ihr Aufbau und zum anderen ihr Verhalten (Tätigsein). Zum Aufbau: neben dem rationalen Seelenteil (logos, Verstand, Fähigkeit zur Planung von Handlungen) gibt es als Antipoden den irrationalen Teil ('Ort' für Regungen wie Angst, Schmerz, Zorn etc.) sowie darüber hinaus den Übergangsbereich (Sitz des Strebevermögens, welches ermöglicht, daß der Mensch Ziele verfolgt und Güter anstrebt bzw. Werte verwirklicht) (I,13,S.30 ff.). 'Während beim sittlichen und unsittlichen Menschen die Seele als Einheit erscheint ist wegen der offenbaren Spannung zwischen rationalem und irrationalem Element beim Beherrschten und Unbeherrschten die Zweiteilung der Seele an ihnen gut abzulesen' (Anm. I,82 von E.A.Schmidt). Der rationale Seelenteil ist wiederum in zwei Sphären geteilt: mit einem Teil betrachten wir (mittels spekulativer Denkbewegungen) Formen des Seienden, deren Seinsgrund Veränderungen zulässt, mit dem anderen Seelenteil betrachten wir (mittels abwägender Reflexion) Formen des Seienden, deren Seinsgrund Veränderungen nicht zulässt (VI,2,S.154). Ausgehend von diesem Aufbau zeigt die Seele zum anderen ein bestimmtes Tätigsein (das hier im Rahmen des strukturalistischen Ansatzes als Relation rekonstruiert wird) im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit (I,6,S.17): 'Es gibt bekanntnlich dreierlei seelische Phänomene; irrationale Regungen, Anlagen und feste Grundhaltungen' (II,4,S.41). Andererseits verfügt die Seele über drei Vermögen, die das Handeln (und die Erkenntnis) steuern: die Sinneswahrnehmung, der Verstand und das Streben (VI,2,S.154). Darüber hinaus ' gelte die Annahme, daß die Grundformen, durch welche die Seele, bejahend oder verneinend, die Erkenntnis des Richtigen vollzieht, fünf an der Zahl sind, nämlich: praktisches Können, wissenschaftliche Erkenntnis, sittliche Einsicht, philosophische Weisheit und intuitiver Verstand.' (VI,3,S.156, Hervorh.v.Verf.).
Wir fassen wie folgt zusammen: Der Mensch ist charakterisiert durch die ihm eigentümliche Leistung: dem Tätigsein seiner Seele gemäß einem rationalen Element im Sinne der ihr wesenhaften 'Tüchtigkeit' (I,6,S.17).
Die der NE zu Grunde liegende Psychologie sei also die Struktur (das geordnete m+3 tupel):
(L,S,s,R1,R2,,Rm)
mit: L: Klasse der menschlichen Leiber, S: Klasse der menschlichen Seelen, sowie den ausgezeichneten Elementen hieraus: s:= Seelenteil, der für das sittliche Handeln relevant ist und den Relationen (Eigenschaften sind hierbei - wie oben - einstellige Relationen): R1:= s enthält einen rationalen/irrationalen/und Übergangsteil, R2:= s hat feste Grundhaltungenetc.
III. Epistemologische Voraussetzungen in der NE
Wissen und Denken. Spekulation und Reflexion . Ahnlichkeit zwischen Seele und Erkenntnisgegenstand. Bekanntes. Der erforderliche Exaktheitsgrad. Einzelgegebenes und Allgemeines. Wissenschaften und Künste. Erkenntnis und Entschluß.. Bewegende Prinzipien. Hervorbringung. Syllogismen.
Wissen (Erkenntnis des Richtigen) spielt in der NE - und hierin insbesondere für den Handlungsbegriff - eine Rolle, weil wir nur mittels des Wissens Herr über unsere Handlungen sein können (III,8,S.70). Menschliches Denken, welches zu Wissen führen kann, ist in der Seele verortet (vgl. die drei Vermögen der Seele, die das Handeln und die Erkenntnis des Richtigen gleichermaßen steuern: der Verstand, die Sinneswahrnehmung und das Streben; VI,2,S.154, s.Kap.II). Das Denken wiederum vollzieht sich in Denkbewegungen (VI,2,S.154) des rationalen Seelenteils. Diese Denkbewegungen hängen von den Formen des Seienden und deren Seinsgrund (VI,2,S.154) wie folgt ab: läßt der Seinsgrund keine Veränderungen der Denkgegenstände (Erkenntnisgegenstände) zu, so sind spekulative Denkbewegungen adäquat, läßt der Seinsgrund jedoch Veränderungen der Denkgegenstände zu, so ist abwägende Reflexion (Mit-sich-zu-Rate-gehen) als Denkbewegung adäquat. Es gilt also die Ansicht, ' daß der Erkenntnisvorgang in diesen Seelenteilen [gemeint ist der rationale und der irrationale Seelenteil, vgl. Kap.II, Anm.d.Verf.] sich auf Grund einer gewissen Ahnlichkeit und Verwandtschaft mit dem Erkenntnisgegenstand vollzieht.' (VI, 1,S.154, Hervorh. v. Verf.). Diese Ahnlichkeit machen wir uns zunutze, wenn wir bei der Erkenntnis von Bekanntem (I,2,S.9) als Grundgegebenheiten ausgehen und mittels sicherer Verfahren (Induktion und syllogistische Schlußweisen, vgl. VI,3,S.156 ff., sowie durch eine Art von Gewöhnung, vgl. I,7,S.18) daraus weitere Erkenntnis gewinnen. Von welchem Exaktheitsgrad (Genauigkeit) ist nun die Erkenntnis, die mit den o.a. 'sicheren' Verfahren gewonnen wird? Das kommt auf die zu erkennenden Grundgegebenheiten an (vgl. I,1,S.6): (a) Sind es Einzelgegebenheiten, so ist es dieses 'letztlich gegebene Einzelne, von dem es keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Wahrnehmung gibt - allerdings nicht so, wie bestimmte Sinne auf spezielle Objekte beschränkt sind, sondern so, wie wir in der Mathematik wahrnehmen, daß dieses letztlich Gegebene [zum Beispiel, Anm.d.Verf.] ein Dreieck ist.'(VI,9,S.166). (b) Ist es das Allgemeine, so gilt: die Eigenschaft der Allgemeinheit und Notwendigkeit haftet der wissenschaftlicher Erkenntnis an (vgl. VI,6,S.160) und fällt somit aus der hier abzuhandelnden Ethik heraus. Gegenstand des Handelns ist aber letztlich das Einzelgegebene (VI,8,S.163 und VII,5,S.183), welches durch Wahrnehmung (siehe oben (a)) eines bestimmten Vermögens (Vollzugs) der Seele erkannt wird, nämlich durch intuitiven Verstand (VI,3,S.156, vgl. auch Kap.VI). Wenn man die (praktische) syllogistische Schlußweise betrachtet, die einen allgemeinen Obersatz (propositio maior) verwendet, einen spezifischen zweiten Obersatz (propositio minor, dtsch.: Untersatz) und daraus den Schlußsatz (conclusio) herleitet, dann greift der intuitive Verstand an zwei Stellen ein: 'der intuitive Verstand im Rahmen des wissenschaftlichen Beweisverfahrens erfaßt die unveränderlichen und obersten 'Grenzmarken', während der intuitive Verstand, im Gebiete des Handelns sich entfaltend, das letztlich Einzelgegebene, Veränderliche und den Untersatz erfaßt.'(VI,12,S.170).
(S,W,s,R1,,Rn)
mit den Trägermengen: S:=Seiendes im Sinne der unter dem Kap.I Ontologie definierten Trägermengen, W:= Gewußtes im Sinne richtiger Aussagen über das Seiende; ausgezeichnete Elemente: s: Einzelgegebenes und Veränderliches; R1: Ahnlichkeitsrelation zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisvorgang, R2: abwägende Reflexion über Veränderliches etc.
IV Politikphilosophische Voraussetzungen in der NE
Staatskunst. Werte (Edles und Gerechtes).
Nachdem in der Psychologie des Aristoteles (insofern sie für die Nikomachische Ethik relevant ist), die menschliche Seele in ihrem Aufbau und in ihrem Vermögen dargestellt worden ist, erhebt sich die Frage nach dem Zusammenwirken der Seelen in ihrer übergeordneten Einheit, der Polis, dem Gemeinwesen, dem Staate, 'denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft.'(I,5,S.15). Für Aristoteles kommt mit dieser neuen Entität der Gemeinschaft kein neuer Ansatz der Verhaltenserklärung daher: die Staatskunst bedient sich der Ziele der ihr untergordneten (praktischen) Künste (etwa Kriegs-, Haushalts-, Redekunst) als Mittel und bestimmt für die Bürger dazu noch gesetzgeberisch, 'was zu tun und was zu lassen sei; so umfaßt ihr Endziel die Ziele aller anderen und dieses ihr Ziel ist daher für den Menschen das oberste Gut.' (I,1,S.6). Dieses umfassenden Ziel geht dabei natürlich nicht über das gefundene oberste Ziel, das Glück, hinaus, vielmehr ist es 'schöner noch und erhabener, wenn Völkerschaften oder Polis-Gemeinden so weit kommen.' (I,1,S.6). So ist es denn Aufgabe des Staatsmannes in der Ausübung der Staatskunst, 'die Bürger tüchtig [im Sinne der Tüchtigkeit der Seele, Anm.d.Verf.] und gehorsam gegen die Gesetze zu machen.'(I,13,S.29). Es sind gemäß Aristoteles die 'Erscheinungsformen des Edlen und Gerechten, die den Gegenstand der Staatswissenschaft bilden'(I,1,S.7). Und die angewandten Mittel des Gesetzgebers zur Erreichung dieser Erscheinungsformen (als Ziel) sind die der Gewöhnung (II,1,S.35) (IV,13,S.113). Die Aussicht auf Erfolg dieses Unterfangens ist gegeben, weil die Tüchtigkeit der Seele aus Verstandesvorzügen und Charaktervorzügen besteht; erstere werden durch Lernen erlangt, letztere durch besagte Gewöhnung (II,1,S.34).
Wie richten sich demgegenüber aber die Menschen ein in diesem Gemeinwesen, d.h. welche Lebensform (I,3,S.9) bilden sie aus? 'In der Mehrzahl entscheiden sich die Leute, d.h. die besonders grobschlächtigen Naturen, für den Genuß und finden deshalb Genügen an dem Leben des Genusses (a). Es gibt nämlich drei Hauptformen: erstens die soeben erwähnte (a), zweitens das Leben im Dienste des Staates (b), drittens das Leben als Hingabe an die Philosophie (c).' (I,3,S.9). Aristoteles legt ausdrückliches Gewicht auf (c) (siehe X,7-9,S.287 ff.).
V Der Abriß einer aristotelischen Handlungsphilosophie
Außerer / innerer Aspekt. Veränderungen. Umstände und Zielsetzungen. Entscheiden und Ursache. Körper. Freiwilligkeit / Unfreiwilligkeit des Handelns. Ansichten (Wissen). Planen. Absichten. Willen. Handlungsfreiheit / Willensfreiheit.
Welche Art von Entität ist menschliches Handeln im aristotelischen Ansatz? In meiner Rekonstruktion gehe ich von der Hypothese aus, daß es zunächst einen inneren und äußeren Aspekt des Handelns gibt. Der äußere Aspekt mag dabei zunächst einmal direkt (d.h. mit 'unbewaffneten' Sinnesorganen) Beobachtbares am Leib des Handelnden umfassen, also etwa Körperbewegungen, der innere Aspekt hingegen Zustände oder Vorgänge der Seele, also zunächst einmal direkt nicht Beobachtbares (Unbeobachtbares). Man kann hierzu das aristotelische Beispiel des Erlebnisses von Lust bzw. Unlust anführen, die jeder Tat folgt (II,2,S.38). Zum äußeren Aspekt von Handlungen gehören aber auch die in Kap.I erwähnten Veränderungen in der Welt, speziell in dem Weltausschnitt, der durch Einzelfälle charakterisiert ist und das letztlich Gegebene umfasst (vgl. VI,12,S.170). In diesem Bereich des Konkret-Einzelnen werden die wesentlichen Faktoren des Handelns verortet: die Umstände und Zielsetzungen (III,2,S.58). Diese gilt es denn auch in einer Handlungsanalyse offenzulegen (z.B. über einen Syllogismus, angedeutet in VI,13,S.173, aber auch im Rahmen einer Heuristik der sechs 'W-Fragen' wie sie in III,2,S.57 vorgestellt wird).
Wir hatten darüberhinaus in Kap.I auch festgehalten, daß Verändern eine Form der Bewegung ist und diese auf ein bewegendes Prinzip, eine Ursache, hin erfolgt. Als solche (als bewegende Ursache, nicht als Zweckursache, vgl. VI,2,S.155) war die Entscheidung identifiziert worden. Die Entscheidung wiederum wird kausal hervorgerufen durch seelische Phänomene (durch ein von Überlegen gesteuertes Streben und eine abwägende Reflexion über die Ziele der betreffenden Handlung, siehe Kap.I). Bei Aristoteles ist Handeln also ein verursachtes Geschehen und der Mensch selbst ist der Erzeuger dieser Handlungen (III,7,S.67). Da Handlungen - unter dem äußeren Aspekt zumindest - Körperbewegungen sind, ist nach der Spezifizierung dieser 'Erzeugung' zu fragen. An anderer Stelle (Kap.II) wurde ja schon darauf hingewiesen, daß die Rolle des Körpers bei Aristoteles (zumindest in seinen expliziten Beispielen für Handlungen) im Hintergrund verbleibt. So spricht er etwa vom '[bewegenden, Anm.d.Verf.] Prinzip, das die dienenden Glieder des Leibes bei solchem Handeln bewegt' (III,1,S.55). Auf eine noch ungeklärte Weise verursacht also Inneres (Vermögen der Seele) Außeres (Körperbewegungen). Ein in unserer Definition als 'äußerer Aspekt' charakterisiertes Tun beschreibt er etwa wie folgt: 'Beispiel: jemand packt die Hand eines zweiten und schlägt damit einen dritten, so hat der zweite nicht freiwillig gehandelt, denn der Schlag ist nicht in seiner Macht gewesen. Der Geschlagene kann der eigene Vater sein, der Täter aber kann wohl merken, daß es ein Mensch oder jemand in seiner Nähe war, dagegen kein Wissen davon haben, daß es sein Vater gewesen ist.' (V,10,S.141, Hervorhebung v.Verf.). Zwei wichtige Phänomene werden als interne Aspekte einer Handlung angesprochen: Freiwilligkeit und Wissen.
Befassen wir uns zunächst mit der Freiwilligkeit: 'Der Mensch handelt aber freiwillig. Denn das Prinzip, das die dienenden Glieder des Leibes bei solchem Handeln bewegt, ist im Menschen, und immer da, wo das bewegende Prinzip im Menschen liegt, steht es auch in der Macht des Menschen zu handeln oder nicht zu handeln. So ist denn dieses Handeln freiwillig.' (III,1,S.55). Das Wort 'freiwillig' (insofern von 'Willen' herrührend) ist in diesem Zusammenhang irreführend: es ist nicht die Freiheit des Willens (vgl. auch die Anm. III,1,S.314 von E.A.Schmidt), um die es Aristoteles geht, sondern die Freiheit der Handlung: sie zu tun oder sie zu unterlassen wie es in der Macht (vgl. Kap.X) des Handelnden steht und dies wiederum abhängig von seiner Entscheidung. Diese Entscheidung verlangt nun aber zutreffende Ansichten über bzw. ein Wissen (und dies ist der zweite o.a. Punkt nach der Freiwilligkeit) von den Einzelumständen (vgl. III,2,S.58). Dieses Wissen erlangt der Handelnde durch Überlegung (im Sinne einer 'Kalkulation', eines Abwägens von Einsatz und Gewinn, vgl. VI,1,S.55, bzw. durch Hin- und Herüberlegen bezüglich der Mittel, die zum Ziel führen oder den Zweck erfüllen, vgl. III,5,S.62 ff.). Andernfalls, d.h. ohne eine solche Überlegung, läge ein irrtümliches Handeln vor, also ein solches, welches der Aktor nicht im Sinn gehabt hatte (vgl. V,11,S.141).
Zum 'Vollbegriff' der aristotelischen Handlung (als einer freiwilligen und wissentlichen Handlung) gehört ferner, daß es nicht unter Zwang (äußerer Aspekt einer Handlung) stattfinden darf und auch nicht den Zug des Zufälligen tragen darf (vgl. auch sein Beispiel in V,11,S.141): 'Unter freiwillig aber verstehe ichjede Tat, die (a) in unserer Macht steht und die wir (b) mit vollem Wissen vollbringenUnd dabei darf (c) weder das Moment des Akzidentellen noch auch Zwang eine Rolle spielen.' (V,11,S.140). Während das fehlende Freiwilligkeitsmoment im Zusammenhang mit sittlichen Handlungen zu 'unbeabsichtigten' und fremdbestimmten (bei Aristoteles: nicht in der eigenen Macht stehenden) Handlungen führen kann (vgl. die Beispiele in III,1,S.54: 'Nötigung' beim Tyrannenbefehl bzw. 'Notstand' beim Ladung über Bord werfen), führt Nichtwissen und Unwissenheit bezüglich der Handlungsumstände zu 'versehentlichen' Aktionen oder Irrtümern (vgl. die Beispiele in III,2,S.58). In meinem Interpretationsansatz geht es Aristoteles hier also um das Phänomen, das wir 'Absicht' nennen würden. Der unglückliche Zufall und das irrtümliche Handeln wird eben nur mittels dieses Absichtsbegriffs ausgegrenzt (vgl. V,11,S.142). Das von Aristoteles an anderen Stellen hervorgehobene In-Bewegung-setzende-Denken (vgl. VI,2,S.155) führt schließlich zum vollumfänglichen Handlungsbegriff, indem einerseits der 'beabsichtigte Endzweck' zum Grundprinzip erhoben wird (VII,9,S.198) und andererseits im Bereich des Sittlichen explizit von wissentlichem und willentlichem Ausgangspunkt des Handelns die Rede ist (II,3,S.40), welches dann auch mit unerschütterlicher Sicherheit ausgeführt wird (ebd., vgl. auch Kap.VI).
Man kann den aristotelischen Handlungsbegriff wie folgt zusammenfassen: Handlungen als Aufgabe und Leistung des Menschen vollziehen sich im Bereich des letztlich Gegebenen, d.h. der veränderbaren Einzelfälle. Auf dieser Grundgesamtheit als Gegenstand des dem Handeln vorgelagerten Überlegens findet die intellektuelle Gewandtheit (eine Fähigkeit des rationalen Seelenteils) das auf einen beabsichtigten Endzweck (Ziel) Hintendierende (VI,13,S.173): es sind dies die Mittel und Wege zum Ziel. Das Vermögen der Seele (a) Güter anzustreben und (b) mittels der Reflexion Zwecke aufzuzeigen, drängt auf eine Entscheidung. Die Entscheidung schließlich als bewegende Ursache im Menschen setzt die Handlung in Gang. Da der Mensch aber freiwillig handelt und jederzeit über ein Wissen über die Einzelhandlungen verfügt, kann er in die Handlung 'eingreifen' (III,8,S.70).
Wenn man diese Überlegungen in einem strukturalistischen Ansatz modelliert, so kann man als Trägermenge das Einzelgegebene bzw. die Einzelfälle ansehen (III,1,S.56), also die Umstände und Gegenstände, d.h. Ziele des Handelns (III,1,S.57) sowie die Handelnden selber. Ausgezeichnete Elemente hierin sind jene Einzelgegebenheiten, die 'in unserer Macht stehen und verwirklicht werden können' (III,5,S.62), also Elemente aus dem Bereich des Veränderlichen (vgl. Kap.I). Eigenschaften bzw. Relationen auf dieser Trägermenge sind: die Zweck-Mittel-Beziehungen, ferner die Verursachung durch die handelnde Person aufgrund einer Entscheidung, das Zustandekommen der Entscheidung durch Streben und sittliche Einsicht, das Ausgrenzen irrationaler Regungen,das Überlegen (Planen) der Wege / Mittel zum Ziel etc.
Die Struktur der aristotelischen Handlungsphilosophie sei also folgendes m+6 tupel:
(M, U, Z, m, u, z, R1,,Rm )
mit: M: Klasse der Menschen als Handelnde, U: Klasse der Umstände im Sinne von Mittel und Wegen, Z: Klasse der Ziele (Zwecke) der Handelnden; ausgezeichnete Elemente sind: m: Menschen, die nicht nur irrationale Regungen an den Tag legen, u: Umstände, deren Handhabung in 'unserer Macht steht' (aus den Bereichen: Natur, Notwendigkeit und Zufall, Geist, menschliche Wirkenskraft, vgl. III,5,S.62), z: Ziele, deren Erreichung durch Einsicht nahegelegt wird; R1: Zuordnung von Mitteln und Zielen vermöge intellektueller Gewandtheit einerseits und Einsicht andererseits, R2: Freiheit bei der Wahl von Handlungen im Sinne des Tuns oder Unterlassens, etc.
VI Der Aufbau der Ethik unter Verwendung dieser Voraussetzungen
Handeln im Bereich der Werte. Sittliche Grundhaltung. Sittliche Werte. Das Mittlere. Sittliche Einsicht. Wählen und Entscheiden.
Durch Handeln erreicht der Mensch die Güter (I,2,S.8), die Gegenstand des Strebevermögens seiner Seele sind, sofern er nach klarem Plan vorgeht (I,1,S.8). Da die Güter durch die Zweck-Mittel-Operation hierarchisch geordnet sind und ihre Anzahl offensichtlich endlich ist, gibt es ein oberstes Gut, welches im Sinne eines Zieles durch Handeln erreicht werden kann: das Glück (vgl. Kap.I). Es ist zugleich ein Endziel, etwas Vollendetes, etwas Wertvolles, für sich allein Genügendes (I,5,S.16). Dieses Endziel muß allerdings aktiv verwirklicht werden durch notwendiges und wertvolles Handeln (I,9,S.20), es darf nicht durch akzidentelle oder zwanghafte (V,11,S.140) Umstände zustandekommen und nur dann gilt: ' wertvolles Handeln ist ein Ziel und das Streben geht in diese Richtung.' (VI,2,S.154 ff). Aristoteles bestimmt nun wertvolles Handeln durch Rückgriff auf einzelne Ziele (Güter), etwa auf das Edle(IV,2,S.88) oder das Lustvolle und das Schöne (III,1,S.56). An anderer Stelle (Kap.II) wurde dargelegt, 'daß aus den wiederholten Einzelhandlungen die festen Grundhaltungen hervorgehen' (III,7,S.68). Wer sich im wertvollen Handeln übt, wird zum wertvollen Menschen: er handelt so auf Grund von Entscheidung und um der Sache selbst willen (VI,13,S.173).
Die feste Grundhaltung (Habitus), die sich im Umgang mit dem Wertcharakter von Handlungen herausbildet (II,1,S.35) führt schließlich zu den erwünschten 'Vorzügen des Charakters' (II,1,S.34), deren Ausformung Aristoteles ein dringendes pädagogisches Anliegen zu sein scheint (II,1,S.35). Es wurde bisher von Werten, aber noch nicht von sittlichen Werten gesprochen. Der Begriff der Sittlichkeit taucht erstmals in Form der 'sittlichen Grundhaltung' (I,2,S.9) auf und wird mit einem Vers von Hesiod unterlegt, in dem die Adjektive 'gut', 'edel', 'nichtig' und 'unnütz' offensichtlich die Konnotation zum Sittlichkeitsbegriff leisten sollen. Eine weitere indirekte Anbindung an den Sittlichkeitsbegriff erfolgt über die Einführung der Begriffe der 'sittlichen Vortrefflichkeit' (I,9,S.20), bzw. der 'sittlichen Trefflichkeit' (ebd.) und der 'sittlichen Vorzüge' (ebd.). Das 'sittlich wertvolle' (I,9,S.21) Handeln schließlich wird implizit definiert über den Begriff der Freude, des Schönen und des Wertvollen: 'so sind sittliche Handlungen in sich freudevoll. Aber nicht nur dies, sondern auch wertvoll und schön und zwar beides im höchsten Grade' (I,9,S.21). Sittliches Handeln - so darf man wohl schließen - ist ein Handeln 'im Bereich dessen, was für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll ist[und, Anm.d.Verf.] wertvolles Handeln ist selbst Endziel.' (VI,5,S.160).
Da jeder Handlung und jedem Affekt ein Erlebnis von Lust und Unlust folgt (II,2,S.38), hat der Handelnde mit diesen seelischen Phänomenen einen 'Maßstab' an der Hand (II,2,S.39), mit dem er eigene, aber auch fremde Handlungen bewerten kann. Dieser Maßstab mißt allerdings noch nicht direkt die sittliche Trefflichkeit fremder Personen, denn die sittlich wertvollen Handlungen (edles und großzügiges Handeln etwa, vgl. I,9,S.21) und Leistungen als Ausfluß der sittlichen Trefflichkeit (I,9,S.20) müssen ja 'erstens wissentlich, zweitens auf Grund einer klaren Willensentscheidungund drittens mit fester und unerschütterlicher Sicherheit' (II,3,S.40) erfolgen. Diese Tatbestände gehören aber zum Innenaspekt einer Fremdhandlung, d.h. sind der Beobachtung nicht direkt zugänglich. Was getan werden kann - und dessen nimmt sich auch die Staatskunst an, indem sie den Bürger zur Übung anleitet bzw. ihn 'formt' -, ist die systematische Ausbildung des Mittleren in den einzelnen Charakterzügen (in den 'Vorzügen des Charakters', wie es bei Aristoteles heißt und die mitunter auch als 'Tugenden' übersetzt werden ). Was diese Mitte, auf die insbesondere die charakterliche bzw. sittliche Tüchtigkeit abzielt (II,5,S.44), im einzelnen ausmacht, wie sie sich ausprägt und zwischen welchen Extremen sie sich plaziert, das wird im aristotelischen Werk (ab III,9) breit ausgeführt. Diese Ausführungen stellen das Rüstzeug zur Verfügung für die ethische Analyse der sich entfaltenden Einzelakte (II,7,S.46). 'Die sittliche Tüchtigkeit aber entfaltet sich eben auf dem Gebiet der irrationalen Regungen und des Handelns, wobei das Zuviel ein Fehler ist und das Zuwenig getadelt wird, das Mittlere aber ein Treffen des Richtigen ist und gelobt wird' (II,5,S.44).
Hierbei handelt sittlich wertvoll, wer freiwillig und auf Entscheidung fußend planvoll handelt. Dazu bedarf es der sittlichen Einsicht, einer der Fähigkeiten der Seele, durch welche diese die 'Erkenntnis des Richtigen' vollzieht (VI,3,S.156). Sittliche Einsicht ist 'eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt, die dem Menschen erreichbar sind.' (VI,5,S.160). Der Erreichbarkeit der Werte korrespondiert dabei die Veränderbarkeit im Seinsbereich (VI,6,S.161 und VI,12,S.170): hier treffen sich sittliche Einsicht und Handeln. So kann Aristoteles resümieren: 'Das Wesen der sittlichen Einsicht ist Handeln.' (VI,8,S.163). Wenn es zum Entschluß zu einer sittlichen Handlung kommt, wirken sittliche Einsicht und Vorzüge des Charakters zusammen: 'Denn die letzteren bewirken, daß die Zielsetzung richtig ist, und die Einsicht weist die richtigen Wege zum Ziel' (VI,13,S.172).
Wir fassen zusammen: Handlungen wird ein Wertcharakter zugeschrieben über den inneren Maßstab von Lust und Unlust, ferner über den äußeren Maßstab von Lob und Tadel. Dieser Maßstab mißt das Zuviel, das Zuwenig und das Mittlere einer Handlung und es ist das Mittlere, das gelobt wird. Sittliche Handlungen erfolgen aufgrund sittlicher Einsicht, einem vollkommenen Zustand eines Seelenteiles, und einer Entscheidung sowie um der Sache selbst willen.
Faßt man das bisher Gesagte in eine formale Struktur, so kommt man zu folgendem Ansatz: die Trägermenge der Sittlichkeitsstruktur ist zum einen Seiendes, das Veränderungen zuläßt (VI,6,S.161). Zum anderen sind es die Handelnden selbst mit dem in Kap.II dargestellten psychischen Struktur (Aufbau und Funktion der Seele, aber auch körperliche Ausstattung). Letztlich gehören auch die Güter, die durch Handeln erreicht werden zur Basis einer solchen Struktur. Ausgezeichnete Elemente sind: in V: diejenigen Entitäten, die in unserer Macht stehen und verwirklicht werden können als Mittel und Wege (aus den Bereichen Natur und Geist, vgl. III,5,S.62) in Richtung auf ein Handlungsziel , in H: aktiv Handelnde mit sittlicher fester Grundhaltung, die auf richtiges Maß und rechte Mitte abzielen, in G: wertvolle Güter (Aristoteles nennt verschiedene, z.B. das Edle, das Schöne, das Lustvolle, aber auch sittliche Einsicht oder philosophische Weisheit). Relationen (Eigenschaften) auf diesen Mengen sind z.B.: (1) die Seele hat eine Funktion der sittlichen Einsicht, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt (VI,5,S.160); (2) sittliche Einsicht ist mit richtigem Überlegen und Planen verbunden und eine zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit (VI,5,S.159); (3) sittliche Einsicht hat befehlende Kraft, sie bestimmt, was zu tun und was zu unterlassen ist (VI,11,S.168).
In symbolischer Schreibweise stellt sich die rekonstruierte Struktur der Sittlichkeit im Ansatz der Nichomachischen Ethik wie folgt dar:
(V,H,G,v,h,g,R1,Rn)
mit Trägermengen: V: Bereich des Seienden, das Veränderungen zuläßt, H: Handelnde mit ihrer körperlichen und seelischen Verfasstheit, G: durch Handeln erreichbare Güter; ausgezeichnete Elemente: v: die in unserer Macht stehenden Dinge, h: aktiv verwirklichendes, notwendiges und wertvolles Handeln, g: wertvolle Güter, z.B. das Edle; Relationen: R1: sittliches Handeln zielt auf den Bereich der Werte ab, R2: die Vorzüge des Charakters bewirken richtige Zielsetzungen, die sittliche Einsicht weist die richtigen Mittel und Wege zum Ziel (VI,13,S.172) etc.
Anmerkungen
Verwendete Literatur: Aristoteles: Nikomachische Ethik; Übersetzung u. Nachwort von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmidt, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1999
NE steht abkürzend für den Buchtitel: Nikomachische Ethik
Zitiermodus: z.B. (II,2,S.36) = Buch II, Kapitel 2, Seite 36 der RECLAM Ausgabe
Anhang