Auf der Galerie
(Rezension)
Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Prag geboren. Von 1901 bis 1906 studierte er zunächst kurze Zeit Germanistik, dann Jura. Nach der Promotion zum Dr. Jurist absolvierte er eine einjährige Rechtspraxis und ging 1908 als Jurist zur 'Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt', wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1922 blieb. Ende 1917 wurde Tuberkulose festgestellt, an der er einige Jahre später, am 3. Juni 1924, starb. Seinen Nachlaß hatte er testamentarisch zur Verbrennung bestimmt. Sein naher Freund und Nachlaßverwalter Max Brod führte diesen Wunsch jedoch nicht aus und rettete so einige der großen Dichtungen unseres Jahrhunderts.
In 'Auf der Galerie' geht es um zwei verschiedene Schilderungen einer Situation in einem Zirkus.
Zwei Szenen werden beschrieben. In der ersten treibt der erbarmungslose, strenge Zirkusdirektor die Reiterin und das Orchester bis zur Erschöpfung an, wobei der Zuschauer zum Schluß das geschehen mit einem lauten 'Halt!' unterbricht.
In der zweiten Szene ist der Direktor der gutherzige, helfende Moderator und der Zuschauer reagiert zum Schluß mit Beifall.
Der Text besteht aus zwei Absätzen, wobei jeder Absatz aus nur einem Satz besteht. Beide Absätze bestehen zu einem großen Teil aus Präsens aktiv Partizipien und beide Absätze enden mit dem auf einen Gedankenstrich folgenden Hauptsatz, der die Auswirkung aus dem zuvor in den Gliedsätzen geschilderten Geschehen beschreibt. In den Gliedsätzen werden die Umstände und Zustände im Zirkus geschildert, der Hauptsatz erzählt von der Reaktion des Zuschauers darauf. Im ersten Absatz handelt es sich beim Gliedsatz zum Beginn um einen 'wenn'- Satz, der also eine rein hypothetische Situation beschreibt. Im zweiten Absatz Beginnt der Gliedsatz mit 'da', hier wird die tatsächliche Situation dargestellt. Deshalb ist der erste Absatz im Konjunktiv, der zweite im Indikativ geschrieben, man könnte den ersten Absatz rein sprachanalytisch mit 'Die Annahme', den zweiten mit 'Die Wirklichkeit' überschreiben.
Die im Zirkusmilieu geschilderten Personen stehen im ersten und zweiten Absatz anders zueinander. Im ersten Absatz wirkt der Direktor penetrant, herrschsüchtig und unbarmherzig. Die Angestellten sind kurz vor der Erschöpfung und scheinen unglücklich. Der Zuschauer erkennt die wahre Situation und greift ein. Im zweiten Absatz wird die gleiche Situation beschrieben, doch der Zuschauer sieht das Geschehen in einem ganz anderen Licht. Der Direktor scheint nur das beste zu wollen und stolz auf seine Angestellten zu sein, sie zu unterstützen und zu loben.
Durch den Konjunktiv im ersten und den Indikativ im zweiten Absatz entspricht eindeutig der zweite Absatz der Wahrheit. Der Galeriebesucher verhält sich aus dem Grunde unterschiedlich, weil er in der erste Schilderung die gespannte Atmosphäre erkennt und sie zu zerbrechen versucht, während er in der zweiten die tatsächliche Situation nicht erkennt und das Ganze ganz harmonisch sieht.
Franz Kafka könnte in der Parabel auf seine Situation im Elternhaus angespielt haben. Der Vater wird vom Direktor verkörpert, der Galeriebesucher ist die Mutter und er selbst sieht sich als schwächliche Reiterin, die nach Direktors Pfeife tanzt. Der zweite Absatz beschreibt die Beziehung zu seinem Vater aus der Sicht der Mutter. Für sie scheint es eine recht normale, intakte Beziehung zu sein, der Vater ist stolz und unterstützt seinen Sohn, tut alles, um ihn gut dastehen zu lassen.
Der erste Absatz ist Kafkas Wunschvorstellung. Er möchte, daß seine Mutter die wahre Tragödie endlich erkennt und ein erlösendes 'Halt!' schreit. Er lebt in ständiger Angst und Überforderung mit seinem Vater und sieht sich selbst als schwach und unterlegen.
Doch anscheinend haben weder Vater noch Mutter diese Parabel gelesen oder verstanden.
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