MILCHMUSIK
FRANKFURTER VERLAGSANSTALT, 1996
von Thomas Strittmatter
Thomas Strittmatter, am 18. Dezember 1961 in St. Georgen im Schwarzwald geboren, ist am 29. August 1995 in Berlin an einem plötzlichen Herzversagen gestorben. Mit seinem Tode verlor die deutsche Literatur einen der bedeutendsten Autoren der jüngeren Generation. Für den vielseitig begabten Schriftsteller, Maler, Drehbuchschreiber und Hörspielautor stand das Thema des Todes im Zentrum seines Schaffens. Er war ein Künstler, der unbeeindruckt vom Zeitgeist auf seine besondere archaische Weise Tod und Welt zusammendachte.
Milchmusik ist die erste Veröffentlichung aus dem literarischen Nachlaß von Strittmacher. Daß er an diesem Prosaprojekt arbeitete, war seinem Umkreis durch mündliche und schriftliche Erwähnungen bekannt. In einem Brief schreibt er: 'Es handelt sich bei Milchmusik um sieben stafettenartig verquickte erzählerische Monologe. Menschen befinden sich ständig in wandelnden, geschwinder werdenden Lebenszusammenhängen, ihre Wahrnehmung verändert sich wie ihre zwischenmenschlichen Bindungen. Meine neue Prosaarbeit versucht, diese komplexen Veränderungen erzählerisch zu fassen, die Form des Monologes soll anhand von sieben autonomen, trotzdem aber zusammenwirkenden Sprachapparaten sprachlich-evolutionäre Vorträge poetisch darstellen.'
Von den ursprünglich geplanten sieben Monologen hat Strittmatter nur zwei fertigstellen können (Milchmusik fertig, Im Kolk noch in Arbeit). Trotz des nicht Ausformulierten handelt es sich bei Milchmusik um ein vom Umfang her kleines, von seinem literarischen Gewicht jedoch bedeutendes Prosawerk.
Im Nachlaß von Strittmatter existieren mehrere Fassungen und Fragmente von Milchmusik, als Manuskript auf Papier sowie digital auf Disketten, die für die Herausgabe gesichert wurden. Ein erstes Fragment beginnt mit dem Selbstgespräch eines gewissen Herren 'namens Dressler, der nie aus dem Haus ging, von wenigen Ausnahmen abgesehen', eine frühere Fassung war betitelt mit 'Mundmusik' - in Anspielung auf das Spiel mit der Maultrommel, mit der der Junge das Milchgedicht vertont und es damit vom Gewicht der Worte und des lastendes Sinnes befreit. Die dem Druck zugrundegelegte Fassung der beiden Monologe entstand voraussichtlich im zweiten Halbjahr 1992 und ist nach den bisherigen Untersuchungen die Fassung letzter Hand; diese Fassung wurde von Strittmatter selbst mehreren Personen zugänglich gemacht. Handschriftliche Korrekturen des Autors von Mitte 1993 in einer dieser Kopien wurden berücksichtigt. Bei der Herausgabe wurde auf Eingriffe in den Text weitgehend verzichtet; in der Vorbereitung zum Druck wurden im wesentlichen die notwendigen orthographischen Berichtigungen durchgeführt.
In einem Gespräch , das der Autor etwa zum Zeitpunkt des Entstehens von Milchmusik mit dem Herausgeber führte, erwähnte er die Schwierigkeiten des Schreibens für ihn: 'Wie kann man die moderne Welt beschreiben, ohne zynisch zu werden?' Man kann sagen, daß Thomas Strittmatter in seiner Prosa, in seinen Stücken und Filmen, in seiner Kunst insgesamt gelungen ist, die von ihm empfundene tiefgreifende Problematik moderner Zivilisation ohne Zynismus, sondern vielmehr in einem leicht wehmütigen, lieben Verständnis abzubilden. Auch Milchmusik ist ein solches Beispiel, jene Poetische Parabel über die Vielgestaltigkeit der Existenz und zugleich über deren Aussichtslosigkeit.
Ein Greis lebt alleine in seiner Wohnung. Er hat nichts Anderes zu tun, als aus dem Fenster zu schauen und sich Gedanken über Gott und die Welt zu machen. So auch über die Reisenden, deren Motto ja 'Wer rastet, der rostet' ist. Da die Erde ja rund ist, ist des alten Mannes Meinung, daß die Völker wieder dort ankommen, wo sie losgewandert sind. Also bleibt er am liebsten dort wo er ist und sieht er sich selbst als Mahlstock um den alles kreist, als Spinne im Netz. Alle anderen ergießen sich, seiner Meinung nach, wie verschüttete Milch, werden säuerlich und ranzig, flocken aus, verkäsen oder zersetzen sich. Werden aufgeschlabbert oder weggewischt, sickern auf der Stelle ein und verlieren sich im Gebälk. Früher saß er viel in Cafés und schaute dem Treiben auf der Straße zu. Doch irgendwann hätten die Menschen begonnen, sich täglich auf den Plätzen zu versammeln, in Chören zu sprechen, Gymnastiken aufzuführen und Reden und Kundgebungen zu halten. Und das haßt er. Aus diesem Grund bleibt er lieber in seiner Wohnung.
Er überlegt, ob er nicht lieber in einer Hafenstadt leben würde, als in der Großstadt. Denn dann könnte er mehr beobachten als den sich immer wiederholenden Alltagstrott der Bewohner seiner Straße. Des Nachtwächters, der jeden Morgen das Licht löscht und den Herren, der täglich die Zeitung stiehlt. Er könnte einen Feldstecher besitzen, doch er fühle sich alleine schon bei dem Gedanken daran unanständig, obwohl die Neugier bekanntlich ja jeden übermannt. Dann würde er Möwen anstatt der ihm so verhaßten Tauben sehen. Doch dann würden am Ende die Möwen sich auf seinem Fensterbrett paaren, und er würde sich beim Beobachten dieser wie ein lüsterner alter Greis fühlen. Er bewahrt lieber Würde und Stolz und verwirft diese Gedanken wieder.
Die Luft in seiner Wohnung ist anders, seit sie bei ihm neue Fenster eingebaut haben. Er kaufte sich in Folie eingeschweißtes Brot. Als er das Messer in die Verpackung hineinsteckt, entweicht dieser ein seltsam ergreifender Ton, der etwas von einem letzten Seufzer hat. Und als er schließlich in das Brot beißt, hat er das Gefühl: Dieses Brot ist tot. Es hat die Luft eingesaugt und ist daran gestorben.
Die Stimme und die Musik solle man von Kind auf pflegen, meint er alte Mann. Eine reifere Dame hatte einmal in diesem Haus gewohnt; immer wenn sie die Stufen hinaufging hatte sie gesungen und der Greis hatte ihrem Gesang gelauscht. Nun ist die Frau tot, doch die Lieder schweben immer noch durch das Haus.
An manchen Tagen bringt ihm ein Junge das Mittagessen. Einmal sagt er dem Buben ein Gedicht namens 'Mutter, Mutter, d´Milch wird immer mehr' auf und möchte, daß er es auswendig lernt. Dieser weigert sich, jedoch vertont er es auf seiner Maultrommel. Der alte Mann wartet nun immer ungeduldig auf eine neue Darbietung der Milchmusik.
Überlegungen zum Inhalt des Buches:
Für mich war es sehr schwierig, eine Inhaltsangabe dieses Monologes zu schreiben. Ich denke, man sollte ihn als Ganzes lesen, denn dann ist es leichter den Gedankensprüngen zu folgen. Dieser Text ist mit Sicherheit einer der Besten die ich jemals gelesen habe. Er eröffnet einem die Möglichkeit die Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen, nämlich aus der eines Greises. Das ist besonders für einen Jugendlichen wie mich sehr interessant. Als Teenager kann man sich sonst nicht vorstellen, wie es ist, wie ein alter Mensch zu denken und zu leben. Außerdem finde ich einige Gedanken des Monologführenden außergewöhnlich und beflügelnd, auch belustigend. Ich habe sie auch weitergeführt. Zwei Beispiele:
1) 'Seit ein paar Jahren wird der Tee schlecht, wenn man ihn in der Tasse stehen läßt. Dann schließe ich die Augen und trinke ihn, lauwarm. Mag sein, es ist das Spüli, was so glänzt auf dem Tee. Oder sie mischen das Spüli schon ins Wasser, bevor es aus der Leitung kommt. Oder das Spüli ist schon in den Teeblättern Oder das Spüli ist bereits der Atemluft beigemischt, Spülifabrikant sollte man sein.'
2)'Über sich selbst fällt man die schlimmsten Fehlurteile, am schnellsten stirbt der Arzt, der sich selber heilen will, als erster wird der Politiker versagen, der sich selber glaubt, und die Familie des Schreiners sitzt am längsten am wackligen Tisch.'
Alles in Allem ist das Buch wirklich empfehlenswert, denn obwohl der Text so kurz ist, beinhaltet er sehr viel. Mit jedem Durchlesen fällt mir etwas Neues auf, eine Kleinigkeit, der ich vorher gar keine Beachtung geschenkt hatte. Der Autor läßt das Thema von Leben und Tod anklingen, die melancholische Betrachtung der Zerstörung unserer Umwelt durch die Zivilisation, in der die Tiere ebenso entfremdet leben wie der Mensch in seinem Körper.
Das Buch beinhaltet zwei Monologe, Milchmusik und Im Kork. Ich habe ersteren zur Inhaltsangabe ausgewählt, weil er mir einfach mehr zusagt. Das Buch von Thomas Strittmatter wäre mein Vorschlag für einen Klassenlesetext.
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