1774, im Alter von 24 Jahren, schrieb Goethe innerhalb von wenigen Wochen "Die Leiden des jungen Werther". Im Herbst erschien das Manuskript beim Leipziger Verleger Weygand und löste sogleich eine Welle von Diskussionen aus. Die Reaktionen reichten von bewundernder Zustimmung bis zu völliger Ablehnung. Das Werk wurde von den älteren Vertretern der Aufklärung und der protestantischen Orthodoxie sofort aufs Schärfste kritisiert. Hauptgründe dafür waren das nicht ganz bürgerlich pflichtbewusste Benehmen des Protagonisten, der schließlich Selbstmord begeht, was aus der Sicht des christlichen Glaubens absolut inakzeptabel ist. Doch die aufkommenden Stürmer und Dränger, deren Gemüt empfindsam gestimmt und von Erwartungen erfüllt war, die eine Oppositionsbewegung gegen die rationalen Normen der Aufklärung bildeten, waren von dem Briefroman begeistert. Eine regelrechte Werther-Mode brach aus, die sich bis zu "stilgerechten" Selbstmorden verstieg.
In Goethes Roman sind die zentralen Motive des
Sturm und Drang erhalten. Die Übereinstimmungen Goethe-Werther spiegeln sich in
ihren Vorlieben wieder. Goethe las bevorzugt Werke von Homer, Lessing,
Klopstock, Ossian. Sie faszinierten ihn geradezu, weswegen er seine
Lektürepräferenz auf Werther weiterleitete[1].
Goethe begeisterte sich - speziell in der Entstehungsphase des Romans - für
bildende Kunst. Eine weitere Vorliebe und starke Verbundenheit besaß Goethe für
Kinder, wie auch Werther gerne Kinder, zumeist die Geschwister Lottens,
um sich hatte: "Ja lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten
auf der Erde, wenn ich ihnen zusehe, und in dem kleinen Dinge die Keime aller
Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden; ".
Außerdem ist bekannt, dass Goethe und sein Bekannter, ein Juristenkollege,
Kestner korrespondierten. Eine weitere Übereinstimmung zeigt deren
Ausdrucksweise an: Goethe drückt seine Ideen und Eindrücke am liebsten mit
Bildern und Gleichnissen aus. Genauso tut es Werther, wenn er Wilhelm von
seinen Erlebnissen berichtet (Brief vom 12.8.72), bei denen er manchmal
absichtlich mehrere Parabeln hintereinander benutzt, um dem anderen seine
Ansicht klar zu machen. Den biographischen Kontext des Werkes bilden drei
bedeutungstragende Begebenheiten aus dem Leben von Goethe. Den wesentlichsten
Einfluss hatte seine tiefe Leidenschaft zu Charlotte Buff, welche jedoch mit
Kestner so gut wie verheiratet war. Außerdem seine leidenschaftliche Neigung zu
der erst 16 jährigen Maximiliane La Roche im Sommer 1773, die jedoch wenig später den Geschäftsmann Peter von
Brentano heiratete. Hinzu trat der Aufsehen erregende, aus Liebeskummer
vollzogene Suizid Jerusalems, eines Wetzlarer Kollegen, im Oktober 1772,
der ein entfernter Bekannter Goethes war. Parallelen zu diesen Ereignissen sind
in dem Werk vielfach sichtbar. Entsprechend der Charlotte Buff ist auch Lotte
eine sehr häusliche, stark familiär bezogene Tochter eines Amtmannes, deren
Mutter ein Jahr zuvor verstorben war, anstelle derer sie sich um die Vielzahl
ihrer jüngeren Geschwister kümmern musste.
Auch der Ort der ersten Begegnung von Charlotte und Goethe entspricht fast
genau der in dem Roman beschriebenen Situation. Werther lernt Lotte auf der
Fahrt zu einem Frühlingsball kennen. Er hat Lotte noch nie zuvor gesehen und
dennoch ist er sofort gefangen von ihrer Anmut und Schönheit, als er sie mit
einer Kutsche zum Ball abholt.
,, . . . und als ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in
die Augen, das ich je gesehen habe. Sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren
wimmelten um ein Mädchen von schöner Gestalt, die ein simples weißes Kleid, mit
blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte."
Ihre ganze Art und ihr Auftreten hat ihn so
fasziniert, dass er an diesem Abend ihr kaum mehr von der Seite weicht. Er ist
an ihre Lippen gefesselt, will keines ihrer Wörter verpassen. ,,Wie ich mich
unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete! Wie die lebendigen Lippen
und frischen munteren Wangen meine ganze Seele anzogen.". Lotte wird von
Werther regelrecht vergöttert. In seinem Brief vom 16. Juni 1771 an seinen
Freund Wilhelm schreibt er: ,,Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein
Herz näher angeht. Einen Engel! Wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen
ist; genug, sie hat allen meinen Sinn gefangen genommen!"
Somit belegt er seine unbeschränkten Gefühle für sie und nennt die Wichtigkeit
dieser Liebe für ihn persönlich: ,, . . . und wenn ich darüber zu Grunde
gehen müsste." Werther befindet sich in einer Art Rauschzustand, er sieht
nichts mehr außer Lotte und ist direkt blind vor Liebe zu ihr. ,, . . . ich
stieg aus dem Wagen wie ein Träumender () und war so in Träumen rings in der
dämmernden Welt verloren . . .'
Zwar wusste Werther bereits bevor er Lotte kennen lernte, dass diese schon
einem anderen versprochen ist, dennoch trifft es ihn wie ein Schlag, als Lotte
ihm dies beichtet. ,, . . . und war mir doch so ganz neu, weil ich es noch
nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenigen Augenblicken so wert
geworden war."[3]
Doch obwohl Lotte mit dieser Beichte für Werther nun unerreichbar ist, macht er sich trotzdem Hoffnungen auf sie, umgarnt sie und sieht in ihren Handlungen ebenfalls eine Zuneigung zu ihm.
Die ersten Worte des Romans "Wie froh bin ich,
dass ich weg bin" beziehen sich auf sein Verhältnis zur ihn umgebenden
Gesellschaft[4] und beweisen, dass Werther
allzu hohen Hürden immer wieder den Rücken kehrt, was letztlich in seinem
Selbstmord gipfelt. Werther leidet an der Gesellschaft, seiner Liebe zur
verlobten - später verheirateten - Lotte und schließlich auch an seinem stark
ausgeprägten Selbstwertgefühl. Aus all diesen Qualen entwickelt sich eine
Spirale, die ihn immer weiter in Richtung Selbstmord zieht. Je mehr er sich
selbst als Persönlichkeit entdeckt und entwickelt, desto mehr gerät er in
Widerspruch zur Gesellschaft und je mehr er in Widerspruch gerät, desto mehr
ist er auf sich selbst gestellt. Durch seine unbeschreiblich große Liebe zur
Natur und seine gesteigerte Empfindungsfähigkeit findet Werther, in sich
selbst, eine ,,reiche Welt'. Werther erkennt zwar, dass "nichts
gefährlicher als die Einsamkeit" ist, doch in der ,,Wirklichkeit' ist er
ein Außenseiter, da er - als künstlerisch begabter Intellektueller - nicht
unter seinen Mitbürgern in der Kleinstadt heimisch werden kann. Weil sich nicht
viel von der Vergangenheit Werthers feststellen lässt, können seine
Charaktereigenschaften nur anhand der vorliegenden Auswahl der Briefe bestimmt
werden. Für den neuen Lebensabschnitt, in den Werther mit Beginn des Romans
eintritt, hat er sich den Vorsatz gefasst, von nun an seine Vergangenheit ruhen
zu lassen: ' ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel,
das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich`s immer getan habe; ich
will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein."
Der junge Werther ist ein unzufriedener bürgerlicher Intellektueller, der
versucht der Enge des Lebens seiner gesellschaftlichen Schicht zu entkommen und
seine Persönlichkeit frei und vielseitig auszubilden. So schreibt er
beispielsweise schon zu Beginn des Romans in einem Brief an seinen Freund
Wilhelm: ,,Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten
verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben und das bisschen, das ihnen
von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen um es
loszuwerden.' (Brief vom 17. Mai). Durch sein Genie fühlt er sich
zusätzlich einsam und allein und er entwickelt einen regelrechten Hass auf
,,einfältige, engstirnige' Menschen, wie zum Beispiel auf seinen
Gesandten:
,,Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht lange mehr aus.
Der Mann ist ganz und gar unerträglich. Seine Art zu arbeiten und Geschäfte zu
treiben ist so lächerlich, dass ich mich nicht enthalten kann, ihm zu
widersprechen und oft eine Sache nach meinem Kopf und meiner Art zu machen, das
ihm denn, wie natürlich, niemals recht ist.' Er ist ein typischer Stürmer
und Dränger, weil er einige für diese Epoche typische Eigenschaften verkörpert.
Er steht der Wissenschaft skeptisch gegenüber und legt wenig Wert auf
materielle Dinge. Anhand mehrer Aussagen lässt sich feststellen, dass er Gegner
des adligen Hochmuts und Hierarchiestrebens ist und übt daran Kritik. Damit ist
auch seine Meinung verbunden, dass Charakter und Bildung wichtiger als Herkunft
und Geburt sind. Werther fordert ein unbeschränktes Ausleben der eigenen Gefühle und stellt im
Gespräch mit Albert die Empfindungen und Emotionen höher als die Vernunft der
Aufklärer.
Lottes Verlobter Albert, ein vielbeschäftigter Mann, der mit Lotte eine, im bürgerlichen Sinne, glückliche Ehe führt, wird in dem Roman als typischer Aufklärer dargestellt. Er ist vernünftig, beherrscht, rechtsgläubig, und zuverlässig. Deshalb steht er in einem Kontrast zu dem gefühlsgelenkten Werther. Er ist in die Gesellschaft integriert und lebt nach ihren Bräuchen und Förmlichkeiten. Werther charakterisiert ihn einerseits als einen sehr "ehrlichen' und "gelassenen' Menschen, der "wenig üble Laune' hat, was Werther an ihm sehr schätzt. Andererseits teilt er seine bürgerlichen Ansichten über Religion und Ethik nicht, so dass es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen kommt. So vertritt Albert bei der Diskussion über den Selbstmord immer einen distanzierten, objektiven Standpunkt und seine Aussagen sind von Vernunft und der Ansicht und den Normen der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Ebenso setzt er sich für das bestehende Gesetz ein und lässt sich im Falle des Bauernburschen vom subjektiv urteilenden Werther nicht beeinflussen. Dies ist Werther "höchst zuwider', denn er verabscheut die rationale Denkweise des höheren Standes, die Recht spricht, ohne die Gefühlswelt des Angeklagten zu hinterfragen. Seine ,,Ordnung und Emsigkeit' sei kaum zu übertreffen. All dies zeichnet ihn als einen rational denkenden und pflichtbewussten Menschen aus.
Da Werthers unerfüllte Liebe zu Lotte in vielen Interpretationen als der eigentliche Grund für dessen Selbstmord gedeutet wird, möchte auch ich auf diese Beziehung kurz eingehen um zu zeigen, dass sie nur der Höhepunkt eines Leidensweges ist, der viel früher und ohne Lottes Einfluss begonnen hat. In seiner Liebe zu Lotte kommen Werthers gesamte Charakterschwächen zusammen. Es ist sein letzter Versuch, sich auf einen Punkt zu fixieren, auf den er sein gesamtes Leben ausrichten kann. Doch weil Lotte schon vergeben ist und diese Liebe im vorhinein keine Zukunft haben kann entseht ein Teufelskreis, aus dem sich der ohnehin suizidgefährdete Werther nicht mehr befreien kann. Es kommt dazu, dass Werther nur noch einen Ausweg aus der Lage sieht - den findet er in dem Tod der ihm die Freiheit wiedergeben soll. Sowohl der früher von mir erwähnte Jerusalem als auch Werther beglichen am Nachmittag vor ihrem Tode noch sämtliche ausstehende Schulden, ließen ihre Bediensteten alle Vorbereitungen für eine Abreise tags darauf treffen und den Ofen nachfüllen sowie sich eine Flasche Wein geben, aus der jedoch nur ein Glas getrunken wurde.
"Die Leiden des jungen Werthers' ist ein Roman, der nicht nur ein großes Leserpublikum an sich zog und in viele Sprachen übersetzt wurde, sondern erweckte auch eine intensive Anteilnahme am Schicksal des Helden, die sich sogar bis hin zum sogenannten ,,Wertherfieber' steigerte. Viele Jugendliche ahmten den Kleidungsstil Werthers nach und übernahmen seine Art sich auszudrücken, wollten seinen Weltschmerz fühlen, sehnten sich nach Emotionen, Gefühlen, Natur und wollten wenigstens ein Bisschen so Sensibel sein wie ihr Vorbild. Doch dieser neue Trend führte auch dazu, dass einige dem Beispiel eben in extremster Weise folgten und sich ebenfalls in den Selbstmord flüchteten, welcher meist originalgetreu stattgefunden hat.
Literatur/Quellenverzeichnis:
Balzer Berndt, Mertens Volker, Deutsche Literatur in Schlaglichtern, 1990, Meyers Lexikonverlag.
Floryan Władysław, Dzieje Literatur Europejskich część pierwsza, Warszawa, 1982, PWN.
Goethe von Johann Wolfgang, Die Leiden des jungen Werther
http://www.gutenberg2000.de/goethe/werther/Druckversion_1werther.htm
Makowski Stanisław, Romantyzm, Warszawa, 1998, WSiP.
Microsoft Encarta Enzyklopädie PLUS 2001.
Red. Nacz. Droga Katarzyna, Przez epoki nr 6, Warszawa, 2001.
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