Universität Hannover
Institut für Politische Wissenschaft
Referat
Franz Neumanns Grundaussagen in seinem
Aufsatz ´Angst und Politik´
I. Einleitung
Trotz des großen Befreiungsschlages der alliierten Völker gegen das Regime des deutschen Nationalsozialismus und dessen Demontage erfuhr das Phänomen der Angst, gegenüber gegenteiligen Erwartungen, einen wahren Aufschwung. Nach Neumann sollte die Angst daher ein zentrales, allen Zweigen gemeinsames Problem der Wissenschaft sein, da jegliche Art von Angst die Freiheit der persönlichen Entscheidung bis zur Unmöglichkeit beeinträchtigt - nur ein furchtloser Charakter vermag sich frei zu entscheiden -, die Wissenschaft allgemein aber die Bestimmung der Freiheit des Menschen als vordringliche Aufgabe besitzt. Er behandelt in seinem hier dargestellten Aufsatz das Angstproblem aus der Sicht des Politologen, wobei er sich aber auch eingehend auf Autoritäten anderer Fachbereiche bezieht, u.a. die theorethischen Einsichten Siegmund Freuds, die er als überzeugend und bis dato noch nicht widerlegt ansieht.
II. Entfremdung und Angst
Der Mensch ist, im Sinne Schillers, Hegels oder Marx´, ein universelles Wesen, zur Gänze frei nur in der Selbstbetrachtung in einer vom ihm geschaffenen Welt. Dieses trifft jedoch in den modernen Gesellschaften nicht mehr zu - falls es dies überhaupt je tat -, durch die Reduktion des universellen menschlichen Potentials auf einzelne Prozesse im Arbeitsablauf und Gesellschaftsleben wird das Individuum sich selbst entfremdet. Eine Aufsplitterung seiner Umwelt und hierarchische Arbeitsprozesse lassen den Menschen seine Fähigkeiten selbst nicht mehr als Ganzes verstehen, sondern diese in Einzelbereiche, z.B. Liebe, Arbeit, Muße, Kultur, aufteilen, zusammengehalten von einem unverstandenen, von außen her operierenden Mechanismus. Die ihm entfremdete Arbeit entfremdet dem Menschen nicht nur die Natur und seine eigene Funktion, sondern die Beziehungen zu sich selbst und seinen Mitmenschen, welche verdinglicht und versachlicht werden. Für Marx, Schiller oder Hegel ist daher der Mensch dieser Gesellschaften ein verstümmelter Mensch.
Neumann hält diese Theorie trotz ihres wichtigen Ansatzes für ergänzungswürdig. Deren Problem liegt demnach darin, daß es keine Gegenüberstellung universeller Mensch/verstümmelter Mensch geben kann, da ein universelles Wesen in keiner historischen Gesellschaftsform je existierte, es also eine utopische Größe darstellt, mit der man keine gesellschaftlich faßbare Daseinsform des Menschen vergleichen kann. Klarer wird dieser Einwand durch eine Differenzierung der Entfremdung in drei Schichten: die der Psychologie, die der Gesellschaft und die der Politik. Nur eine zunächst saubere Scheidung und spätere Zusammenführung dieser drei Schichten ermöglicht eine zufriedenstellende Behandlung des Problems der Entfremdung und damit der Angst in der Politik. Denn weder Entfremdung noch Angst sind Phänomene der modernen Gesellschaften, vielmehr waren sie in jeder staatlichen und gesellschaftlichen Struktur anzutreffen, von diesen lediglich in ihren Außerungsformen modifiziert.
Ein wichtiger Punkt in dieser Argumentationsreihe ist die Entfremdung des Menschen von sich selbst durch einen jeder Gesellschaft innewohnenden Triebverzicht. Das Erreichen eines totalen Glückszustandes ist dabei ohnehin schon unmöglich durch Einflüsse der Natur, der Vorahnung des Todes und auch gesellschaftlicher Institutionen. Daß diese somit repressiv wirkenden sozial-politischen Institutionen nicht zur Kulturfeindlichkeit führen, wird begründet durch unentrinnbare Konflikte im Menschen, hervorgerufen durch eben jene Beschränkungen der libidinösen und zerstörerischen Triebe. Es ist, nach Freud, daher nicht leicht zu verstehen, wie es also möglich gemacht werden kann, einem Trieb die Befriedigung zu entziehen. Wird dieser Verzicht nicht ökonomisch kompensiert, kann es zu ernsten Störungen im Individuum kommen. Nun gibt es auch hier keine ideale, alles befriedigende Gesellschaftsform, der Triebverzicht ist in allen Stufen einer Gesellschaft zu finden und wird als psychologische Entfremdung des Menschen, besser noch als Entfremdung des Ich von der Dynamik der Triebe bezeichnet.
Wo aber ist nun der logische Zusammenhang zwischen den Formen der Entfremdung und der Angst herzustellen? Problematisch ist dabei, daß eine Angst als solche noch nicht fest genug definiert ist, um klare Vergleiche und Bezüge zu anderen Begriffen machen zu können. Aus den zahlreichen Theorien dazu, z.B. Freuds Analyse der Angst als Repression libidinöser Impulse oder Ranks Geburtstraumatheorie, kann man wohl zwei Angsttypen deutlich voneinander unterscheiden: die Realangst als Reaktion auf konkrete, äußere Gefahrensituationen, und die neurotische, vom Ich produzierte Angst zur präventiven Vermeidung auch der entferntesten Drohung einer nicht zwingend unrealen Gefahr. Die Differenzierung dieser beiden Angstformen ist für das politische Verständnis der Bedeutung der Angst sehr wichtig. Die neurotische Angst resultiert dabei häufig aus der psychologischen Entfremdung, dem immerwährenden Kampf des Ich, der triebhemmenden Ratio, gegen das Es, die Struktur der Triebe. Triebverzicht bedeutet Schuldgefühle, Selbstrepression, Bedürfnis nach Selbststrafe, die innere Angst wird zu einem Dauerzustand. Trifft sie dabei auf äußere Gefahren und damit verbundene Realängste, können sich beide Angstformen summieren und in depressive oder Verfolgungs-Angste ausarten.
Dabei muß Angst nicht unbedingt destruktiv wirken, den Menschen lähmen oder zu panischer Angst ausarten und freie Entscheidungen unmöglich machen. Sie kann ebenso eine heilsame, protektive Rolle spielen, die dem Menschen erlaubt, kommende Gefahren wahrzunehmen und abzuwenden. Gleichfalls kann sie einen kathartischen (d.h. 'die Seele läuternden') Effekt haben, kann den Menschen innerlich stärken durch das erfolgreiche Bewältigen einer Gefahr aufgrund eines Überwindens der eigenen Angste und ihn somit in zukünftigen Entscheidungsprozessen freier werden lassen. Diese Unterscheidungen der Angst helfen uns, die politische Funktion der Angst besser bewerten zu können.
III. Angst und Identifizierung
Die Analyse des Verhältnisses von Entfremdung und Angst im Bereiche der Individualpsychologie gestattet aber noch kein Verständnis über die politische Bedeutung dieser Phänomene: Warum z.B. verschreiben sich Massen Führern und folgen ihnen blindlings? Worauf beruht die attraktive Kraft von Führern und Massen? Wie sieht das Geschichtsbild derer aus, die Führer akzeptieren?
Im Mittelpunkt des massenpsychologischen Analyse steht die Frage nach dem Wesen der Identifikation von Masse und Führer, ohne welche das Problem der Integrierung oder Kollektivierung der einzelnen in einer Masse nicht verstanden werden kann. Dabei muß man behutsam darauf bedacht sein, die aufgrund der Erfahrungen dieses Jahrhunderts unweigerlich aufgetretenen Vorurteile der Masse gegenüber in den Hintergrund rücken zu lassen. Die communis opinio sieht die Masse als Pöbel, zu allem bereite Menschengruppen, in denen der einzelne zum Barbaren degradiert, zum Triebwesen. Nur ist das zwar eine adäquate Beschreibung der sozialpsychologischen Zustände, jedoch keine brauchbare theoretische Analyse des Warums.
Die Basis, die eine Masse zusammenhält, ist dabei eine Summe zielgehemmter Triebe. Die gerade in Angstsituationen starke Identifizierung der Masse mit einem Führer beruht auf einer intensiven Bindung beider Teile aufgrund gleicher Hemmnisse der Libido. Damit ist der logische Zusammenhang zwischen Entfremdung und Massenverhalten hergestellt. Bei der Massenidentifikation mit einem Führer handelt es sich dabei um eine Entfremdung, die einen zweifachen Rückfall des Menschen darstellt: einmal stellt sie eine historische Regression dar, indem der Vorgang der progressiven Individualisierung rückgängig gemacht wird, zum anderen ist sie eine psychische Regression durch eine Beschädigung oder gar einen Verlust des eigenen Ich in der Masse.
Da dies aber nur für eine libido-besetzte, affektive Identifizierung eines einzelnen in einer Masse mit einem Führer gilt, nicht unbedingt aber - vielleicht gar nicht - für 'Liebende', kleine Menschengruppen oder Organisationen (Kirche, Armee), muß man deshalb Unterscheidungen machen. Es gibt beispielsweise affektlose Identifizierungen, bei denen Zwang oder gemeinsame materielle Interessen eine große Rolle spielen, entweder in bürokratisch-hierarchischer oder kooperativer Form.
So kann man allgemein behaupten, daß die libido-besetzte (affektive) Identifizierung mit einem Führer regressiver ist als die libido-freie (affektlose) mit einer Organisation, die durch rationalistische Elemente und berechenbare Momente eine Auslöschung des Ich verhindert. Aber auch noch innerhalb der affektiven Identifikation kann man differenzieren zwischen einem kooperativen und einem caesaristischen Typus. Die kooperative Weise sieht einen - in der Geschichte meist kurzen - Zusammenschluß vieler Gleicher zu einem oftmals nur kleinen Kollektiv-Ich vor, in dem die einzelnen Ich aufgehen können und an Produktivität und Substanz gewinnen. Häufiger vertreten, und für uns daher von entscheidender Bedeutung, ist aber der caesaristische Typus, die affektive Identifizierung von Massen mit Führern.
IV. Caesaristische Identifizierung und falsche Konkretheit:
die Verschwörertheorie in der Geschichte
Caesaristische Identifizierungen spielen in der Geschichte häufig dann eine Rolle, wenn die Situation von Massen objektiv gefährdet ist, sie unfähig sind, historische Prozesse zu verstehen und dadurch die entstehenden Angste geschickt zu neurotischen Angsten manipuliert werden können. Indes, nicht jede Gefahrensituation muß dies zur Folge haben, nicht jede Massenbewegung auf Angst beruhen und caesaristisch sein. Wie sind also die historischen Bedingungen, unter denen eine regressive Massenbewegung unter einem Führer versucht, politische Macht zu erringen?
Zunächst muß man dabei auf ein Indiz hinweisen, daß uns erlaubt, den regressiven Charakter einer solchen Massenbewegung frühzeitig zu diagnostizieren. Überall da, wo in der Politik affektive Führer-Identifizierungen (also caesaristische) vorkommen, besitzen Masse und Führer ein ganz konkretes Geschichtsbild: Das Unglück der Masse resultiert ausschließlich aus einer Verschwörung bestimmter Personen oder Gruppen gegen das Volk. (Als Beispiel sei hier nur die angebliche, von den Nationalsozialisten propagierte 'Konspiration des Weltjudentums' gegen das Deutschland der 20er und 30er Jahre genannt.)
Dieses Geschichtsbild ist zwar eine falsche Konkretheit, besitzt aber immer ein Körnchen Wahrheit, und sei dieses auch noch so klein. Anders könnte es nicht überzeugend wirken. Die Bewegung ist dabei umso regressiver, je falscher das Geschichtsbild dargestellt wird. Die 'teuflischen Verschwörer', die Feinde, in der Analyse lediglich als Sündenböcke darzustellen, ist dabei eine eklatante Mißachtung der Tatsachen. Die Gegner stehen für die Massen als echte Feinde da, die es aufzuspüren und zu vernichten gilt. Mit diesem Geschichtsbild soll die Realangst, beruhend auf Krieg, Not, Anarchie etc., in neurotische Angst verwandelt und durch totale Identifikation mit dem Führer - also völligem Ich-Verlust - überwunden werden. Das dabei die Interessen des Führers nicht notwendig denen der Massen entsprechen müssen, muß hier wohl nicht betont werden. Ein Zusammenhang zwischen diesem Geschichtsbild und dem Caesarismus kann man anhand historischer Beispiele erkennen, wie das Vorgehen Cola di Rienzos im Rom der ersten Hälfte des 14.Jh. oder die Handlungen der wesentlich an den acht französischen Religionskriegen des 16.Jh. beteiligten Parteien (Hugenotten, Katholiken und Politiques).
In der historischen Analyse lassen sich dahingehend fünf Grundtypen von Verschwörungstheorien herauskristallisieren, die sämtlich folgende Reihenfolge zeigen: Intensivierung der Angst durch Manipulation, Identifizierung und falsche Konkretheit. Es handelt sich dabei um die Jesuiten-, Freimaurer-, Kommunisten-, Kapitalisten- und Juden-'Verschwörung'. Die Vorwürfe an diese Gruppen und Vorgehensweisen der Gegner liefen immer nach o.g. Schema ab, d.h. Ausnutzung der potentiellen Angste der Massen um Familie, Eigentum, Moral oder Religion und damit Beschwörung einer totalitären Massenbewegung durch Hinweise auf die Verschwörergruppe unter Vorgabe falscher geschichtlichen Konkretheiten. Als besonderes Beispiel wegen seines ungeheuren politischen Einflusses behandelt Neumann diesbezüglich die Theorie der Weltverschwörung der Juden gemäß den 1897 formulieten Protokollen der Weisen von Zion. Diese proklamieren die Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft durch Gewalt, Korruption, zersetzenden Liberalismus etc. Daß diese Protokolle eine von zaristischen Russen erstellte Fälschung sind, hat der Berner Prozeß der Jahre 1934/35 bereits deutlich klargestellt, aber wo liegt dann das dringend benötigte Körnchen Wahrheit, das den Beschuldigungen in den anderen Grundtypen der Verschwörungstheorien innewohnte? Hier beschränkt Neumann seine Analyse auf das Deutschland der NS-Zeit:
Seiner Ansicht nach ist das deutsche Volk das am wenigsten antisemitische. Deshalb konzentrierte sich der Nationalsozialismus auf diesen Punkt als die zentrale politische Waffe, da sich die relative Unerfahrenheit der Deutschen dieser Zeit mit Feindbildkonstruktionen und Hetzkampagnen solch außergewöhnlicher Art leicht nutzbar zu machen schien. Dabei ist das Wahrheitselement zunächst religiöser Natur: die Blutschuld der Juden durch die Kreuzigung Christi. So bildet eine historisch-religiöse Diffamierung der Juden eine Basis, ohne die der Antisemitismus nicht ausgelöst werden kann. Die Existenz eines schließlich totalen Antisemitismus kann aber nur unter Betrachtung der NS-Politik und seiner Einordnung in das politische System verstanden werden.
Das Deutschland der Jahre 1930-1933 ist ein Land großer Entfremdung und Angst, die Niederlage 1918, Inflation, Arbeitslosigkeit, Ablehnung des politischen Systems etc. sind Symptome moralischer, sozialer und politischer Heimatlosigkeit. Diese Angste schürte und stimulierte das NS-Regime, und es ließ sie mit seiner Politik des Terrors und Antisemitismus´ beinahe zu neurotischen Angsten werden. Um dieses vielfach gespaltenen Volk nun seinen Zielen vollends nutzbar zu machen und es in den eigenen Meinungsbereich zu integrieren, brauchte es aber ein Mittel des Zusammenschweißens. Was lag näher als das Propagieren eines Feindes? Der Bolschewismus war zu stark, und die katholische Kirche wurde politisch gebraucht. Es blieben also die Juden, Fremde im eigenen Land, trotz ihrer objektiven Schwäche subjektiv als mächtig empfunden und als erfolgreiche Konkurrenten in den wesentlichen - kapitalistischen und kulturellen - Bereichen dargestellt. Damit hatte die These der jüdischen Weltverschwörung ihr Wahrheitselement gefunden, um das Geschichtsbild einer falschen Konkretheit zu unterwerfen. Es ist dabei zwar mit den Tatsachen nicht übereinstimmend, verschiedenen gesellschaftlichen Schichten eine größere Immunität gegenüber Antisemitismus zu bescheinigen als anderen, aber ein Zusammenhang zwischen sozialem Abstieg und Antisemitismus besteht durchaus. Die Furcht vor sozialer Degradation schafft sich so 'ein Ventil des Ressentiments, das aus verletzter Selbstachtung entsteht.'
V. Kollektive Angstsituation, Identifizierung, Schuld
Was sind also die historischen Situationen, in denen Angst als typisches Phänomen Massen ergreift? Bei der Unterscheidung der Schichten der Entfremdung wurde oben schon auf die psychologische Entfremdung eingegangen. Diese bleibt, ganz gleich, in welcher Gesellschaft sich der Mensch bewegt, und kreiert die potentielle Angst, die durch Ich-Aufgabe in der Masse zu überwinden versucht wird. Dabei wird die affektive Bindung an einen Führer erleichtert durch das Geschichtsbild einer falschen Konkretheit, einer Verschwörungstheorie. Aber wann können solche regressiven Massenbewegungen, ergo die potentiellen Angste, so aktiviert werden, daß sie zu einem Spielball in der Hand der Führer werden? Dazu müssen die anderen Bereiche erläutert werden:
Sozialangst entsteht aus einer Entfremdung von der Arbeit durch eine Trennung vom Arbeitsprodukt. Wird dieser unvermeidliche Prozeß nicht verstanden und akzeptiert, entsteht der Versuch, anstatt einer Beschränkung der Arbeit auf ein Minimum selbige zu 'beseelen' und wieder zu vermenschlichen. Es bilden sich nostalgische Ideologien heraus, und die Vertreter dieser Gesellschaftsschichten (z.B. des 'Neuen Mittelstandes') sind besonders anfällig für einen Caesarismus. Darüber hinaus erzeugt der stete gesellschaftliche Wettbewerb, sein destruktiver Charakter aufgrund der Offenbarung ständiger Konkurrenz und Abhängigkeitsverhältnisse, große soziale Angste. Die ständige Furcht vor Krisen, Degradation und somit sozialökonomischer Not kann ebensolche Massenbewegungen produzieren wie religiöse oder Rassen-Konflikte.
Die soziale Entfremdung ist aber allein nicht ausreichend, sie muß im Zusammenhang mit der politischen Entfremdung gesehen werden. Den Kern dieser Entfremdung bildet eine Form der politischen Apathie: Die Erkenntnis, in einem politisch monopolisierten, starren und ohne Massenbeteiligung agierenden Staatswesen ohne Durchsetzungsmöglichkeit für neue Parteien zu leben. Operiert diese Apathie innnerhalb sozialer Entfremdung, führt sie zur teilweisen Paralysierung des Staates und öffnet, alle Spielregeln verachtend, Wege für caesaristische Bewegungen. Eine solche Bewegung muß aber nach der Machtergreifung schnell handeln und die aktivierten Angste institutionalisieren, denn ihre affektive Basis ist sehr labil. Die Angst dient also nach dem Machterhalt als Mittel zur Erhaltung der Herrschaft mit Techniken wie Propaganda, Sanktionen und Terror.
Zwar basiert jedes politische System - nach Neumann - auf Angst, aber zwischen den Formen der Angst herrscht ein deutlicher Qualitätsunterschied. Man kann wohl sagen, daß das total repressive System depressive und Verfolgungs-Angst, die halbwegs freiheitliche Ordnung aber Realangst institutionalisiert. Daß es sich dabei um verschiedene Tabestände handelt, wird ersichtlich, wenn man einen Zusammenhang zwischen Angst und Schuld sieht: Es bestehen Angst und ein unbewußtes Schuldgefühl nebeneinander. Ein Führer muß durch das Erzeugen von neurotischen Angsten die Geführten so eng an sich binden, daß sie ohne ihn nicht mehr bestehen könnten. Deshalb befiehlt er das Begehen von Verbrechen, die aber nach der herrschenden Moral keine Schandtaten, sondern legitime Handlungen darstellen. Das Gewissen des Menschen, das Über-Ich, protestiert jedoch gegen diese falsche Moralität, denn die alten Moralanschauungen können nicht so ohne weiteres vergessen werden. Also muß das Schuldgefühl verdrängt werden und macht die Angst beinahe zu einer panischen, den Menschen immer mehr an seinen Führer als feste Größe fesselnden. Eine solche Angst ist nur einem total repressiven Staatswesen innewohnend und unterscheidet sich deshalb qualitativ grundlegend von jedem anderen politischen System.
VI. Zusammenfassung
[Zitat: Anfang]
Die psychologische Entfremdung - und die Entfremdung des Ich von der Struktur der Triebe , das heißt der Triebverzicht - ist jeder geschichtlichen Gesellschaft eigen. Sie wächst mit der modernen Industriegesellschaft und produziert Angst. Diese kann protektiv, destruktiv oder kathartisch sein.
Neurotische Verfolgungsangst kann zu Ich-Aufgabe in der Masse durch affektive Identifizierung mit einem Führer führen. Diese caesaristische Identifizierung ist immer regressiv, historisch wie psychologisch.
Ein wichtiges Indiz für den regressiven Charakter ist das Geschichtsbild der falschen Konkretheit - die Verschwörungstheorie. Ihre besondere Gefährlichkeit liegt in dem Körnchen Wahrheit, das in dem Geschichtsbild enthalten ist.
Die Steigerung von Angst zur Verfolgungsangst gelingt dann, wenn eine Gruppe - Klasse, Religion, Rasse - von Statusverlust bedroht ist, ohne den Prozeß zu verstehen, der ihrer Degradation zugrunde liegt.
In aller Regel führt dies zur politischen Entfremdung, das heißt zur bewußten Ablehnung der Spielregeln eines politischen Systems.
Die regressive Massenbewegung, zur Macht gekommen, muß, um die Führeridentifizierung aufrechtzuerhalten, die Angst institutionalisieren. Die drei Methoden sind: der Terror, die Propaganda und, für die Anhänger des Führers, das gemeinsam begangene Verbrechen.
[Zitat: Ende]
Was kann man jedoch tun, um zu verhindern, daß eine Angst zu einer neurotisch-destruktiven mutieren kann? Der Staat kann dies nicht leisten, denn er entstammt selbst seinen eigenen Mißständen und müßte erst auf einer - nicht existenten - vernunftgerichteten Menschheit gegründet werden, um diese bessere Menschheit begründen zu können. Ahnlich sieht es mit den Erziehern aus: Wie kann eine theoretische Kultur eine praktische herbeiführen, wenn sie doch vorher die praktische als Bedingung braucht? Wie kann sich ein edler Menschheitsgeist zur Verbesserung des Politischen herausbilden, wenn er unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung steht?
Die Ideallösungen sind für die Allgemeinheit utopisch, die Abtrennung des Künstlers oder der 'Liebenden' von der Angst sind vielleicht individuelle Lösungen, können unser Problem aber nicht befriedigen. Es bleibt also für den Universitäts- und Staatsbürger nur die erzieherische Verantwortung der Bekämpfung der Angste und Verteidigung der Freiheit. Die Durchdringung der Wissenschaft mit den Problemen der Politik und Stellungnahmen zu politischen Fragen sind ein stets zu verfolgendes Ziel. Mit öffentlichem Auftreten, mit reden und schreiben muß eine Humanisierung der Politik vorangetrieben, eine Chance für Demagogen mit allen Mitteln verhindert werden.
VII. Literatur
Die dargestellten Ausführungen basieren auf:
Franz Neumann, Angst und Politik, in: Franz Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1933-1954, hrsg.v. A. Söllner, Frankfurt/M. 1978, 424-459 (1954).
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