Lesetagebuch 'Der Besuch der
alten Dame'
von Robert Vater
ZUM AUTOR |
Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 als Sohn eines protestantischen
Pfarrers in Konolfingen bei Bern geboren. Er starb am 14. Dezember 1990 in
Neuenburg. Nach dem Besuch eines Berner Gymnasiums studierte Dürrenmatt in Bern
und Zürich Philosophie und Theologie. Er wollte Maler oder Lehrer werden,
arbeitete zunächst jedoch als Graphiker, Journalist und Kabarettist, bis er
nach zahlreichen Erfolgen mit seinen Theaterstücken als freier Schriftsteller
leben konnte. Seinen endgültigen Durchbruch schaffte der Dramatiker mit dem
1956 in Zürich uraufgeführten Stück 'Der Besuch der alten Dame'.
Dürrenmatt entwickelte sich im Laufe seiner Schriftstellerkarriere zu einem
zeitkritischen und unbequemen Autor. Friedrich Dürrenmatt ließ sich bis zuletzt
keiner literarischen Strömung zuordnen. Er verstand das Stückeschreiben als
einen Akt des 'Sich-klar-Werdens, des Klärens und des Denkens'. Er
wollte nicht für das Publikum schreiben, ihm ging es viel mehr darum, die auf
ihn einströmenden Eindrücke zu verarbeiten. Er begriff die Komödie 'als
die einzig mögliche dramatische Form, heute das Tragische auszusagen.'
Als Erzähler bevorzugte Dürrenmatt Kriminalgeschichten wie zum Beispiel
'Der Richter und sein Henker'. Dürrenmatt erhielt im Alter von 65
Jahren (1986) den Georg-Büchner-Preis.
Weitere Werke:
Die Physiker (1962) |
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Der Auftrag (1986) |
Der Richter und sein Henker (1952) |
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Romulus der Große (1980) |
Der Auftrag (1986) |
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Die Ehe des Herrn Mississippi (1957) |
Der Verdacht (1953) |
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Ein Engel kommt nach Babylon (1957) |
Grieche sucht Griechin (1955) |
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Der Meteor (1966) |
Der Mitmacher (1973) |
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Achterloo (1983) |
Durcheinandertal (1989) |
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Midas (1990) |
INHALTSANGABE 'DER BESUCH DER ALTEN DAME' |
In seiner Tragödie
'Der Besuch der alten Dame' beschreibt der Autor Friedrich Dürrenmatt
den Besuch der Milliardärin Claire Zachanassian (geborene Claire Wäscher) in
ihrer Heimatstadt Güllen. Die Stadt ist in den vergangenen Jahren immer mehr
verarmt, und so sehen die Einwohner diesem Besuch mit einigen Erwartungen
entgegen. Zudem erinnert man sich an eine alte Liebesgeschichte zwischen der
jungen Claire Wäscher und Herrn Alfred Ill. Da Güllen einst eine Stadt von
'Weltansehen' war (Goethe hat in Güllen übernachtet und Brahms hat
dort ein Quartett komponiert), nun aber total verkommen ist, hofft man, die Milliardärin
würde der Stadt das Geld für Restaurationen der historischen Orte zu Verfügung
stellen.
Als nun Frau Zachanassian mit großem Gefolge im Ort eintrifft und sich weder
von der Rede des Bürgermeisters, noch durch die Erinnerungen des einstigen
Liebhabers Ill beeindrucken läßt, stellen die Einwohner sehr bald fest, daß
sich Claire in eine resolute, eigenwillige und unromantische Dame verwandelt
hat, die nur nach Güllen gekommen ist, um ihren Racheplan auszuführen.
Einst hatte Alfred Ill gegen sie einen Vaterschaftsprozeß gewonnen, weil er
Zeugen bestochen hatte. An den beiden Zeugen, die sie in verschiedenen
Erdteilen aufzuspüren wußte, hat sie bereits Rache genommen: geblendet und
entmannt begleiten sie die Milliardärin, der Richter von einst ist zu ihrem
Butler geworden.
Ohne Umschweife fordert sie nun vom Bürgermeister den Tod Ills und ist bereit,
der Gemeinde für diese 'Gerechtigkeit' 1 Milliarde zu überlassen.
Dieser Vorschlag wird von den Einwohnern und dem Bürgermeister zunächst
entsetzt abgelehnt, doch im weiteren Verlauf des Stückes rechnet jeder Bürger
schon mit der ihm zufallenden Geldsumme und kauft lauter neue Sachen auf Pump.
Alfred Ill sieht sich durch die Kauflust der Leute, die er in seinem Laden
erfährt, in seinem Todesurteil bestätigt. So geschieht es, daß Alfred Ill am
Ende den Tod erleiden muß, an dem eigentlich alle beteiligt sind. Der Arzt
schreibt 'Herzschlag' auf den Totenschein, und die alte Dame reist
mit dem Objekt ihrer Rache im Sarg, den sie bereits mitgebracht hat, ab. Im Ort
wird sie, aufgrund ihres Geldregens, als Wohltäterin gepriesen.
CHARAKTERISIERUNG VON CLAIRE ZACHANASSIAN |
Claire Zachanassian spielt
in Dürrenmatts 'Besuch der alten Dame' die Rolle einer alten,
aufgedonnerten und bösen Dame. Sie ist die Hauptfigur und Gegenspielerin von
Alfred Ill. Durch diverse Unfälle hat Claire Arm und Bein verloren und trägt
statt dessen Prothesen. Claire glaubt, sich mit ihrem vielen Geld alles kaufen
zu können.
Ihr Leben ist von vielen Schicksalsschlägen gezeichnet. Sie bekam von ihrem
früheren Liebhaber Ill ein Kind, doch er ließ sie einfach sitzen. Claire klagte
gegen Herrn Ill, verlor aber, da Ill die Zeugen mit einem Liter Schnaps
bestochen hatte. Von nun an ging es für Claire immer bergab, sie wurde zu einer
Hure und dadurch von der Gesellschaft ausgeschlossen. Schließlich starb auch
noch ihr Kind, was den Schmerz den Ill ihr zugefügt hatte noch unerträglicher
machte und den Haß auf ihn noch verstärkte.
Claire verließ Güllen und hatte viele
Ehemänner, mit denen sie es aber nie lange aushielt. Auf diese Weise hat sie
nach einigen Jahren mehrere Milliarden 'zusammen gespart'.
Als Claire jetzt, nach nunmehr 45 Jahren, in ihre Heimatstadt zurückkehrt, ist
ihr Haß auf Ill noch genau so groß wie früher. Die vielen Schicksalsschläge,
die sie ertragen mußte, haben sie gegenüber anderen Menschen kalt und herzlos
werden lassen. Sie hat kein gutes Verhältnis zu ihren Mitmenschen, sie tut zwar
immer so, als wolle sie nur das Beste für sie, ist aber im Hinterkopf nur an
ihrem eigenen Wohlergehen interessiert. Sie verachtet andere Menschen, das wird
zum Beispiel in der Szene deutlich, in der sie ganz ungeschminkt den Tod Alfred
Ills fordert. Mit ihrem großzügigen Angebot, der Stadt eine Milliarde zu schenken
drängt sie Ill immer mehr ins Abseits. Zunächst wird ihr Angebot abgelehnt,
doch zuletzt setzt sie ihren Kopf durch. Jeder Mensch ist käuflich, es kommt
nur auf die Summe an. Dieser Satz ist meiner Ansicht nach die Quintessenz des
Stückes. Ferner ist sie noch der Auffassung, Gerechtigkeit sei nur etwas für
Reiche, und somit hätten die 'gemeinen' Bürgern den Reichen gegenüber
auch keine Rechte.
Ich denke, daß Claires Verhalten gegenüber Ill nicht fair, aber in unserer
heutigen Zeit durchaus denkbar ist. Aber ich kann den Haß auf Ill
nachvollziehen, weil er ihr Leben wirklich ruiniert hat. Claire wäre bestimmt
nicht so herzlos und hart geworden, wenn all diese Schicksalsschläge nicht
passiert wären. Also denke ich, daß man Claires Charakter mit Toleranz begegnen
sollte und auch auf ihr früheres Leben achten sollte. Claire hätte sich
wahrscheinlich anders entwickelt, wenn die Gesellschaft andere
Wertvorstellungen gehabt hätte. Denn in der Gesellschaft ist heute Geld und
Macht mehr wert als die Mitmenschen. Claire ist also praktisch ein Opfer der
Gesellschaft. Dürrenmatt will mit Claires Charakter unsere heutige Gesellschaft
widerspiegeln.
SPRACHE, AUFBAU, STILISTISCHE MITTEL |
Die Güllener treten
während des gesamten Stückes als Einheit (Kollektiv) auf, was Auswirkungen auf
ihren Sprachgebrauch hat. Sie werden von vier Bürgern (dem Ersten, Zweiten,
Dritten und dem Vierten) repräsentiert. Nur wenn man die Aussagen aller vier
gemeinsam betrachtet, ergeben sie einen Sinn; sie ergänzen sich gegenseitig.
Beispiel: (S. 21) DER MALER: Der D-Zug! DER ERSTE: Hält! DER ZWEITE: In Güllen!
DER DRITTE: Im verarmtesten- DER VIERTE: lausigsten- DER ERSTE: erbärmlichsten
Nest der Strecke Venedig-Stockholm! Diese Sprechweise unterstellt eine
gesellschaftliche Harmonie; sagt einer der Bürger etwas, so löst er eine
Kettenreaktion aus. Die Einstimmigkeit des Dorfes äußert sich also in ihrem
Sprachgebrauch.
Dieses Verhalten kommt dem Plan der alten Dame sehr entgegen, da sich das
Problem einer Pro-Contra Diskussion erst gar nicht stellen wird. Während des
gesamten Stückes treten gehäuft Sprechteile verdoppelt auf. So ist dies zum
Beispiel bei Koby und Loby, die immer gemeinsam auftreten, erkennbar. Ihre
Aussagen werden dadurch unterstützt, daß sie alles wiederholen: (S. 32) Wir sind
in Güllen. Wir riechen's, wir riechen's, wir riechen's an der Luft, der
Güllener Luft.
Einzig als Ill von den Güllenern zum Sterben verurteilt wird, durchbricht
Dürrenmatt das Stereotyp der Wiederholung. Verzweifelt ruft Ill aus: 'Mein
Gott!' (S. 125)
Dürrenmatt baut zu dem Zuschauer (Leser) eine Verbindung auf, indem er die
Personen Vorausdeutendes erzählen läßt. So z.B. Ill, der vor der Ankunft der
alten Dame feststellt: 'Klara liebte die Gerechtigkeit.
Ausgesprochen.' (S. 19) Deutlich wird durch solche Außerungen, daß Ill
sich über die wahre Situation nicht bewußt ist.
In Ills Laden steigern sich die Dialoge von belanglosem Ladengeschwätz bis hin
zu hochdramatischen Szenen. Die Güllener zwingen Ill immer wieder, sich seine
ausweglose Situation vor Augen zu führen (S. 57): DER ZWEITE: Du bist
schließlich die beliebteste Persönlichkeit. DER ERSTE: Die wichtigste. DER
ZWEITE: Wirst im Frühling zum Bürgermeister gewählt. DER ERSTE: Todsicher.
DIE FRAUEN: Todsicher, Herr Ill, todsicher.
Dürrematt arbeitet in diesem Stück mit vielerlei rhetorischen Mitteln. Außer
den unzähligen Wiederholungen fällt z.B. in der
Rede des Lehrers (S. 121) auf, daß der Lehrer keine Attribute verwendet. Um so
schlagkräftiger wirkt ein einzelnes Attribut: ' mit unseren Idealen
müssen wir nun eben in Gottes Namen Ernst machen, blutigen
Ernst'
Interessant ist auch Ills Kampf gegen seine Ermordung, da dieser Kampf im engen
Zusammenhang mit seiner Sprachwahl steht. Ill schildert sowohl dem Polizisten,
als auch dem Pfarrer und dem Bürgermeister seine Angst. Doch den Widersachern
gelingt es, mit ausgefeilter Sprachtechnik, die Situation so zu drehen, daß
Ills Argumente zu Gegenargumenten werden. Ganz deutlich wird das auf Seite 71
beim Gespräch mit dem Bürgermeister: ILL: Man schmückt schon meinen Sarg,
Bürgermeister! Schweigen ist mir zu gefährlich. BÜRGERMEISTER: Aber wieso denn,
lieber Ill? Sie sollten dankbar sein, daß wir über die üble Affäre den Mantel
des Vergessens breiten.
Die Sprache der Claire Zachanassian ist gekennzeichnet vom Gebrauch des
Imperatives. Er wirkt immer wieder schlagkräftig gegen das Geschwätz der
Güllener. Ihre kurzen Hauptsätze sind bestimmend und klar und lassen keinerlei
Diskussion zu. Lange Erklärungen und Rechtfertigungen hat die Milliardärin
nicht nötig, denn ihr Geld spricht für sich. Das genügt.
Wann immer (zu Beginn) ein
Gespräch 'gefühlsbetont' zu werden droht, bricht sie die
Schwärmereien ihres Gegenübers durch Bilder aus der Gegenwart ab. So z.B. auf
Seite 26: ILL: Mein Zauberhexchen. CLAIRE: Ich nannte dich: mein schwarzer
Panther. ILL: Der bin ich immer noch. CLAIRE: Unsinn. Du bist fett geworden.
Und grau und versoffen.
Sie schafft es sehr geschickt, Ills Aussagen gegen ihn zu kehren: (S. 49)
CLAIRE: Du wolltest, daß die Zeit aufgehoben würde, eben, im Wald unserer
Jugend, voll von Vergänglichkeit. Nun habe ich sie aufgehoben.
INTERPRETATION |
Dürrenmatt stellt im
Besuch der alten Dame zwei Welten dar, zum einen die der Claire Zachanassian.
Sie mußte in Schande ihre Heimatstadt Güllen verlassen, weil Alfred Ill ihr die
Vaterschaft leugnete und mit zwei bestochenen Zeugen den Richter täuschte. Sie
wird zur Milliardärin und hat nur noch einen Wunsch: Die ihr in Güllen angetane
Ungerechtigkeit zu rächen. Für die Verwirklichung dieser Sehnsucht tut sie
alles. Menschen sind für sie nur käufliche Ware. Deutlich wird dies an der
Titulierung ihrer Umwelt. Ihre Gatten, die sie ständig wechselt, nennt sie
Moby, Hoby und Zoby, ihren Kammerdiener, den ehemalige Richter, der von Ill
betrogen wurde, nennt sie Boby. Koby und Loby sind die beiden Zeugen, und Toby
und Roby nennt sie die beiden kaugummikauenden Sänftenträger
Die alte Dame ist unerbittlich, ihr Haß gegen Ill und ihre Sehnsucht nach
Gerechtigkeit sind so groß, daß sie darüber hinaus alles andere vergißt. Indem
sie die Liegenschaften Güllens aufkauft, gewinnt sie die totale wirtschaftliche
Macht über die Bürger des Dorfes.
Die eine Handlungsebene des Stückes wird von Claire Zachanassian repräsentiert
und ist voll und ganz auf den Mord an Ill und ihre damit verbundene Rache
gerichtet.
Die andere Handlungsebene wird von den Bürgern repräsentiert, die sich den
eigenen Wohlstand auf die Fahnen geschrieben haben. Ihnen geht es um Wohlstand
um jeden Preis, einzig am Beginn wird der Aspekt der Humanität höher bewertet.
(S. 50) DER BÜRGERMEISTER: Noch sind wir in Europa, noch sind wir
keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit.
Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.
Als jedoch kein Ausweg mehr bleibt, wird der zunächst inhumane Tötungsakt als
einzige gerechte Tat umdefiniert.
PERSÖNLICHES URTEIL |
Ich hatte dieses Stück, bevor wir es im
Unterricht gelesen hatte, bereits im Theater gesehen und war hellauf
begeistert. Um so interessanter war es für mich, dieses Buch nun ein zweites
Mal zu lesen. Ich bin der Ansicht, daß das Stück gerade deshalb so erfolgreich
war (ist), da es sich auf jede Zeit beliebig übertragen läßt. Man findet
bereits am Anfang, wo die Personen genannt werden, eine Zeitangabe: Gegenwart.
Dies sagt eindeutig aus, daß es sich bei diesem Stück um ein Modell handelt,
das sich mühelos übertragen läßt (siehe auch Andorra). Dies wird auch noch
dadurch verstärkt, daß in dem gesamten Stück keine Währung genannt wird. Es
wird nur von einer Milliarde gesprochen, aber nie von einer Währung. Die
Grundaussage des Stückes ist ziemlich einfach: Jeder Mensch ist käuflich, es
kommt nur auf die Summe an. Dies wird z.B. auch in der Szene deutlich, in der
der Bürgermeister das Angebot der Frau Zachanassian ablehnt. Ihre einzige
Reaktion auf diese Ablehnung ist die Aussage: 'Ich kann warten.'
Alles in allem finde ich das Stück, dem man auch eine gewisse Übertragbarkeit
auf den Nationalsozialismus nicht absprechen kann, sehr gut. Die Kritik am
Nationalsozialismus sehe ich dahingehend, daß den Menschen (hier den Bürger)
keine Schuld trifft. Niemand hat Alfred Ill getötet; sondern das Kollektiv.
Folglich kann auch keiner für seine Handlung bestraft werden, und es wird
unmöglich, einen Schuldigen zu finden.
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