Spezialgebiet in Mathematik
Ein Axiomensystem ist die Grundlage aller mathematischer Systeme. Um ein solches System zu schaffen muß man alle Grundtatsachen und Definitionen finden, aus denen sich alle anderen Sätze des betreffenden Fachgebiets bzw. der betreffenden Wissenschaft sammeln. Ist dies gelungen, so nennt man das Axiomensystem definit.
Damit ein solches System überzeugen kann müssen alle Bezeichnungen, die man verwendet definiert sein und es muß alles bewiesen werden, indem man geistig, die definierten Ausdrücke durch ihre Definitionen ersetzt.
Ein Axiomensystem kann niemals die komplette Wahrheit über ein Sachgebiet wiedergeben, sondern ist immer als ein Modell zu verstehen, selbst wenn uns die Naturwissenschaften glauben machen, wollen, daß sie die Wahrheit über ihr Gebiet wiedergeben. Sobald neue Erkenntnisse gewonnen werden, können die überholten Begriffe jedoch sofort durch neue, exaktere ersetzt werden.
Ein Beispiel aus der Mathematik ist die Entwicklung der Geometrie, die in Kapitel 2 näher besprochen wird. Lange Zeit galt nur die euklidische Geometrie. Als die Möglichkeit von anderen Geometrien gezeigt wurde, wurde die euklidische Geometrie durch die nichteuklidische ersetzt, welche die euklidische immer noch berücksichtigte. Außermathematische Systeme lösen einander viel häufiger ab. Zum Beispiel ersetzte die Einstein'sche Relativität die Newton'sche Mechanik .
Ein Grundbegriff der Axiomatik ist die Isomorphie. Gegeben seien zwei Axiomensysteme S und S In S herrschen nun die Relationen R1, R2, usw. Die Beziehungen zwischen den Objekten in S werden nun, obwohl sie sich im Sinn unterscheiden, mit den selben Namen versehen, wodurch sie einander zugeordnet werden. Findet sich zu jedem Begriff des einen Systems ein Gegenstück im anderen, so sind die beiden Systeme isomorph. Man spricht von einer isomorphen Abbildung von S auf S
Isomorphe Gebiete müssen einander in irgendeiner Form ähneln. Alles, was in einem System gilt, muß notwendigerweise in allen isomorphen Gebieten gelten. Das ist ein immenser Vorteil für die Wissenschaft. Ein Axiomensystem kann aufgrund der Isomorphie mit beliebig vielen Interpretationen versehen werden.
Ein auffallendes Beispiel ist die Isomorphie zwischen der euklidischen Geometrie und der linearen Algebra. Offensichtlich entspricht einem Punkt in der Geometrie ein n-Tupel in der Algebra. Ein weiterer Bezug läßt sich zur Physik herstellen. Für ein Stromnetz mit n Drähten, die sich in einem Knotenpunkt verzweigen, gelten die gleichen Beziehungen, wie in einem euklidischen Raum mit n Dimensionen. Wenn man zum Beispiel die in die Drähte eingeführten Spannungen kennt, und daraus die Stromverteilung ermitteln soll, dann ist dieses Problem äquivalent zur Projektion eines Punktes auf eine Ebene.
Was man sich nicht von der Isomorphie erwarten darf, ist, daß man durch sie zu neuen Erkenntnissen gelangt. Da die zugrundeliegenden Axiome immer die selben bleiben, ist das ausgeschlossen. Allerhöchstens eröffnen sich dem Mathematiker in einem isomorphen Gebiet neue Denkansätze, die er in einem anderen übersehen hat.
Welche Kriterien muß ein System nun aber erfüllen, damit es anerkannt werden kann? Der wichtigste Anspruch an ein System ist die Forderung nach der Widerspruchsfreiheit. Wenn ein Mathematiker eine neues System Σ ausarbeitet, muß er sicherstellen, daß es dieses geben kann. Aus seinem System Σ darf er niemals die Aussagen α und ά herleiten können. Ansonsten ist das System völlig wertlos. Deshalb ist die Überprüfung eines jeden mathematischen Systems, ja einer jeden wissenschaftlichen Theorie, auf Widerspruchslosigkeit eine wichtige Aufgabe.
Des weiteren sollten die Axiome eines Axiomensystems unabhängig voneinander sein. Es soll keine Sätze enthalten, die aus den anderen Axiomen folgen. Das Axiom α ist genau dann unabhängig, wenn es sich nicht aus den übrigen herleiten läßt. Um die Unabhängigkeit einer Aussage festzustellen, gibt es drei Möglichkeiten. Da die Unabhängigkeit eng mit der Widerspruchslosigkeit zusammenhängt, kann man mit diesen Methoden auch diesen Nachweis führen.
Die erste Methode ist meist nur in kleinen, überschaubaren Systemen anwendbar, da sie auf dem Grundsatz beruht. Wenn eine Aussage α einen neuen Grundbegriff enthält, der im System Σ nicht definiert ist, so kann die Wahrheit von α in Σ nicht überprüft werden.
Aus der Anzahl der Betten eines Hotels, läßt sich beispielsweise nicht die Anzahl der Hotelgäste bestimmen.
Es ist unwahrscheinlich, daß sich komplizierte Systeme auf diese Art und Weise überprüfen lassen. Die beiden folgenden Methoden lassen sich wesentlich besser anwenden.
Die zweite Methode ist die Konstruktion eines Modells. Diese Methode hatte bisher den größten Erfolg in der Analyse von Axiomensystemen. Dabei sucht man Objekte und Relationen, die bei geeigneter Namengebung alle Eigenschaften von Σ erfüllen, für die aber α nicht gilt.
Es ist nicht zwingend notwendig ein komplett neues Modell zu schaffen, um ein Axiomensystem zu überprüfen, sondern es genügt, die Widerspruchslosigkeit eines Systems auf die eines anderen zurückzuführen.
Das ewige Scheitern der Beweisversuche des Parallelenaxioms, welches im nächsten Kapitel genauer besprochen wird, ist ein induktives Argument für dessen Unabhängigkeit. Diese Bemühungen führten schließlich zu der Formulierung von nichteuklidischen Geometrien, für welche das Parallelenaxiom nicht gilt. Die Schöpfer der nichteuklidischen Geometrien, taten nichts weiter als die Folgerungen aus der Gegenaussage zum Parallelenaxiom zu untersuchen.
Anhand der Konstruktion eines Modells konnten sie beweisen, daß diese neuen Geometrien zu keinen Widersprüchen führen können, die nicht auch in der euklidischen Geometrie existieren. (vgl. 2.2.3.)
Durch geschickte Konstruktion von arithmetischen Modellen gelang es Hilbert das logische Verhältnis der Teile des geometrischen Axiomensystems aufzuklären. Da es eine endliche Anzahl von Objekten gibt, die nacheinander ausgewiesen und mit Symbolen belegt werden können, kann man für jeden Schritt mittels der Symbole feststellen, ob die Grundrelationen gelten, oder nicht. Damit hat er die Widerspruchslosigkeit der Geometrie auf die der Algebra zurückgeführt.
Ganz egal, ob die euklidische Geometrie den physikalischen Raum nun genau beschreibt, oder nicht, sie folgt auf jeden Fall den gleich Gesetzen, wie die lineare Algebra. Jeder Widerspruch in der Geometrie muß sich deshalb auch als Widerspruch Algebra darstellen.
Auf diese Art und Weise wird ein Axiomensystem auf ein anderes zurückgeführt. Würde man mit allen Systemen so verfahren, würde ein Zirkel entstehen. Um sie alle zu beweisen genügt es den Beweis für eines absolut zu führen. Alle isomorphen Systeme wären dann ebenso bewiesen. Für einen großen Teil der Mathematik und der Physik laufen solche Bemühungen zur Zeit auf dem Gebiet der reellen Zahl.
Die einzige Methode, eines absoluten Beweises, ist die direkte Methode. Bei dieser Methode werden alle möglichen Schlußfolgerungen ausgehend von den Axiomen gezogen. Der direkte Beweis ist gelungen, wenn sich keine Widersprüche ergeben. Auf diese Art konnte Hilbert die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome beweisen.
Ein weiters wichtiges Kriterium für ein Axiomensystem ist noch zu erwähnen. Die Widerspruchsfreiheit garantiert nur, daß man nie zwei widersprüchliche Ergebnisse erhalten kann, nicht aber, daß man überhaupt eines erhält. Deshalb fordert man von Axiomensystemen ihre Vollständigkeit. Das heißt, daß es zu jeder widerspruchsfrei gestellten Frage eine Antwort geben muß. Die Vollständigkeit eines Systems kann nur durch die Angabe einer das Beweisverfahren regelnden Methode sicher gestellt werden. Eine solche Methode kann es nicht geben. Der Weg zur Lösung eines Problems ist mit jedem Problem verschieden und muß jedes Mal neu gefunden werden.
Wie bereits erwähnt hatten die "Elemente" des Euklid für die Geometrie und die Mathematik überhaupt für lange Zeit einen ähnlichen Stellenwert, wie die Bibel für das Christentum. Euklid stellte die Geometrie auf eine Basis von Axiomen, die über 2000 Jahre lang Gültigkeit besaßen. Selbst Kant war der Meinung, daß sie die Wahrheit über die Realität liefern kann. Euklid, der zur Zeit Ptolemäus I. (305-287 v. Chr.) in Alexandria lebte, baute die Geometrie auf einer Vielzahl von Axiomen auf. Die ersten fünf lauten:
Durch zwei Punkte verläuft eine eindeutig bestimmte Gerade.
Geraden sind beliebig lang.
Ein Mittelpunkt und ein Radius definieren einen eindeutig bestimmten Kreis.
Alle rechten Winkel sind gleich groß.
Wenn eine Gerade auf zwei Geraden fällt und hierdurch die Innenwinkel auf derselben Seite kleiner als zwei rechte Winkel sind, schneiden sich die beiden Geraden, wenn sie unendlich verlängert werden, auf der Seite, auf der die Winkel kleiner als die beiden rechten Winkel sind.
Die ersten vier Axiome sind auf Anhieb verständlich und einfach zu formulieren. Mit dem fünften verhält es sich anders. Es ist umständlich formuliert und nicht ganz so selbstverständlich wie die anderen. Es gibt mehrere äquivalente Formulierungen, wie die folgende, die sich durchgesetzt hat:
In einer Ebene seien eine Gerade L und ein Punkt P nicht auf L gegeben. Dann gibt es genau eine Gerade durch P, die parallel zu L ist.
In dieser Fassung ist es als das Parallelenaxiom bekannt. Diese Formulierung ist einfacher, und hat sich daher durchgesetzt. Die Zweifel an seiner Gültigkeit konnte es aber nicht beseitigen. Um diese zu zerstreuen wurde immer wieder versucht, zu beweisen, daß es von den anderen vier Axiomen abhängig ist, und daher wahr sein muß.
Stellvertretend für viele andere habe möchte ich den Beweisversuch von Posidonius, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebte, als Beispiel anführen, da er der erste war, dem der Beweis "gelang". Der Trick, den er anwendete, war eine von Euklids Definitionen zu ändern. Er war sicher, daß seine Aussage "zwei Geraden sind parallel, wenn sie überall den selben Abstand haben" äquivalent zu Euklids Definition sei, wonach sich parallele Geraden niemals schneiden. Mit seiner Definition hatte er es nicht schwer das Axiom zu beweisen. Doch er hat es sich etwas zu leicht gemacht. Gemäß seiner Intuition änderte er eine von Euklids Definitionen. Denn wie sollen sich zwei Geraden nicht schneiden, wenn sie einander näher kommen? Allerdings übersah er, daß eben das 5. Axiom garantiert, daß parallele Geraden äquidistant sind. Da seine Definition das Parallelenaxiom voraussetzt, kann sie nicht für einen Beweis herangezogen werden.
Der nächste nennenswerte Versuch, das Parallelenaxiom zu beweisen, stammt von Gerolamo Saccheri. Er konstruierte ein Viereck ABCD, das heute nach ihm Saccheri-Viereck benannt ist. Die Winkel in A und B sind rechte Winkel, und es gilt AD = BC. Saccheri betrachtete folgende Möglichkeiten:
Die Winkel in C und D sind rechte Winkel.
Sie sind beide stumpfe Winkel.
Sie sind beide spitze Winkel.
Nach Euklid mußte die 1. Annahme die richtige sein. Er konnte das nicht direkt beweisen, also versucht er einen indirekten Beweis. Es gelang ihm zu zeigen, daß etwas falsches folgt, wenn die Winkel stumpf sein sollten. Falls die Winkel spitz sein sollten, konnte er lediglich zeigen, daß "alle Geraden, die innerhalb eines Winkels a durch P laufen eine gegebene Gerade AB nicht scheiden." Für Saccheri war das "unvereinbar mit der Natur der Geraden". Er glaubte hier einen Widerspruch gefunden zu haben. Somit wäre das Parallelenaxiom bewiesen. Diese Art der Argumentation war natürlich nicht zwingend. Saccheris Folgerung widersprach dem 5. Axiom. Da es für den Beweis als unbekannt vorausgesetzt wurde, kann es hier aber keinen Widerspruch geben. Der Beweis ist deshalb unvollständig.
Saccheri war zwar gescheitert, doch immerhin brachte er frischen Wind in die Debatte um das Parallelenaxiom. Führende Mathematiker, wie Gauß, Lobatschewskij, Bolyai, und Riemann nahmen die seine Gedanken auf und untersuchten die beiden Fälle, die Saccheri zu widerlegen versuchte. Sie entdeckten, daß man sehr wohl auf das Parallelenaxiom verzichten könne, und erschufen die nichteuklidische Geometrie, oder besser gesagt die nichteuklidischen Geometrien. Denn es zeigte sich, daß es zwei davon gibt. Sie werden nach ihren Begründern Lobatschewskijsche (=hyperbolische) Geometrie und Riemannsche (= elliptische) Geometrie genannt.
Die Lobatschewskijsche (= hyperbolische) Geometrie
Nikolai Iwanowitsch Lobatschewskij (1777-1856) untersuchte den Fall, daß die Winkel im Saccheri-Viereck spitz sind. Das ist möglich, wenn erlaubt wird, daß es zu einer Geraden L durch einen Punkt P mehrere nicht-schneidende Geraden gibt.
Saccheri zeigte bereits, daß alle Geraden, die einen Winkel größer als a mit einer Normalen durch L einschließen, L nicht schneiden. Anders als Saccheri sah Lobatschewskij hier keinen Widerspruch und baute seine Geometrie auf dieser Grundlage auf. Die Größe von a ist abhängig von der Entfernung des Punktes P von L. Sollte der Wert für a = 90° betragen läßt sich das Parallelenpostulat als Sonderfall folgern. Lobatschewskij bezeichnete die beiden Geraden, die genau den Winkel a mit P einschließen als parallel. Alle Geraden, die zwischen den Parallelen liegen, wären laut Euklid ebenfalls parallel zu L, werden aber als überparallel bezeichnet. Es gibt unendlich viele von ihnen.
Eine solche Geometrie läßt sich auf einer Hypersphäre realisieren. Eine Gerade wird hierbei als geodätische Linie dieser Fläche aufgefaßt. Dreiecke haben auf dieser Oberfläche besondere Eigenschaften. Je kleiner die Fläche eines Dreiecks ist, desto näher liegt seine Winkelsumme bei 180°. Ahnliche Dreiecke sind automatisch kongruent.
Die Riemannsche (=elliptische) Geometrie
Obwohl Saccheri glaubte beweisen zu können, daß die Winkel im Saccheri-Viereck nicht stumpf sein können, gelang es Riemann eine Geometrie zu schaffen, in der auch dieser Fall eintritt.
Um die Arbeit Riemanns zu verstehen, ist es notwendig, ein wenig auf die allgemeine Flächentheorie von Carl Friedrich Gauß (1777-1855) einzugehen. Er entwickelte eine Methode mit der man Berechnungen auf gekrümmten Flächen anstellen konnte.
Ein Punkt auf dieser Fläche wurde dabei nicht mehr in einem räumlichen Koordinatensystem (x,y,z) angegeben, sondern er führte gekrümmte Koordinatenachsen auf der Fläche ein. Also konnte man jetzt Parametergleichungen für x,y,z angeben in denen x,y,z von den Parametern p und q abhängen. Jeder Punkt (x,y,z) auf der Fläche kann also durch das Wertepaar (p,q) ausgedrückt werden.
Um nun die Entfernung zweier Punkte auf dieser Fläche zu berechnen führte Gauß den Punkt (x+dx , y+dy , z+dz) ein, der unendlich nahe bei (x,y,z) liegt. Für die Entfernung der beiden Punkte muß gelten: ds2 = dx2 + dy2 + dz2. Werden x,y,z durch p und q ersetzt ergibt sich die folgende Formel:
ds2 = Edp2 + Fdpdq + Gdq2 (wobei E, F und G Funktionen von p und q sind)
Die geometrischen Eigenschaften der Fläche hängen nicht von den Funktionen E,F und G ab, sondern nur von ds. Man kann also aus einem Linienelement ds alle Eigenschaften der Fläche ableiten.
Riemann führte die Gedanken von Gauß fort. Er entwickelte die Gauß'sche Formel für ds weiter, so daß sie nun im n-dimensionalen Raum anwendbar war, und beschäftigte sich mit Mannigfaltigkeiten mit konstanter Krümmung.
Es läßt sich zeigen, daß die euklidische Geometrie der auf einer Fläche mit der konstanten Krümmung Null entspricht, die Lobatschewskijsche der auf einer Fläche mit konstanter negativer Krümmung. Beide sind somit Sonderfälle der Riemannschen Geometrie.
Letztere erlaubt weiters Berechnungen auf Flachen mit positiver Krümmung. Ein Beispiel für eine solche Fläche ist die Kugeloberfläche. Ein Punkt wird als Paar von Diametralpunkten aufgefaßt, eine Gerade als Großkreis. Es gibt keine parallelen Geraden, da sich die Großkreise immer in diametral gegenüberliegenden Punkten treffen.
Die Widerspruchsfreiheit der nichteuklidischen Geometrien
Der Nachweis, daß die nichteuklidischen Geometrien widerspruchsfrei sein müssen, wurde von einem Mathematiker namens Klein erbracht. Es gelang ihm ein euklidisches Modell für die nichteuklidische Geometrie zu schaffen. Er schuf eine Kugel K im euklidischen Raum. "Punkte" sind alle Punkte innerhalb von K. Begriffe wie "Gerade" oder "zwischen" sind wie vor im euklidischen Sinne zu verstehen. "Bewegung" ist jene Kollineation, welche die Kugel in sich überführt. "Kongruent" sind alle Figuren die durch eine "Bewegung" entstehen. Aus der Widerspruchslosigkeit der euklidischen Geometrie (vgl. Kap. 1) muß deshalb die der nichteuklidischen folgen.
Zu Beginn unseres Jahrhunderts gab es eine kurze Periode, in der die Grundlagen der Mathematik offen diskutiert wurden. Rund 40 Jahre lang tauschen die führenden Mathematiker ihre Gedanken untereinander aus, und stritten sich über Details.
Diskussionen darüber gab es dennoch schon lange vorher. Sie hängen meist mit dem sogenannten Euklid-Mythos zusammen. Das ist der Glaube, daß die Schriften des Euklid Wahrheiten enthalten, die unwiderlegbar sind. (Wie bereits gezeigt, enthalten Euklids Bücher nur einen Teil der Wahrheit.) Euklid führte seine Beweise ausgehend von seinen Axiomen mit solcher Klarheit, so daß sie für lange Zeit eine feste Stütze der gesamten Mathematik bildeten. Da sich geometrische Tatsachen ja auch arithmetisch beschreiben lassen, kann somit auch die Arithmetik auf eine solide Grundlage gestellt werden.
Plato ging davon aus, daß der Mensch Kenntnis von geometrischen Wahrheiten hat, die nicht aus der Erfahrung stammen, und daß diese ein Beispiel für unwandelbare Wahrheiten sind. Später griffen die Rationalisten, wie Spinoza, Descartes und Leibniz, diesen Gedanken auf. Für sie waren die Sätze der Geometrie ein Beispiel für die Erkenntnis a priori. Sie glaubten, daß man sich nie irren kann, wenn man behauptet, daß a2+b2=c2 ist; behauptet man aber, daß morgen der dritte Weltkrieg ausbricht, so kann man diese Aussage logischerweise erst morgen überprüfen. Da die Mathematik von "offensichtlichen" Axiomen ausgeht und alle Sätze darauf aufbauen, kann für die Rationalisten kein Zweifel an der Wahrheit der Mathematik bestehen.
So wurde die Mathematik das beste Beispiel für die Rationalisten um ihre Philosophie zu untermauern. Für die Empiristen, war sie andererseits, eine peinliche Niederlage. Da sich die Mathematik mit Dingen beschäftigt, die nie zuvor beobachtet wurden, muß das empirische Weltbild, das ja auf der Erfahrung aufbaut, einige Lücken aufweisen. Deshalb gingen die meisten Empiristen auch nicht näher auf die Mathematik ein, sondern versuchten ihre Bedeutung wegzuerklären. Einzig auf dem Gebiet der Geometrie war man sich einig. Die Axiome der Geometrie waren so anschaulich, daß nicht einmal die Empiristen sie anfeindeten.
Auch Kant widmet sich in seinem Werk dem Euklid-Mythos. Daß wir den Raum dreidimensional wahrnehmen, und die euklidische Geometrie, die daraus entstanden ist, ist für ihn ein Beispiel für eine Erkenntnis a priori. Unser Verständnis der Geometrie wird uns also aufgezwungen. Für lange Zeit konnte sich diese Sichtweise Kants halten. Für fast jeden Mathematiker war es bis ins 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich, daß die Geometrie Wahrheiten liefern kann. Da Gebiete wie die Arithmetik und die Algebra von ihr abhängen, mußten deshalb auch sie wahr sein.
Dieses mathematische Weltbild begann einzustürzen, als die nichteuklidischen Geometrien formuliert wurden. Da gezeigt werden konnte, daß die euklidische Geometrie nicht zwangsläufig die wahre Geometrie des Raumes sein muß, wurde die gesamte Kantsche Wahrnehmungslehre in Frage gestellt.
Eine weitere Bombe explodierte im mathematischen Denkgebäude als die Analysis raumfüllende Kurven und stetige überall undifferenzierbare Kurven hervorbrachte. Auf einmal war gezeigt, daß die "geometrische Intuition" nicht als Fundament für die Mathematik ausreichte, das seit Plato bestand.
Die führenden Mathematiker des 19. Jahrhunderts, z.B. Dedekind, und Weierstraß, wandten sich in Folge dessen von der Geometrie als Grundlage der Mathematik ab und der Arithmetik zu. Dazu griffen sie auf die Mengenlehre zurück, die Cantor kurz vorher als neuen Zweig der Mathematik entwickelte. Sie mußten sie unendliche Mengen einführen, um reelle Zahlen zu definieren. Es ergaben sich logische Probleme, die lange Zeit ungelöst blieben. Es wurden zahlreiche "Antinomien" (Widersprüche) in der Mengenlehre gefunden, die in der Arithmetik oder der Geometrie nie vorkommen.
Ein Beispiel für eine solche Antinomie wurde von B. Russell entdeckt. Er definierte eine "R-Menge" als eine Menge, die sich selbst als Element hat. Dann führte er eine Menge M ein, die alle möglichen Mengen, außer den R-Mengen enthält. Die Frage, ob M eine R-Menge ist führt zu Widersprüchen. Wenn M keine R-Menge ist, dann enthält sie sich selbst, was sie zu einer R-Menge macht.
Widersprüche wie dieser stürzten die Mathematik in eine tiefe Grundlagenkrise, aus der man sich auf verschiedenen Wegen zu befreien versuchte.
Für die Formalisten, allen voran David Hilbert, ist die Mathematik eine Art Spiel mit Symbolen und Formeln. Es gibt nur formale Strukturen, die sich nach gewissen Regeln ineinander überführen lassen. Anschauung und Erfahrung sind für Formalisten ohne jegliche Bedeutung. Ein Satz ist nur dann wahr, wenn er sich aus einem widerspruchsfreien Axiomensystem herleiten läßt. Die Axiome selbst können willkürlich gewählt werden. Entgegen anderer Auffassungen von der Mathematik sind sie nicht durch die Vernunft vorherbestimmt. Die Axiome müssen in ihrer inhaltlichen Bedeutung nicht bekannt sein. Sie können auch als bloße Zeichen gegeben sein. Wenn man mit den Axiomen umzugehen versteht, kann man so neue Sätze herleiten.
Eine einfache Analogie für den formalistischen Standpunkt ist das Schachspiel. Man benötigt keine Holzfiguren, man kann sie auch als Zeichen fixieren und die Regeln angeben. Ein Turm ist nur durch seine möglichen Züge definiert. Wie die Figur aussieht, und ob sie überhaupt vorhanden ist, ist egal. Schließlich läßt sich eine Partie Schach ja auch auf einem Blatt Papier durch Anschreiben der Züge spielen..
Die einzelnen Begriffe, oder auch Zeichen, sind durch die Axiome vollständig definiert. Da sie ohne die Axiome keine Bedeutung haben, sind sie somit impliziert definiert.
Da im Formalismus alle Widersprüche ausgeschlossen sind, muß in formalistischen Systemen jede widerspruchsfrei gestellte Frage eindeutig zu beantworten sein, auch wenn die Antwort, wie beim großen Fermat-Problem noch nicht gefunden ist. Fermat vermutete, daß man für die Gleichung xn+yn=zn (nI , n>2) keine ganzzahlige Lösung finden kann. Gemäß den Formalisten muß es für diese Gleichung ein Lösungstripel geben, oder eben nicht.
Einen schweren Schlag erlitt die formalistische Ansicht durch Kurt Gödel. Er konnte beweise, daß ein System, das formal widerspruchsfrei ist, seine Widerspruchsfreiheit nicht mit den eigenen formalen Mitteln nachweisen kann. Dadurch erwies sich Hilberts Programm im strengen Sinn als undurchführbar.
Die Platonisten haben ein anderes Bild von der Mathematik. Die Platonisten geht davon aus, daß die mathematischen Objekte tatsächlich in ihrem eigenen "Universum" existieren, ganz egal, ob sie uns bereits bekannt sind, oder nicht. Sie waren schon immer da, und können nur noch von uns entdeckt werden. Jede Frage über ein Objekt aus diesem Reich ist eindeutig zu beantworten, auch wenn der Lösungsweg noch unbekannt sein mag. Das ist ein grundlegender Unterschied zur formalistischen Auffassung, nach welcher mathematische Objekte nur dann existieren, wenn sie definiert sind. Allerdings erkennen sie die gleichen mathematischen Spielregeln an wie die Formalisten. Die folgenden Ansätze versuchen auf eine andere Art sichere Grundlagen zu schaffen.
Für die Konstruktivisten, allen voran L.E.J. Brouwer hat die Mathematik nicht nur einen formalen, sondern auch einen inhaltlichen Sinn. Die mathematische Gegenstände werden vom denkenden Geist begriffen. Die Mathematik ist daher unabhängig von der Erfahrung.
Für sie existiert nur, wofür ausgehend von intuitiv gewissen Grundlagen ein eindeutiger Weg angegeben werden kann, auf dem die fraglichen mathematischen Gebilde konstruiert werden können. Die Reihe der natürlichen Zahlen ist intuitiv gegeben und nicht anders denkbar. Folglich existieren die natürlichen Zahlen im mathematischen Sinne. Weiters sind alle Zahlen existent, die sich eindeutig konstruieren lassen. Da es ein Verfahren gibt, mit dem sich die Quadratwurzel aus zwei auf beliebig viele Dezimalen berechnen läßt, ist auch sie existent.
Das gleiche Prinzip gilt für Sätze. Ein Beweis kann als Konstruktion, wie ein Satz als wahr festgestellt werden kann, aufgefaßt werden. Ein Satz ist nur wahr, wenn es einen konstruktivistischen Beweisgang gibt.
Was sich nicht konstruieren läßt, hat für Brouwer keine Existenz. Es konnte zum Beispiel gezeigt werden, daß es eine Gruppe von irrationalen Zahlen gibt, die nicht Lösungen von algebraischen Gleichungen sein können, die sogenannten transzendenten Zahlen. Da man bei einer vorliegenden Zahl aber nicht entscheiden kann, ob sie algebraisch oder transzendent ist, haben solche Zahlen bei Brouwer keine Existenz.
Der Konstruktivismus wird nur von einer kleinen Zahl von Mathematikern vertreten. Der wichtigste von ihnen ist L.E.J Brouwer. Ein Grund dafür ist wohl ihre Interpretation der Axiome der Logik. Die Konstruktivisten lassen nämlich den Satz vom ausgeschlossenen Dritten nur eingeschränkt gelten. Im Endlichen wird er auch von den Konstruktivisten anerkannt, wenn aber eine Aussage über das Unendliche gemacht wird, so ist er nicht mehr gültig. Demnach kann ein Satz nicht nur wahr oder falsch, sondern auch unentscheidbar sein.
Brouwer benutzte die Fermat'sche Vermutung, um seinen Standpunkt zu erklären. Bis heute gibt es keine Lösung dafür. Brouwer hält es nun für möglich, daß es überhaupt keine Lösung gibt.
Da auch die Methode des indirekten Beweises auf dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten beruht, lassen die Konstruktivisten, diese Art der Beweisführung nicht zu. Sie bemühen sich um konstruktivistischen Beweise, was ihnen in einigen Fällen gelingt. Einige Sätze, wie zum Beispiel das Gesetz der Trichotomie, welches besagt, daß jede Zahl entweder positiv, negativ, oder Null ist, gelten für sie aber immer noch nicht.
Ebenfalls durch die Probleme, die zu Anfang des Jahrhunderts bestanden, angeregt, versuchten die Logizisten die Mathematik auf die Logik zurückzuführen. Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung sind G. Frege (1848-1925), N. Whitehead (1861-1947) und B. Russell (1872-1970).
Zu Beginn zeigte sich, daß die Logik selbst einer neuen Darstellung bedurfte. Frege entwickelte eine Begriffsschrift, die von Whitehead und Russell zum mathematischen Logik weiterentwickelt wurde. Sie ist eng an die Symbole der Algebra angelehnt, um eine möglichst exakte Darstellung zu erreichen.
Die logizistische Definition der natürlichen Zahlen ist auf G. Frege zurückzuführen. Sie geht davon aus, daß jeder Menge eine Zahl zugeordnet werden kann. Jenen Mengen, die drei Elemente enthalten (Tripel), wird die Zahl Drei zugeordnet. Die Drei ist umgekehrt die Menge aller Tripel, also eine Menge von Mengen.
Weiters muß man feststellen können, ob Mengen tatsächlich gleich viele Elemente enthalten, ohne sie abzuzählen, da die Zahlen ja noch nicht definiert sind. Diese Feststellung ist nicht sehr kompliziert. Zwei Mengen müssen immer dann gleich viele Elemente haben, wenn man jedem Element einer Menge eindeutig eines aus einer anderen Menge zuordnen kann und umgekehrt.
Damit ist die Basis für die Definition der natürlichen Zahlen gegeben. Um die Null zu definieren bildet man den Begriff "nicht gleich sich selbst". Logischerweise muß die Menge die durch diesen Begriff definiert wird leer sein. Die Null ist nun die Zahl die durch diesen Begriff eindeutig definiert.
Die leere Menge ist die einzige Zahl, die die Null ausdrücken kann. Der Begriff "gleich Null" kann deshalb nur eine Menge, also die Eins, ausdrücken.
Per vollständiger Induktion erhält man dann alle weiteren Zahlen. Es sei a Element einer Menge F. Dann kann eine Menge bilden, die alle Elemente von F außer a enthält. Wenn diese neue Menge die Zahl n aussagt, so folgt, daß F die Zahl n+1 aussagt. Auf diese Weise ist der Nachfolger einer Zahl definiert. Aus dieser Definition folgt weiters, daß es unendlich viel natürlich Zahlen geben muß.
Die Erweiterung des Zahlenbegriffs über negative bis hin zu transfiniten Zahlen wurde von B. Russell und N. Whitehead vorgenommen. Alle Arten von Zahlen sind grundverschieden. Es ist daher falsch anzunehmen, daß im Logizismus die natürlichen Zahlen Sonderfälle von rationalen Zahlen sind.
Um positive und negative Zahlen auszudrücken führten sie die Operanden +1 und -1 ein. Wenn man mit negativen Zahlen rechnet, ist +1 anders definiert als die natürliche Zahl 1.
Ein Bruch ist als Beziehung zwischen zwei natürlichen Zahlen. m/n ist die Beziehung zwischen den Zahlen x und y, wenn nx=my gilt. Wie beim Rechnen mit negativen Zahlen gilt auch für das Rechnen mit rationalen Zahlen, daß 2/1 nicht der natürlichen Zahl 2 entspricht.
Die Definitionen der irrationalen, komplexen und transfiniten Zahlen übersteigen den Rahmen dieser Arbeit, und werden nicht angeführt.
Alle logizistischen Sätze sind Tautologien. Sie sind zwangsweise wahr, da sie von der Form "A oder nicht-A" sind. Dafür werden die Logizisten oft kritisiert. Zu sagen "Ich kann fliegen oder ich kann nicht fliegen", entbehrt jeglichen Inhaltes. Also, müßte die gesamte Mathematik ohne Inhalt sein. Weiters wird angemerkt, daß die Logik zur Durchführung des logizistischen Programms in eine symbolisierte Form gebracht wurde. Für eine solche Symbolisierung sind gewisse mathematische Kenntnisse notwendig. Wenn die Logik ihrerseits aus der Mathematik entspringt, dann ist hier ein Zirkel entstanden.
Gerhard
Frey: Einführung in die
philosophischen Grundlagen der Mathematik
Hermann
Schroedel Verlag, 1968, Bestell-Nummer 3044
Hermann
Weyl: Philosophie der
Mathematil und Naturwissenschaft
R. Oldenburg
Verlag, 1990, ISBN 3-486-46796-4
Philip
J. Davis; Reuben Hersch:
Erfahrung Mathematik
Birkhäuser
Verlag, 1981, ISBN 3-7643-2996-3
Jeanne
Pfeiffer; Amy Dahan Dalmedico: Wege und Irrwege - Eine Geschichte der Mathematik
Birkhäuser
Verlag, 1994, ISBN 3-7643-2561-5
Underwood
Dudley: Mathematik
zwischen Wahn und Witz
Birkhäuser
Verlag, 1985, ISBN 3-7643-5145-4
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