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Hans Magnus Enzensberger - Verteidigung der Wolfe gegen die Lammer - Analyse

Hans Magnus Enzensberger:

"Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer"


Analyse




Die Stimmung in diesem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger ist sehr provokant, da sich das lyrische Ich direkt an eine Gruppe von Menschen wendet ("ihr"), der der Leser unweigerlich untergeordnet wird. Durch die Subjektivität wird dieser stark mit in das Thema einbezogen, er wird geradezu gezwungen, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Das Gedicht hat einen besonders politischen Charakter, worauf schon die verwendeten Wortfelder, speziell der ersten beiden Versgruppen, hindeuten ("Politruks", "Päpste", "General", "Blechkreuz", "Abzeichen").




Der provokante Ton wird schon zu Beginn vorgegeben, indem der Sprecher direkte Fragen an die Adressaten stellt. Sie alle haben nur ein Ziel, nämlich die Beschuldigung der Angesprochenen, einer vorhandenen Obrigkeit nicht zu widersprechen und sie damit zu unterstützen. Es folgt in den anschließenden Strophen die nähere Beschreibung der Untergeordneten aus der Sicht des Sprechers. Danach seien diese feige, zu faul zu Denken, dumm, egozentrisch, verlogen und verlangten geradezu nach Unterwerfung. Am Schluß steht die Aussage, dass die Angesprochenen die Welt niemals ändern werden.


Das Gedicht ist in fünf Versgruppen unterteilt, jeweils bestehend aus einer unterschiedlichen Anzahl von Versen variabler Länge. Dies und das lyrische Mittel des Zeilensprungs, das dazu führt, dass die Versanfänge nicht durchgehend, sondern je nach grammatikalischer Erfordernis mit Groß- bzw. Kleinbuchstaben beginnen, unterstreicht das offene, wenig poetische Erscheinungsbild. Dieses ist jedoch nicht Besonderheit, sondern Regel innerhalb der Gattung der modernen Lyrik, die ja die althergebrachten Grenzen zu sprengen sucht und somit weitere künstlerische Freiräume schaffen will.

Nach der zweiten Versgruppe erfährt das Gedicht eine deutliche Zäsur, welche schon deutlich wird an dem Wechsel von Aneinanderreihung von Fragen hin zu mehr deskriptiven Sätzen.


Die Fragen in den Versgruppen I und II sind weitgehend suggestiv (durch den vorhandenen oder impliziten Einschub "denn"), und betonen, durch die auffällige Häufung, das inhaltliche Thema der Beschuldigung sehr stark. Diese Beschuldigungen sind jedoch nicht konkret, vielmehr sind sie mit der Hilfe vieler Metaphern eher unpräzise und dadurch übertragbar gehalten. Ein gutes Beispiel liefert schon der erste Vers mit der Frage: "Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen?". Allein das hier geschaffene, absurd-komisch  erscheinende Bild eines blumenfressenden Geiers würde ausreichen, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken. Die Form der direkten Frage verstärkt jedoch darüber hinaus noch eben diesen Effekt. Die folgenden Fragen stehen dem in nichts nach, vielmehr vollzieht sich eine Steigerung der Provokationen jeweils zum Ende der ersten beiden Versgruppen hin.

Diese Steigerung ist auch auf der formellen Ebene zu beobachten, nämlich erstens in Gestalt von direkten Kontrastierungen ("an Politruks und an Päpsten", Z. 6), welche dem Gesagten mehr Nachdruck verleihen, indem sie gegensätzliche Inhalte kombinieren und somit der Aussage eine weiterreichende Gültigkeit verleihen; zweitens in Form einer Klimax ("Wer nimmt das Trinkgeld, den Silberling, / den Schweigepfennig?", Z. 14f), und drittens in der Aneinanderreihung von Fragen, die zum Abschluß der zweiten Versgruppe das Tempo und damit die Aggressivität noch einmal steigert.

Würde man die aneinandergereihten Fragen einzeln zählen, fiele der ohnehin vorhandene Anstieg von vier zu fünf Fragen von Versgruppe I zu Versgruppe II nur deutlicher aus.

Die folgende, dritte Versgruppe stellt einen intensiven Kontrast zu den vorhergehenden beiden dar, da sie das soeben aufgebaute Tempo wieder auffängt, indem sie nicht mehr eine oder mehrere schnell aufeinanderfolgende Fragen beinhaltet, sondern vielmehr aus einem einzigen, aus Beschreibungen zusammengesetzten Satz besteht. Diesen Beschreibungen der Gruppe fehlt die durch die Form der Fragen geschaffene Direktheit in der Anrede, sie sind jedoch nicht minder provokativ. Durch den eher reflektiven Charakter, geschaffen durch die Verwendung abstrakter Begriffe wie "Mühsal", "Wahrheit", "Lernen", "Denken", "Täuschung" und "Trost", gewinnt der Sprecher eine intellektuelle Distanz, die seinen Anspruch auf Wahrheit der Aussage manifestiert.

Die dritte Versgruppe wirkt durch die lyrischen Mittel des Asyndeton sowie der Ellipse kompakter und, bewirkt durch die Partizipien "scheuend" (Z. 21) und "überantwortend" (Z. 23), statischer als die vorherigen, emotionsgeladenen. Es scheint, als ob der Sprecher nach anfänglicher Aufregung einen resignativen, wenngleich nicht akzeptierenden Standpunkt eingenommen hat.

Die Versgruppen IV und V setzen die Tendenz zur Kompaktheit mit sieben respektive sechs Versen fort.

Innerhalb der vierten Versgruppe werden sowohl (zum ersten und auch einzigen Mal) die "Lämmer" (Z. 28) erwähnt als auch die Wölfe erneut mit einbezogen (Z. 32), und somit, wie im Titel, explizit kontrastiert. Dies geschieht hier durch den Vergleich der sozialen Struktur innerhalb der Lager. Die Lämmer verhielten sich wie die Krähen, bei ihnen "blendet einer den anderen" (Z. 30), wohingegen "Brüderlichkeit herrscht / unter den Wölfen" (Z. 31f). Auffällig ist hier das Mittel der Apokoinu, welches die Krähen in einen doppelten Bezug setzt, nämlich einmal in den Vergleich mit den Schwestern, die im Vergleich zu den Lämmern wie die Krähen seien, und in den direkten Kontext mit den Lämmern, die sich untereinander bekriegen. Diese doppelte Beziehung ist paradox, aber bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass es doch logisch bleibt, da unterschiedliche, den Krähen zugeschriebene Eigenschaften verwendet werden, nämlich erst das Bedrohliche nach außen und dann die Streitlust innerhalb der Gruppe.

Die Brüderlichkeit innerhalb der Wolfsrudel wird durch die Inversion, die das Wort "Brüderlichkeit" (Z. 31) an den Anfang des Satzes rückt, zusätzlich betont.

Durch die fast analytische Feststellung des Unterschieds der sozialen Strukturen, also einem weiteren Hinderungsgrund für die Unterworfenen, sich zu erheben, wird diese Versgruppe zur ruhigsten, rationalsten in diesem Gedicht. Diese besondere Rolle korreliert mit ihrer Eigenart in der Struktur des Gedichtes, die kürzeste Versgruppe zu sein.

Die fünfte und letzte Versgruppe ist nicht komplett von der vorherigen getrennt, da an ihrem Anfang ein Lob für die Räuber, also die Wölfe, steht und somit ein inhaltlicher Zusammenhang gegeben ist. Formell jedoch verbindet sie mehr mit der dritten Versgruppe, zum einen durch die verwendeten Partizipien ("einladend", Z. 35, "Winselnd", Z. 37), zum anderen durch die starke Metapher, das "faule Bett des Gehorsams" (Z. 36f), die sehr anschaulich den Hauptkritikpunkt verdeutlicht. Auch hier wird wieder ein Begriff doppeldeutig verwendet, nämlich "faul": faules Bett i. S. v. bequemes Bett, und faules Bett i. S. v. morsches/falsches Bett, auf das sich zu werfen ein Risiko darstellt. Das besagte Bett korrespondiert auf einer gewaltvollen Ebene mit der ebenfalls in dieser Versgruppe erwähnten "Vergewaltigung" (Z. 35), zu der die Unterworfenen einladen würden, ihre Unterdrückung wäre also bewußt provoziert. Die letzten vier Verse zeigen nun die logische Konsequenz dieses totalen Gehorsams, der dazu führt, dass die Abhängigen noch im Sinne ihrer Unterdrücker lügen, wenn sie schon im Sterben liegen: "Winselnd noch / lügt ihr." (Z. 37f). Für ihre Sache wollen sie "Zerrissen" (Z. 38) werden. Abfällige Schlußbemerkung ist die endgültige Feststellung: "Ihr / ändert die Welt nicht." (Z. 39f).

An den letzten vier Zeilen kann man sehr gut die Wirkung der von Enzensberger oft eingesetzten Enjambements ablesen. Durch die Isolierung eines Satzteils am Ende des vorhergehenden Verses, und somit vor die Lesepause am Versende, wird dieser besonders, optisch wie akustisch, hervorgehoben und betont, was, gerade in diesem Gedicht, viel zu der prägnanten Wortwahl beiträgt. Der durch die Zeilensprünge hervorgerufene Effekt der Fragmentierung findet Verstärkung in den durchgehend vorhandenen heterogenen Fügungen ("Wer hängt sich stolz das Blechkreuz / vor den knurrenden Nabel?", Z.12f, "keine Täuschung zu dumm, kein Trost / zu billig", Z. 25f) sowie den Verschränkungen auf semantischer (die Krähen) und syntaktischer Ebene (Bsp. Z. 2-4).

Dies alles ist Bestandteil der Technik der Montage, die die moderne und speziell Enzensbergers Lyrik prägt.


Der Titel legt eine Verbindung zur Tierfabel nahe, die meiner Meinung nach jedoch nicht oder nur sehr begrenzt besteht, insofern, als dass der einzig übertragbare Aspekt das Machtverhältnis zwischen Wolf und Lamm ist. Da Enzensberger ein politisch engagierter Autor der Gegenwartsliteratur ist, ist wohl ein Bezug auf sein erlebtes, politisches Umfeld plausibler. Hierbei ist zu bemerken, dass durch den politisch-appellativen Charakter dieses Gedichts eine geringe Distanz zwischen Sprecher und Autor anzunehmen ist.

Das Gedicht stellt eine Provokation mit dem Ziel der Aktivierung reformierender Kräfte innerhalb der angesprochenen Gruppe dar. Diese Provokation wird verstärkt durch die scheinbare Parteiergreifung des Autors mit den machthabenden Unterdrückern ("Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer", Titel). Sie gilt den vollkommen abhängigen Bürgern während der Zeit des Nationalsozialismus, deren einziger Weg der Gehorsam darstellt. Die Entwicklung zu einflußlosen Objekten innerhalb dieses politischen Systems und dem damit ermöglichten Ausbruch des Krieges ist den Untertänigen zuzuschreiben; sie haben sich nicht nur nicht gewehrt, sondern durch ihre Untätigkeit und ihr naiv-euphemistisches Vertrauen in die Obrigkeit die Entwicklung sogar unterstützt.






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