Patrick Süskind
Das Parfum
Die Geschichte eines Mörders
Am allerstinkendsten Ort des gesamten französischen Königreiches wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Seine lieblose Mutter wollte die eklige Geburt so rasch als möglich hinter sich bringen. Als Marktfrau rund um stinkende Fische und andere Viktualien gebar sie den kleinen gleich an Ort und Stelle, unter ihrem Marktstand. Sie schnitt die Nabelschnur mit einem Messer ab, wurde ohnmächtig. Wieder zu sich gekommen, liess sie ihr Kind liegen und ging davon. Das Grenouille noch lebt, hat er seinem lautstarken Schreien zu verdanken, mit dem er auf sich aufmerksam machte. Er wurde als elendes Häufel unter dem Markstand aufgefunden und einer Amme gegeben. Die Mutter wurde wegen Kindermordes verurteilt und geköpft.
Grenouille blieb nicht lange bei dieser Amme. Er wurde von der einen zur anderen abgeschoben. Er war so gierig, trank den anderen Stillkindern die Milch weg, trank für zwei, wie ein Unmensch. Die Milch stellt den Lebensunterhalt der Ammen dar, deshalb wollten sie das kleine Scheusal so schnell wie möglich loswerden. Dazu kam, dass sich die Ammen vor dem kleinen Bastard schauderten, weil er keinen Geruch besass. Ja, Grenouille hatte keinen Geruch. Er roch weder nach einem Baby noch sonst nach was, er roch nicht.
Pater Terrier nahm Grenouille nach einer längeren Diskussion mit der Amme Jeanne Bussie in sein Kloster auf. Er wollte eigentlich nichts mit Säuglingen zu tun haben, aber weil er ein gutmütiger Mensch war, nahm er den Kleinen zu sich. Doch schon nach kurzer Zeit schauderte es auch dem Pater. Das geruchlose Kind, so kam es ihm vor, roch ihn schamlos ab mit seinem kleinen, ausgeprägten Riecher, entblösste ihn mit seiner Schnüfflerei bis auf die nackte Seele. Mit "duziduzi" und "giligili" war es bald einmal vorbei, Grenouille wurde ihm so unheimlich, er wollte das Ding loshaben, möglichst schnell, möglichst gleich, möglichst sofort.
Er brachte Grenouille weit weg nach Osten zu Madame Gaillard, welche Kostkinder jeglicher Art aufnahm. Diese Frau bekam als Kind von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken über die Stirn, hat seither keinen Geruchsinn mehr, hat jegliches Gefühl für menschliche Wärme und menschliche Kälte und überhaupt jede Leidenschaft verloren. Zärtlichkeit, Abscheu, Verzweiflung - alles Unbekannt für die Frau Gaillard. Eine innerlich tote Frau, sozusagen.
Die anderen Kinder bei Madame Gaillard störten sich am Dasein von Grenouille und versuchten mehrmals, ihn zu ermorden, aber als er grösser wurde, gaben sie die Tötungsversuche auf, sie hatten eingesehen, dass er nicht zu vernichten war.
Während der Zeit bei Mme Gaillard konzentrierte sich Grenouille voll und ganz auf die olfaktorischen Zustände seiner Umgebung. Er trainierte seinen Riecher, erbrachte mit seiner Nase Höchstleistungen. Er roch Leute von weitem, durch Mauern wenn es sein musste, er konnte sämtliche homogenen Duftgemische in ihre Duftelemente zerlegen.
Weil es mit der Zeit auch der für jegliche Empfindungen tot geglaubten Frau Gaillard unheimlich wurde, das Grenouille ihre ganze Umgebung durchriechte, kam es ihr gerade gelegen, dass das Kloster von Pater Terrier seine Zahlungen ohne Angaben von Gründen einstellte. So brachte sie den Jungen mit acht Jahren zu einem Gerber namens Grimal, der notorisch junge Arbeiter suchte.
Die Zeit beim Gerber Grimal war hart, sehr hart. Jean-Baptiste hatte die fürchterlichsten Arbeiten zu verrichten, die meisten davon höchst gesundheitsschädigend. Er überlebte jedoch jede Krankheit, bei der seine Vorgänger allesamt starben. Er widersprach nie, tat seine Arbeit und er tat sie gut. Wie ein Zeck verkroch er in sich hinein, zeigte keine Gefühle. Schlafen konnte er irgendwo am Boden. Mit der Zeit jedoch merkte sein Herr Grimal, wie unersetzlich Grenouille für ihn geworden war, resistent war er gegen die schlimmsten Krankheiten und arbeitsam wie ein Tier. So gewährte er ihm immer mehr Freiheit, richtete ihm ein richtiges Schlafgemach ein gab ihm Freizeit. Diese nutzte Jean-Baptiste, um seinem ein und alles nachzugehen: Er durchkämmte ganz Paris nach Dürften, nach Gerüchen. Bald einmal kannte er sämtlichen olfaktorischen Elemente der Grossstadt.
Am 1. September 1753 beging Jean-Baptiste Grenouille seinen ersten Mord. Er hielt sich in Paris an einem Gesellschaftsfest auf, als ihm, schon auf dem Heimweg, plötzlich eine noch nie gerochene Duftkombination zur Nase stieg. Er folgte dem Duft und fand dessen Ursprung in einem jungen Mädchen. Um den göttlichen Duft in seinem innersten zu verewigen, ihn zu besitzen, tötete er sie. Ohne Gefühl, ohne schlechtes Gewissen.
Nach einigen Jahren bei Gerber Grimal kam der Tag, an dem Grenouille Leder zum Parfumeur Baldini zu bringen hatte. Als er kurz einen Einblick, oder besser gesagt, einen Riecher in seinen Laden stecken konnte, wusste er, dass er hier bleiben wollte, hier arbeiten wollte. Grenouille äusserte seinen Wunsch, stiess jedoch anfänglich beim Parfumeur auf kein Gehör. So bot er ihm an, seine Fähigkeit als Parfumeursgeselle mit einer Duftkreation unter Beweis zu stellen, was ihm - mit grossem Erstaunen seines Meisters - mit Bravour gelang.
Baldini, ein nicht sehr erfolgreicher und auch kein eigentlich talentierter Duftmischer, erkannte in dem Jungen ein grosses Potenzial und kauft ihn vom Gerber Grimal ab.
In der Zeit bei Baldini lernte Grenouille die Arbeitsweise, die Verfahren sowie die Werkzeuge eines Parfumeurs kennen. Er versuchte allen möglichen und unmöglichen Dingen ihren Duft zu entziehen. Für Baldinis Parfumkollektion kreierte er die genialsten Düfte, die Paris, ja ganz Europa, je zu riechen bekam. Der alte Parfumeur, der vor Grenouilles auftauchen seinen Laden schon zu verkaufen vor hatte, schwamm nun im Erfolg. "Seine" Düfte waren die Besten. Nachdem Grenouille von Baldini den Gesellenbrief erhielt, zog er weiter.
Jean-Baptiste entfernte sich aus dem von ihm als Mief empfundener Gestank der Städte und stieg auf ins Gebirge, an einen Ort, von dem keine Spuren mehr von menschlichem Duft vorhanden waren. Hoch dort droben, auf zweitausend Metern, verbrachte er eine Zeit ganz mit sich alleine, als Schlafgemach diente ihm eine Höhle. Während im Flachland der siebenjährige Krieg tobte, schuf er sich in seinen Gedanken seine eigene Welt. Grundlage für seine tiefgehenden, beglückenden Traumwelten waren immer wieder Einheiten von dem Duft des ermordeten Mädchens aus Paris. So lebte er eine ganze Zeit lang, berauschte sich immer wieder aufs neue, fühlte sich wie ein Gott - Bis seine Welt plötzlich an einer Festellung in sich zusammenzufallen drohte, an der er auch schon bei den Ammen gescheitert war. Grenouille stellt zum ersten Mal in seinem Leben fest, das er keinen eigenen Duft auf sich trug. Er versucht alles, um sich zu riechen, doch es gelang ihm nicht, die für ihn zerstörende Tatsache zu widerlegen. Er fühlte sich von dem Moment an als ein Nichts, ein Niemand. Jemand, der nicht riecht, existiert nicht wirklich, stellte Grenouille für sich fest.
Nach sieben Jahren flüchtete der nun grässlich aussehende Jean-Baptiste Grenouille aus seiner Höhle wieder zurück zu den Menschen, zurück in die Städte. Er liess sich von dem Wissenschaftler Marquis von seiner angeblichen Erdgasverseuchung heilen und mit seinen Heilmethoden zum Vollmenschen zurückverwandeln. Für ihn aber war der Grund, warum er nun wieder ein "normaler" Mensch geworden war, ein anderer. Er hatte sich einen Duft gemischt, den ihn riechen liess wie ein Mensch. Er empfand den Geruch zwar als stinkend, doch die Reaktion seines Umfeldes sagte ihm, das er erst jetzt richtig wahrgenommen wurde. So zog er während vielen Jahren mit Marquis durchs Land, um seine Theorie am Beispiel von ihm allem Volk präsentieren zu können. Grenouille für sich schuf verschiedene Düfte und probierte die Wirkung an den Leuten aus.
Nach seiner "Tournee" durch Frankreich mit dem Wissenschaftler zog es Grenouille zurück nach Grasse, ins "Rom der Düfte". Dort lernte er bei Parfumeuren neue Verfahren kennen, um Elementen ihre Duftstoffe zu entziehen, auch, wie man Menschendüfte konservieren kann. In Grasse war es auch, wo seine zweite Mordserie begann. Er roch den wunderbaren Duft eines Mädchens, und bald darauf fand man es tot vor. Grenouille aber hatte den Duft mit seinen selber ausgearbeiteten und verfeinerten Methoden konzentriert und in einem Behälter aufbewahrt. Dieses eine Mädchen war erst der Anfang einer ganzen Reihe von Morden an jungen, wohlduftenden weiblichen Schönheiten, welche sein Ziel von dem perfekten Parfum ermöglichen sollten. Als Herzensnote des Lebenswerkes fehlte Grenouille nur noch der betörendste aller Düfte von der Tochter eines wohlhabenden Bürgers der Stadt. Dieser erkannte die Gefahr, versuchte seine Tochter in Sicherheit zu bringe, doch Grenouille fand sie und entledigte auch sie ihres Duftes. Seine Essenz der Liebe war in absoluter Perfektion vollendet, doch erkannte man ihn als Täter und liess ihn zum Tode verurteilen.
Am Tage seiner Hinrichtung trifft Jean-Baptiste Grenouille leicht getränkt mit seinem "Parfum fatale" auf dem Hinrichtungplatz ein. Der Duft verfehlt seine Wirkung nicht und lässt die ganze Bürgerschaft in eine von Liebe so übersäten Einheit zusammenfliessen, dass die Hinrichtung in einer unbeschreiblich unmoralischen Orgie endete. Doch seine Macht den Menschen gegenüber ekelte ihn, liess in seinem Innersten eine tiefe Ablehnung aufkommen; Hass gegen die Menschen, Hass gegen sich selbst. Und mochte er vor der Welt durch sein Parfum erscheinen wie ein Gott, er konnte nichts mehr anfangen mit der Macht der Liebe, mit seinem Lebenswerk, dem Parfum. Er war der einzige, den es nicht bezaubern konnte, er war der einzige auf der ganzen Welt, für den es sinnlos war, denn er hatte es selber geschaffen und nur er wusste, wie gut es gemacht war, sein Parfum.
Am 28. Juni 1767 zog es den geradezu teuflischen Jean-Baptiste Grenouille zurück zum Ort seiner Geburt, zurück in den Gestank von Paris. In einem Friedhof, umgeben vom Abschaum der Gesellschaft - Dieben, Mördern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados und anderem Gesindel - schüttete er den ganzen Inhalt der Ampulle des genialsten Duftes aller Zeiten über sich. Gierig wie Wölfe kamen die Leute, die ihn umgaben, immer näher auf ihn zu, konnten dem Drang, den sie nicht real erfassen konnten, nicht widerstehen. Sie rissen sich um ihn, teilten ihn in Stücke auf, zerfetzten ihn und frassen ihn, Jean-Baptiste Grenouille, in Einzelstücken auf.
"Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lächeln. Sie waren ausserordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan."
Süskind will uns in erster Linie mit seinem Werk unterhalten. Ich glaube nicht an eine tiefe Botschaft, welche sich zwischen den Zeilen lesen lässt. Er will mit seinem Werk nicht sagen, dass ein Mensch ohne Liebe ein grausamer Unmensch werden kann, wie es Grenouille offensichtlich geworden ist. Grenouille ist von Anfang an etwas besonderes, er ist eine Figur, die uns durch die ganze Geschichte begleitet. Die Geschichte findet ihren Höhepunkt im Tod unserer Figur.
Süskind bietet gehobene Unterhaltung, er hat eine Art, sinnlich und ungekünstelt zu erzählen. Und das fasziniert.
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