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Chaos

Es gibt kein Gesetz, mit Ausnahme des einen, daß es kein Gesetz gibt.

(John A. Wheeler)



Inhalt


Aller Anfang ist Chaos


Die nichtlineare Gleichung


Deterministisches Chaos


Beispiele zur Chaosforschung


Attraktoren


Fraktale Geometrie
Aller Anfang ist Chaos




Alte Völker glaubten, die Kräfte des Chaos und der Ordnung seien ein Teil einer unbehaglichen Spannung. Sie stellten sich etwas Unermeßliches und Kreatives vor. "Tohu wabohu" - die Erde war wüst und leer, das Chaos vor der göttlichen Schöpfung (Altes Testament, 1. Buch Mose). Kosmologien aller Kulturen stellten sich einen Anfangszustand vor, in dem Chaos oder Nichts vorherrschten, aus dem die Wesen und die Dinge hervorbrachen.


In der babylonischen Schöpfungsgeschichte hieß das Chaos Tiamat, die Urmutter des Alls. Diese Götter verkörperten die verschiedenen Gesichter des Chaos. Zu Beispiel gab es einen Gott, der die grenzenlosen Weiten ursprünglicher Gestaltlosigkeit symbolisierte, und einen Gott, der Verborgenere genannt, der die Unberührbarkeit und Nichtwahrnehmbarkeit darstellte, die im Chaos lauert. Die Lehre, daß das Chaos doch einer gewissen Ordnung unterliegt, wie es in der modernen Wissenschaft dargestellt wird, mußte noch Tausende von Jahren warten.


Die mythische Vorstellung, daß die kosmische Schöpferkraft auf einer wechselseitigen Beziehung zwischen Ordnung und Unordnung beruht überlebte sogar noch die monotheistischen Kosmologien wie die des Christentums. Es ist die Rede vom Kampf der Gottheit gegen die Mächte des Chaos. Die Sintflut, Satan und die Peiniger Jesu Christi wurde als böse Gesandten des Chaos gesehen.


Schon das Wort Unordnung legt nahe, daß Ordnung der Unordnung vorangeht und sie überragt. Die griechischen Philosophen impften dem Chaos eine wissenschaftliche Haltung ein. Thales, Anaximander und Anaxagora schlugen vor, daß eine besondere Substanz oder Energie - wie Wasser oder Luft - in chaotischer Bewegung gewesen sei und daß aus dieser Substanz heraus die verschiedenen Gestalten im Universum herauskristallisiert wären. Aristoteles distanzierte sich noch weiter vom Chaos. Er spekulierte daß die Ordnung alles durchdringt und immer raffinierter und komplexer wird.


Das Mittelalter vermischte die Theorien und stellte sie gegenüber. Zur Zeit Galileis, Keplers, Descartes' und Newton hatte der wissenschaftliche Geist mit seiner Unterdrückung des Chaos die Oberhand gewonnen. Newtons Gesetze der Himmelsmechanik und Descartes' Koordinaten erweckten den Anschein, daß alles mathematischen oder mechanischen Grundsätzen unterliegt.

Man konnte sich vorstellen, daß eines Tages eine einzige mathematische Gleichung reicht, um alles zu erklären.


Das 19. Jahrhundert aber stellte diesen Zauber auf eine harte Probe. Zum Beispiel hatten schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts Forscher begonnen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum es ihnen nicht gelang, eine sich für immer bewegende Maschine, ein Perpetuum mobile, zu erfinden. Dummerweise stellte sich beim Betreiben jeder Maschine heraus, daß ein Teil der eingespeisten Energie in eine Form überging, die man nicht zurückgewinnen und wiederbenutzen konnte. Die Energie war desorganisiert, chaotisch geworden. Dies führte zum Entropiegesetz und zur Begründung der Wärmelehre oder Thermodynamik. Bedeutet die Tatsache, daß jede Maschine ständig neue Energie braucht und daß alle Gestalten unausweichlich unter der Lawine der Entropievermehreung zermalmt werden und zerfallen, bedeutet dies, daß das Chaos im Prinzip ebenso mächtig ist wie die Ordnung?.




In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann der Herausforderung zu begegnen, indem er bewies, daß Newtons Mechanik trotz allem auf dem reduktionistischen Niveau (Reduktion: das Zurückführen; Reduktion eines komplizierten Sachverhalts oder Begriffes auf einen einfachen) der Atome und Moleküle gültig ist. Nur wird es in komplizierten Systemen, wo Trillionen von Atomen und Molekülen herumtorkeln und einander stoßen, immer weniger wahrscheinlich, daß diese geordnete Beziehungen zueinander aufrechterhalten. Boltzmann führte die Wahrscheinlichkeit in die Physik ein.


Charles Darwin und Alfred Russel Wallace stellten eine Theorie auf, die erklärte wie neue Lebensformen erscheinen. Der Zufall führte dabei nicht zum Durcheinander und Zerstörung komplexer Ordnung, sondern erzeugt hier Zufallsvariationen und Individuen wie es eben nur das Leben schafft. Die Menschheit sah sich nun als Ergebnis unwahrscheinlicher Zusammenstöße.


Als die Ingenieure des 19. Jahrhunderts ihre neuen Brücken, Dampfschiffe und anderen technischen Wunderwerke errichteten, so begegnete ihnen immer wieder Unordnung in Form plötzlicher Veränderungen, die so ganz anders waren als das langsame Wachstum der Entropie. Platten wölbten sich unerwartet auf, und Baustoffe brachen. Solche Erscheinungen forderten die Mathematik heraus. Der Wissenschaft erschien ein Phänomen gesetzmäßig, wenn die Bewegungen sich im Sinne eines Schemas von Ursache und Wirkung durch eine Differentialgleichung darstellen ließen. Newton führte die Idee des Differentials erstmals in seinen berühmten Bewegungsgleichungen ein, die zeitliche Veränderungen mit Kräften in Beziehung setzten. Von nun an verließen sich die Wissenschaftler auf lineare Differentialgleichungen. Kleine Wirkungen rufen kleine - große Veränderungen große Wirkungen hervor. Große Wirkungen kommen zustande, indem sich kleine Veränderungen aufsummierten. Das sollte allerdings nicht der Weisheit letzter Schluß sein.


Es gibt nämlich auch noch nichtlineare Gleichungen. Sie kommen in der Beschreibung unstetiger Vorgänge vor - wie etwa Explosionen, plötzlichen Materialbrüchen oder hohen Windgeschwindigkeiten. Mathematiker konnten nur die allereinfachsten nichtlinearen Gleichungen in Spezialfällen lösen, und allgemeines nichtlineares Verhalten blieb ein Geheimnis. Um die mechanischen Meisterleistungen jedoch zu vollbringen, war es notwendig auf "lineare Näherungen" zurückzugreifen. Diese sind eine besondere Art der Differentialgleichung. Sie stützen sich auf vertraute Intuitionen und den zuverlässigen reduktionistischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Noch einmal hatten die Wissenschaftler den alten reduktionistischen Zauber wirksam erhalten.


Dieser Zauber hielt bis in die siebziger Jahre an, als mathematische Fortschritte und das Aufkommen immer schnellerer Computer die Wissenschaftler in die Lage versetzten, komplexe und nichtlineare Gleichungen zu untersuchen. Diese seltsame Art der Mathematik trieb die turbulente Wissenschaft an.
Die nichtlineare Gleichung


Als eine Faustregel für die Unterscheidung zwischen linearen und nichtlinearen Systemen kann gelten: Während ein lineares System exakt die Summe seiner Teile darstellt, umfaßt ein nichtlineares stets mehr als die Summe seiner Einzelteile. Wer nichtlineare Gleichungen löst, bewegt sich scheinbar in einer normalen mathematischen Landschaft, kann sich aber ganz plötzlich in einer anderen Wirklichkeit wiederfinden. In einer nichtlinearen Gleichung kann die winzige Anderung einer Variablen eine völlig unverhältnismäßige, ja katastrophale Wirkung auf andere Variable haben. Während die Beziehungen zwischen den Elementen konstant sein mögen, ändert ich dies plötzlich an einem kritischen Punkt und die das System beschreibende Gleichung schießt in einen Bereich völlig anderen Verhaltens. Die Werte schnellen auseinander. Bei linearen Gleichungen erlaubt die Untersuchung einer Lösung, das Ergebnis auf andere Lösungen zu verallgemeinern; bei nichtlinearen Gleichung ist das anders. Nichtlineare Gleichungen sind eigenbrötlerisch und absonderlich.


Anders als die schönen glatten Kurven zeigen nichtlineare Gleichungen Lücken, Schleifen, Rekursionen und Turbulenzen aller Art. Mit ihnen kann man beschreiben wie ein Erdbeben losbricht. Die Gleichung zeigt, wie beim Zusammenquetschen der unter der Oberfläche verborgenen Landschaft diese Spannung jahrzehntelang allmählich steigt, bis plötzlich ein Millimeter ausreicht um einen kritischen Wert zu erreichen. Bei diesem Wert macht die Spannung einen Sprung, wobei die einen Platte über die andere gleitet und den Boden in dieser Gegend heftig erdbeben läßt. Diesem ersten Stoß folgen weitere Instabilitäten.


Nichtlineare Gleichungen können solches Chaos darstellen, wie sich derart komplexe Ereignisse entfalten, sie erlauben aber keinesfalls, genau vorherzusagen, wo und wann das nächste Beben zu erwarten ist. Vorhersagen sind sowohl praktisch als auch theoretisch unmöglich. Das Nichtlineare ist der Alptraum der Reduktionisten.


Die Gleichungen der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie sind im wesentlichen nichtlinear, und besonders das Schwarze Loch, ein Riß im Gewebe der Raumzeit, wo die ordentlichen Gesetze der Physik versagen. Systemtheoretiker rechnen mit nichtlinearen Gleichungen und schaffen es dadurch, die Wirkungen verschiedener Planungsstrategien auf die Entwicklung von Städten und das Wirtschaftswachstum darzustellen. Es lassen sich kritische Punkte aufspüren, die eine unverhältnismäßig große Wirkungen hervorbringen würden.


Ein wichtiger Unterschied zwischen linearen und nichtlinearen Gleichungen ist die Rückkoppelung - d. h. in nichtlinearen Gleichungen gibt es Terme, die wiederholt mit sich selbst multipliziert werden. Ein jedermann vertrautes Rückkoppelungssystem ist auch die Regelung der Hausheizung. Sinkt die Zimmertemperatur unter den Wert, der auf dem Thermostat eingestellt wurde, so antwortet der Thermostat, indem er den Brenner einschaltet, und es wird wärmer. Steigt die Zimmertemperatur aber über eine zweite, auf dem Thermostat eingestellte Temperatur, so meldet dieser dem Brenner, daß er abschalten muß. Was der Thermostat tut, beeinflußt den Brenner, aber ebenso beeinflußt das, was der Brenner tut, den Thermostaten. Dies nennt man negative Rückkoppelung. Weitere mathematische Modelle für die negative Rückkoppelung finden sich in der Beziehung zwischen Raubtier und Beute und der amerikanische Verfassung.


Erst in den vierziger Jahren erkannte man das eigentliche Wesen negativer Rückkoppelungsschleifen. Und somit auch die positive Rückkoppelung. Das ohrenbetäubende Pfeifen einer öffentlichen Lautsprecheranlage ist ein Beispiel dafür. Es setzt schlagartig ein, wenn das Mikrophon zu nahe an den Lautsprecher kommt. Das Mikrophon fängt etwas aus dem Lautsprecher auf und schickt es zurück in den Verstärker, der es wiederum an die Lautsprecher weitergibt. Das chaotische Geräusch resultiert aus einem Verstärkungsprozeß, in dem das Ausgangssignal einer Stufe zum Eingangssignal einer anderen wird.


Die Namen positiv und negativ bedeuten, das der eine Typ hemmt und der andere verstärkt. Heute weiß man, daß diese beiden Arten überall vorkommen: auf allen Ebenen des Lebendigen, Evolution, Ökologie und Psychologie. Die Rückkoppelung verkörpert wie die Nichtlinearität eine grundsätzliche Spannung zwischen Ordnung und Chaos.
Deterministisches Chaos


Unter Determinismus versteht man eine Form der Weltsicht, nach der alle Ereignisse und Vorgänge auf der Welt durch klare mathematische, physikalische oder chemische Gesetzmäßigkeiten ablaufen. Im religiösen Determinismus steht der Wille Gottes hinter allem Geschehen. Damit setzt sich die Chaosforschung in bewußten Gegensatz zu dem reduktionistischen Weltbild der klassischen Newtonischen Mechanik, der einfachen Kausalität (Zusammenhang von Ursache und Wirkung) und strengen Determination. Mit dieser Weltsicht gaben sich die Chaosforscher jedoch nicht mehr zufrieden. Wo Chaos beginnt, hört die klassische Wissenschaft auf. Die Definition von Chaos als geordnete Unordnung hat meist den Beigeschmack, da Chaos im Alltag für Durcheinander und Regellosigkeit steht.


Systemforscher gehen davon aus, daß keine exakt gleichen Ursachen existieren. Der amerikanische Wissenschaftler Marvin Minsky ist der Ansicht, daß es in einer Welt, in der sämtliche Ereignisse und Vorgänge in mehr oder weniger gleichem Umfang von allen anderen Geschehen abhängig sind, keine einfachen Ursachen mehr geben kann.


In der modernen Naturwissenschaft bezeichnet der Begriff des Deterministischen Chaos das Verhalten nichtlinearer Systeme, daß prinzipiell nicht vorhersagbar ist. Obwohl diese Systeme selbst streng naturgesetzlichen Kräften unterliegen und von diesen determiniert werden, sind sie aufgrund ihrer vielfachen Rückkoppelungen und ihrer Komplexität extrem abhängig von den jeweiligen Anfangsbedingungen. Wie beim Schmetterlingseffekt können sich mikroskopisch (nur mit Mikroskop erkennbar) kleinste Schwankungen innerhalb kurzer Zeit zu makroskopisch (mit freiem Auge erkennbar) größten Veränderungen entwickeln. Chaotisches Verhalten zeigt dabei im Gegensatz zu rein zufälligen oder nur wahrscheinlichen Vorgängen - wie etwa beim Würfeln - tiefreichende Strukturen und Ordnungsmuster, auch Attraktoren genannt.


Bei der Untersuchung des deterministischen Chaos, geht es vor allem um die Instabilität von Prozessen oder Systemen gegenüber kleinen und kleinsten Abweichungen in ihren Anfangsbedingungen. Ist das System chaotisch - wie das Wetter oder Turbulenzen - kommt es bei minimalen Abweichungen von den jeweiligen Anfangsbedingungen bereits nach kurzer Zeit zu höchst unterschiedlichen Formen und Gestalten. Diese sensitive Abhängigkeit ist dafür verantwortlich, daß sich chaotische Systeme nicht vorhersagen lassen, da solche Anfangs, oder Randbedingungen nicht exakt bestimmbar sind.


Die grundlegende Aussage der Chaosforschung lautet also: Vorhersagen über nichtlineare und dynamische Systeme sind nicht möglich. Exakt gleiche Ursachen haben zwar weiterhin exakt gleiche Wirkungen - aus diesem Grund spricht man auch vom determinstischen Chaos - aber realistisch gesehen gibt es weder exakt gleiche Ursachen, noch können die jeweiligen Anfangsbedingungen genau ermittelt werden. An die Stelle von deterministischen Kausalbeziehungen treten Nichtlinearität und rückgekoppelte Wechselwirkungen.


Das bedeutet, daß überall Chaos herrscht, auch in scheinbar einfachen Systemen.
Beispiele zur Chaosforschung


Schmetterlingseffekt:


Der Meteorologe Edward N. Lorenz entdeckte im Jahr 1963 den Schmetterlingseffekt bei dem Versuch, per Computer die Wettervorhersage zu präzisieren. Als er mit dem Computer eine Berechnung wiederholte, stellte er fest, daß sich die neue Zahlenreihe - der Wetterverlauf - stark von der vorherigen unterschied. Zunächst dachte er an einen Computerfehler, doch bei genauerer Betrachtung entdeckte er die tatsächliche Ursache: Lorenz hatte den Computer ursprünglich mit sechs Dezimalstellen gefüttert - 0,506127 -, die zweite Berechnung aber nur mit 0,506 als Ausgangszahl durchgeführt, da er die verbleibende Abweichung in dem verschwindend geringen Verhältnis von eins zu 1000 für unbedeutend hielt. Doch genau diese scheinbar zu vernachlässigende Differenz - im übertragenen Sinn vergleichbar mit dem durch den Flügelschlag eines Schmetterlings ausgelösten Windhauch - führt zu einer extremen Wirkung.


Das Phänomen ist weltweit als Schmetterlingseffekt bekannt. Diese starke Abhängigkeit dynamischer Systeme von den Anfangsbedingungen erklärt, warum der wissenschaftliche Glaube an die Wettervorhersage ein Wunschdenken sein muß: Entgegen den logischen Voraussetzungen der klassischen Mechanik, wonach kleine Ursachen nur kleine Wirkungen haben, können in komplexen, nichtlinearen Systemen nämlich gerade kleinste Ursachen allergrößte Wirkung nach sich ziehen.


Die große Woge:


In seinem Farbholzschnitt "Die große Woge" hat der japanische Maler des 18. Jahrhunderts, Katsushika Hokusai, all die Aspkekte der fraktalen Welt, in die wir eintreten werden, aufs herrlichste eingefangen. Diese unnatürliche Welle wird als "Soliton" oder solitäre Welle bezeichnet. Ein Ingenieur und Schiffsbauer namens Russel machte eines Tages im Jahre 1834 eine Entdeckung die ihn sein lebenlang nicht mehr losließ. Durch Zufall ergab es sich, daß ein normales Schifferboot eine Riesenwelle auslöste. Russel verfolgte die Welle bis er sie aus den Augen verlor. Sie sollte zum Ausgangspunkt seiner revolutionären Entwürfe von Schiffsrümpfen werden.


Die Physiker haben eine Technik entwickelt, die es ihnen erlaubt, sich eine beliebig komplizierte Wellenform als Kombination von lauter Sinuswellen vorzustellen. Die Sinuswelle ist die einfachste Form, die eine Welle annehmen kann. Jede Sinuswelle ist durch ihre Frequenz charakterisiert. Fügt man mehrere einfache Sinuswellen zusammen, so erzeugen sie eine komplexere Gestalt. Der Wasserhügel, der eine Welle auf der Oberfläche eines Kanals ausmacht, läßt sich als Zusammensetzung einer Menge von Sinuswellen beschreiben, die alle verschiedene Frequenzen haben. In Wasser pflanzen sich aber Wellen verschiedener Frequenz mit verschiedenen Geschwindigkeiten fort. Weil es nichts gibt, was diese verschiedenen Frequenzen zusammenhalten könnte, verändert der Hügel dieser komplexen Welle seine Form; der Gipfel beginnt sich aufzusteilen und die Hauptmasse zu überholen. Die Auflösung von Wellen in viele kleinere Störungen und schließlich das Brechen im Chaos nennt man Dispersion.




Offensichtlich aber trat in der von Russel beobachteten Welle keine Dispersion auf. Heute weiß man, daß die Welle, die Russel sah, ihre Stabilität nichtlinearen Wechselwirkungen verdankte, die die individuellen Sinuswellen aneinanderkoppelten. Diese Nichtlinearitäten wurden in der Nähe des Kanalbodens wirksam und brachten die einzelnen Sinuswellen dazu, sich aneinander zurückzukoppeln, so daß sie gewissermaßen das Gegenteil von Turbulenz erzeugten. So schaukelte sie sich nicht bis zum Brechen auf, sondern koppelten sich bei einem kritischen Wert die Sinuswellen aneinander. Wenn eine Sinuswelle versuchte, schneller zu werden und aus dem Soliton zu entwischen, so wurde sie durch ihre Wechselwirkung mit den anderen zurückgehalten.


Vergleichbar ist dieses Phänomen mit einem Marathonlauf. Wenn das Rennen beginnt, fangen die Läufer an, sich voneinander zu trennen, und nach kurzer Zeit ist der Haufen weit verteilt. Dies ist genau das, was einer gewöhnlichen Welle zustößt. Eine solitäre Welle jedoch ähnelt der Gruppe der besten Läufer in diesem Rennen. Meile um Meile bleiben sie durch Rückkoppelung miteinander verbunden. Sobald einer versucht, sich nach vorne zu schieben, holen die anderen auf, und die Gruppe hält zusammen.


Russel entdeckte rasch, daß eine hohe, dünne Welle eine kurze, dicke verfolgen und sie einholen konnte. Er fand auch heraus, daß die Existenz dieser Wellen mit der Tiefe des Kanals zu tun hatte. Wäre der Union Canal viel tiefer gewesen, so hätte er sein Soliton wohl nie gesehen. Russel war vorausblickend genug, um klar zu sehen, daß die Bedeutung seiner Translationswelle weit über den Union Canal hinausreichen würde. Es gelang ihm, durch Anwendung der Prinzipien dieser Welle zu beweisen, daß man den Knall einer fernen Kanone stets vor dem Abschußbefehl hört, weil der Kanonenschall sich als solitäre Welle ausbreitet, die eine höhere Fortpflanzungsgeschwindigkeit besitzt.


Turbulenz:


Überall in der Natur herrscht Turbulenz: in Luftströmungen, in rasch fließenden Flüssen beim Umspülen von Felsen oder Brückenpfeilern, in der glutflüssigen Lava, die sich von einem Vulkan herabwälzt, oder in Wetterkatastrophen wie Taifungen und Flutwellen. Öl will nicht rasch genug durch die Pipeline flißen; Pumpen und Turbinen oder auch Lastwagen auf der Autobahn beginnen zu rütteln, Kaffeetassen im Flugzeug schwapen über. Turbulenz im Blut kann Adern beschädigen, indem sie zur Ablagerung von Fettsäuren auf den Gefäßwänden führt.


Die Turbulenz hat schon früher die großen Denker fasziniert. Einer der ersten war Leonardo da Vinci, der viele Studien anstellte und geradezu von der Idee besessen war, daß eines Tages eine große Sintflut die Erde verschlingen müßte. Im 19. Jahrhundert erregte die Turbulenz die Aufmerksamkeit von Physikern wie von Helmholtz, Lord Kelvin, Lord Raleigh und eine ganze Schar weniger bekannter Wissenschafter, die wesentliche experimentelle Beiträge lieferten. Trotzdem blieb sie ein vernachlässigtes Forschungsgebiet, das Gebiet blieb für die Forschung ziemlich undurchsichtig.

Der Grund für das jüngste Interesse an Systemen mit so vielen Freiheitsgraden und so unermeßlich komplexer Dynamik liegt teilweise in der Fülle neuer raffinierter Untersuchungsmethoden, die es ermöglichen, mitten in turbulente Ereignisse hineinzugehen und dort Daten über die Vorgänge zu gewinnen. Die Entwicklung der superschnellen Computer erlaubt es den Forschern, die überquellende Vielfalt der Ergebnisse jener nichtlinearen Gleichungen graphisch darzustellen, die man benützt, um Turbulenz mathematisch zu verfolgen. Trotzdem lassen sich die Gesetze der Turbulenz nur allmählich erschlißen. Die meisten Fotschritte betreffen noch immer nur die ersten Schritte auf dem Weg zu Turbulenz.


Ein großer Stein legt sich dem Bach in den Weg, aber dieser teilt sich einfach und umfließt das Hindernis glatt und geschmeidig. Fügt man dem Wasser Farbteilchen hinzu, so lassen sie Strömungslinien sichtbar werden, die sich um den Stein herumlegen und sich nicht weit voneinander entfernen oder in irgendeiner Weise durcheinander geraten.


Mit Regen strömt der Fluß ein wenig schneller dahin. Nun bilden sich hinter dem Stein Wirbel (Grenzzyklen). Diese sind recht stabil und neigen dazu, sich lange Zeit hindurch an der gleichen Stelle zu halten.


Mit wachsender Srömungsgeschwindigkeit lösen sich Wirbel ab und treiben den Bach hinunter, wobei sie den störenden Einfluß des Steins weit die Strömung hinab tragen. Im Sommer hätte eine bachabwärts vorgenommene Messung der Fließgeschwindigkeit ein recht gleichmäßiges, fast konstantes Ergebnis erbracht. Nun aber schwankt die Fließgeschwindigkeit periodisch aufgrund der mittransportierten Wirbel.


Nimmt die Strömungsgeschwindigkeit noch weiter zu, so kann man beobachten, wie die Wirbel ausfransen und scheinbar zusammenhanglose Bereiche wallenden, strudelnden Wassers erzeugen. Zusätzlich zu den periodischen Schwankungen des Flusses kommen nun viel schnellere, unregelmäßige Anderungen: die ersten Vorstufen der Turbulenz.


Wenn schließlich das Wasser mit höchster Geschwindigkeit fließt, so scheint das Gebiet aller Ordnung enthoben zu sein und Messungen der Strömungsgeschwindigkeit liefern dort chaotische Ergebnisse. Echte Turbulenz hat eingesetzt, und die Bewegung jedes winzigen Wasserteilchens scheint völlig zufällig geworden zu sein. Das Gebiet hat nun so viele Freiheitsgrade, daß alles Vermögen der heutigen Wissenschaft nicht ausreicht, um es zu beschreiben.


Im Verlauf der Entstehung von Turbulenzen kommt es anscheinend zu unendlich vielen Teilungen und immer weiteren Unterteilungen oder Verzweigungen auf immer kleinerer Skala. Gibt es für ihre Anzahl eine Grenze? Eine Flüssigkeit besteht ja schließlich aus Molekülen. Ist es denkbar, daß wahre Turbulenz bis ganz hinunter auf das molekulare Niveau anhält - oder gar darüber hinaus?


Es liegt nahe, sich vorzustellen, daß Systeme am Rande der Turbulenz sich auf immer kleineren Skalen selbst ähnlich bleiben.
Attraktoren


Kleine und kleinste Ursachen beziehungsweise Unterschiede bei den Anfangsbedingungen in rückgekoppelten Systemen erzeugen größte Wirkungen und unvorhersehbare Abweichungen. Auf die Frage: "Wie stabil ist unser Sonnensystem?" gab es grundsätzlich keine Antwort. Erst mit Hilfe des Computers und dessen riesigen Kapazitäten zur Datenverarbeitung gelang es, die für de Verlauf der drei unterschiedlichenHimmelskörperbahnen notwendigen Differentialgleichungen zu berechnen. Die Ergebnisse zeigten, daß chaotisches Verhalten dennoch differenziert geordneten Mustern folgt, die man auch Attraktoren nennt.


Diese Attraktoren beschreiben die Systemzusände, auf die sich das Gesamtsystem einschwingt. In der dynamischen Systemforschung gibt es im wesentlichen vier Attraktoren: den Fixpunkt, den Grenzzyklus, den Torus und den seltsamen (chaotischen) Attraktor.


Der Lorenz-Attraktor veranschaulicht, warum schon mittelfristige Wettervorhersagen unmöglich sind: Innerhalb der "Wolke der Ungewissheit" verliert sich der vorhersagbare Verlauf des Wetters nach kurzer Zeit - es liegt dann buchstäblich irgendwo auf dem Attraktor. Insgesamt allerdings entwickelt sich das Wetter somit niemals rein zufällig, sondern folgt wie andere chaotische Systeme dem Prinzip "lokal unvorhersagbar, global stabil".


Könnte man alle Anfangsbedingungen exakt bestimen, wäre auch - zumindes rein theoretisch - deterministisches Chaos bei Kenntnis seiner verhaltensbestimmenden Attraktoren vorhersagbar. Praktisch scheint das allerdings unmöglich, da aufgrund der physikalisch unaufhebbaren Unschärfen und Meßprobleme die anfänglichen Systemzustände niemals alle genau gemessen, berechnet oder wiederhergestellt werden können.


Die Chaostheorie hat vor allem im Rahmen der Attraktorenforschung demonstriert, daß sich im vermeintlichen Chaos und unvorhersagbarem Systemverhalten dennoch eine ganze Menge geordneter Strukturen erkennen lassen.


Dies gilt vor allem für die Entdeckung sogenannter Bifurkationen (Lat. Bi: zwei, furca: Gabel). Dabei handelt es sich um eine Art Gabelung oder Verzweigung in einem System, das sich an entsprechenden Bifurkationsstellen zwischen zwei oder auch mehreren Wegen entscheiden muß.


Der Chaosforscher Otto E. Rössler gelang es nachzuweisen, daß die Tropfen eines Wasserhahns nicht beliebig, sondern - vereinfacht ausgedrückt - geordnet fallen: zunächst zwei Tropfen, dann vier, acht 16 usw. Diese Regelmäßigkeit nennen Chaosmathematiker Periodenverdoppelung.


Dem amerikanischen Mathematiker Mitchell Feigenbaum und dem deutschen Physiker Siegfried Grossmann gelang mit dem sogenannten Feigenbaum-Szenario schließlich der Nahcweis, daß solche Bifurkationen und Periodenverdoppelungen von universeller Gültigkeit sind - unabhängig davon, ob es sich beispielsweise um turbulente Flüssigkeiten, strömende Gase, akustisches Rauschen oder biologische Prozesse wie das Bevölkerungswachstum im jeweiligen ökologischen Rahmen handelt. Al geradezu sensationell empfinden viele Chaosforscher die Tatsache, wonach Bifurkationen so regelmäßig verlaufen, daß sie, ebenso wie die Ludolphsche Zahl Pi durch eine Universalkonstante bestimmt werden können: der sogenannten Feigenbaumschen Zahl d = 4,669201. Dies ist eine universell gültige Konstante, der alle sprunghaften Übergänge in der Natur folgen.

Der Mathematiker Heinz-Otto Peitgen hat die grundlegenden Prämissen, Einsichten und Zusammenhänge dieser zukunftsweisenden Erforschung des Chaos und der nichtlinearen Dynamik folgendermaßen zusammengefaßt:


1. Viele Phänomene und Systeme sind in ihrem Verhalten trotz streng naturgesetzlichen Determinismus prinzipiell nicht vorhersagbar.

2. Das Chaos selbst ist nicht regellos, es gibt vielmehr eine Ordnung und Struktur im Chaos, die sich bildlich in komplexen Mustern - Attraktoren oder Fraktalen - darstellen läßt.

3. In komplexen, nichtlinearen Systemen existieren Chaos und Ordnung gleichzeitig und nebeneinander, wobei der Übergang von der Ordnung ins Chaos in aller Regel ebenfalls streng geordnet (in Bifurkationen) verläuft.

Fraktale Geometrie


Fraktale (lat. Fractum: gebrochen) verdanken ihren Namen der Tatsache, daß ihre Dimensionen nicht ganzzahlig, sondern gebrochen sind. Zum Vergleich: Unser Gehirn hat beispielsweise die fraktale Dimension 2,79 und Wolken 2,35 - wobei die Dimension zwei einer idealen, glatten Ebene entspricht oder die Dimension drei dem geometrisch idealen Raum eines Würfels oder einer Kugel. Fraktale besitzen die Eigenschaft der Selbstähnlichkeit, d. h., daß sich ihre Strukur auf zeitlich oder räumlich höchst unterschiedlichen Maßstäben und Dimensionen gleicht und immer wieder einander ähnliche Muster erscheinen, die sich unendlich wiederholen können, ohne jemals identisch zu sein.


Die Länge der Küste Großbritanniens


Benoit Mandelbrot ist für die Fraktale Geometrie, was Einstein für die Relativitätstheorie war und Freud für die Psychoanalyse. Ihm war aufgefallen, daß die Preisschwankungen von Baumwolle auch über längere Zeiträume ein ähnliches Muster aufwiesen. Für einen Computerhersteller untersuchte er danach unerklärliche Störungen bei der Datenübertragung in Telefonleitungen, und entdeckte ähnliche Gesetzmäßigkeiten wie bei den Baumwollpreisen.


Er erkannte die Muster die bei sukzessiven Vergrößerungen immer wiederkehrten (Selbstähnlichkeit). Ein kleiner Birkenast sieht mit seinen Verzweigungen im Prinzip aus wie ein ganzer Baum. Später veröffentlichte er in der Zeitschrift "Science" einen Artikel über die Länge der Küste Englands. Für ihn war sie unendlich lang, weil je kleiner der Maßstab, desto deutlicher die gebrochenen Strukturen. Folglich ist die Küste Großbritanniens im kleinsten Maßstab betrachtet tatsächlich unendlich lang.


Das gilt für alle fraktalen Gebilde und chaotischen Systeme. Aufgrund der extremen Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen und deren komplexer, rückgekoppelter Entwicklungsdynamik gleicht tatsächlich kein Fraktal dem anderen: Keine Wolke besitzt die exakt gleiche Form einer anderen, kein Baum, kein Herz, kein Gehirn existiert in identischer Form ein zweites Mal.


Die Fraktale Geometrie beschreibt die Natur, wie sie ist: mit gebrochenen, rauhen Kanten, zerklüfteten Oberflächen und vielfach gefalteten Räumen. Denn tatsächlich hat die Wirklichkeit mit der künstlichen, idealisierten Euklidschen Geometrie und ihren glatten Geraden und Kreisen nicht viel zu tun. Ob es sich um Wolkenformationen oder Bergketten handelt, um Blitz und Donner, Blätter oder Bäume, um Lungen- oder Hirnstrukturen - überall zeigt die Fraktale Geometrie, daß die Natur im mikroskopisch Kleinen wie im makroskopisch Großen fraktale Formen hervorbringt.


Monster der Mathematik


Praktisch alle Fraktale lassen sich in der "fraktalen Computer-Asthetik" auf spektakuläre Weise durch teilweise relativ einfache Computerspiele oder nichtlineare Gleichungen erzeugen und abbilden.






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