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Geschichte vom braven Kasperl und dem schonen Annerl Novelle von Clemens BRENTANO

Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl

Novelle von Clemens BRENTANO





Quelle:

Der wohl auf mündliche Überlieferung zurückgehende, durch keinerlei

schriftliche Quellen bezeugte Bericht der Jesuitenpatres Diel und

Kreiten zufolge, hat Brentano den Stoff der Geschichte im Frühjahr 1817

von Luise Hensels Mutter erzählt bekommen. Diese berichtete von zwei



wahren Begebenheiten: ein Kindsmord in Schlesien und ein Selbstmord

eines Unteroffiziers, der zu viel auf seine Soldatenehre hielt.

Diese zwei Erzählungen verschmolz Brentano auf der Grundlage eines alten

Volksliedes zu einem künstlerischen Ganzen.


Entstehung:

Der Autor schrieb das Werk 1817 innerhalb von vier Tagen für eine

"Bücher - Verloosung für hülflose Krieger', insziniert von dem

Publizisten Friedrich Wilhelm Gubitz, Professor der Berliner

Kunstakademie. Dieser veröffentlichte es 1818 im 2. Bändchen von "Gaben

der Milde', ein Trostpreis bei der Verlosung. Das Bändchen gab es sonst

nirgends zu kaufen.


Inhalt:

Die Ehrsucht hat das Leben der beiden jungen Menschen zerstört, von

denen die steinalte Bäuerin erzählt, als ihr der Dichter in "einer

kühlen Nacht, welche von fernen Gewittern zu uns herwehte' tröstend

Gesellschaft leistet. Die ganz auf das Jenseits gerichtete Frömmigkeit

und die Würde der Alten ergreifen den jungen Erzähler derart, dass er es

scheut, sich als Schriftsteller vorzustellen, sondern behauptet, er sei

Schreiber, worauf ihn die Frau bittet, ihr eine Bittschrift an den

Herzog aufzusetzen, da "zwei Liebende beieinander ruhen sollen'.

Zunächst in dunklen Andeutungen, dann immer klarer und gedrängter

erzählt sie von ihrem Enkel, dem Ulanen (Unteroffizier) Kasper, der ihr

Patgen (Patenkind) Annerl liebte und dessen Ehrgefühl so übertrieben

war, dass ihn die Großmutter häufig ermahnen musste: "Gib Gott allein

die Ehre!' Vor wenigen Tagen nun waren ihm, als er auf Urlaub kam, vom

eigenen Vater und Stiefbruder Pferd und Felleisen geraubt worden. Aus

Pflichtgefühl überlieferte er beide dem Gericht und erschoss sich dann

am Grab der Mutter, weil er es nicht ertrug, eines Diebes Sohn zu sein.

In seinem Abschiedsbrief bat er um ein ehrliches Begräbnis.

Wie ihm, so wurde auch Annerl die Ehrsucht zum Verhängnis. Sie war,

während Kasper am Felde stand, in der Hauptstadt als Magd tätig. Da sie

lang nichts mehr von ihm gehört hatte, gab sie schließlich einem

adeligen Verführer nach und erstickte, um der Schande zu entgehen, ihr

Kind nach der Geburt. Doch den Namen des treulosen Vaters gab sie vor

Gericht nicht preis. An diesem Morgen nun soll sie hingerichtet werden.

Nachdem die alte Frau geendet hat, verspricht ihr der erschütterte

Dichter, beim Herzog für Annerl "Pardon' zu flehen, aber die gläubige

Alte, die lediglich ein christliches Begräbnis für die beiden

Unglücklichen erwirken möchte, hält ihm entgegen: "Hör´ Er, lieber

Freund, Gerechtigkeit ist besser als Pardon.' Trotz der nächtlichen

Stunde dringt der Erzähler zum Herzog vor, der unverzüglich einen

Offizier, den Grafen Grossinger, mit der Begnadigung zum Richtplatz

schickt. Doch der Graf kommt zu spät. An Annerls Leichnam bekennt er,

selbst der Verführer zu sein, und vergiftet sich wenig später. Tief

bewegt entschließt sich der Herzog, seine Geliebte, Grossingers

Schwester zu heiraten. Beim kirchlichen Begräbnis Annerls und Kaspers

sinkt die Großmutter, deren letzter Wunsch erfüllt ist, dem Erzähler tot

in die Arme. Das Grab wird mit den Allegorien der wahren und der

falschen Ehre, der Gerechtigkeit und der Gnade geschmückt, die sich vor

dem Kreuz beugen.


Figuren:

Die alte Frau ist eine fromme Bäuerin, die weiß, dass die einzige Ehre

Gott gebührt. Sie ist der zentrale Punkt, in dem die drei Handlungen

zusammentreffen. Die Großmutter erzählt dem Schriftsteller ganz

verzweifelt ihre Leidensgeschichte (Kasper, Annerl) und ihr Anliegen

(Bittschrift). Sie setzt sich für ihren Enkel und dessen Geliebte ein,

dass sie auch nach dem Leben nicht mit Schande befleckt sind.

Der Schriftsteller ist zunächst ebenso uneingeweihter Zuhörer wie der

Leser. Dann greift er aus Mitleid in die Handlung ein. Er ist ein

interessierter Zuhörer und sehr hilfsbereit. Er kann sich in die

Geschichte der Alten gut hineinversetzen. Das ist wohl der Grund, warum

er sich dann so engagiert einsetzt, Kasper und Annerl zu helfen, und die

Bittschrift für den Herzog schreibt. Obwohl er ein Schriftsteller ist,

wagt er es nicht, sich als solcher auszugeben und sagt der Bäuerin, er

sei ein Schreiber.

Kasper ist der Enkel der alten Frau und ein pflichtbewusster Ulan

(Unteroffizier), der es mit seiner Ehre übertreibt. Er ist etwas naiv im

Glauben, immer das Richtige tun zu müssen.

Annerl  ist das Patenkind der alten Frau und die Geliebte des Kasper.

Auch sie hält so viel auf die Ehre, dass sie sogar ihr unehelich

geborenes Kind erstickt. Dadurch glaubt sie, der Schande entgehen zu

können und ihre Ehre wiederherzustellen.


Gattung:

Es handelt sich um eine Novelle, obwohl sie Brentano eigentlich als

Geschichte bezeichnet. Diese Benennung entspricht jedoch dem

romantischen Verständnis dieser Gattung.

Im Gegensatz zum Roman erzählt die Novelle eine einzelne Begebenheit,

die eine wichtige Wandlung im Helden bewirkt. Allerdings können so wie

in dieser Novelle mehrere Novellen durch eine Rahmengeschichte in der

Art verbunden werden, dass sie von Personen dieser Geschichte erzählt

werden (Großmutter). Diese Gattung erfreut sich im 19. Jh.

außerordentlicher Beliebtheit.


Biographisches:

Clemens Brentano wird im Jahre 1778 geboren. Er gilt als das

bedeutendste lyrische Genie der deutschen Romantik.

Der Vater Pietre Brentano, in der Lombardei geboren, Bankier in

Frankfurt, heiratet als Witwer in reifen Jahren die junge Maximiliane

von La Roche, Tochter der Schriftstellerin Sophie von La Roche. Die

unglückliche Ehe von Brentanos Eltern hat J. W. Goethe in "Die Leiden

des jungen Werthers' literarisch gestaltet.

Als Lehrling im väterlichen Geschäft gänzlich fehl am Platz, wird

Clemens mit des Vaters Tod unabhängig, geht 1798 nach Jena und gerät in

den Schlegelkreis, in das Zentrum der Frühromantik. Brentano formt im

nächsten Jahrzehnt seine Fähigkeiten und Künste aus. Nach der kurzen

glücklich - quälerischen Ehe mit Sophie Moreau findet er dann die fromm

- protestantische Luise Hensel, die den Zerrissenen auf die Wohltat der

katholischen Beichte hinweist. Mit Brentanos Generalbeichte im Frühjahr

1817 ist sein Dichtertum versiegt.

Seine wahre, doch ungerichtete Begabung hat noch eine Fülle von Werken

nebenher hervorgebracht (Märchen, Erzählungen)

Brentano starb im Jahre 1842.


Aufbau:

Drei Handlungsstränge werden durch die Großmutter in einer Geschichte

vereint.

Sprache, Stil:

Auffallend ist in vielen Fällen die Orthographie, die jedoch in den

Nachdrucken meist geändert wurde. th wurde überall durch ein einfaches t

ersetzt und ey durch ei. Die s - Schreibung wurde nach heutigen Regeln

normalisiert.

Der Erstdruck der Geschichte verzichtet völlig auf Anführungszeichen bei

direkter Rede. Bei Brentanos Abstinenz gegenüber Anführungszeichen

dürfte es sich um einen bewussten Verzicht auf die seinerzeit übliche

Zeichensetzung handeln.

Der Autor befolgte ein altes, nicht starr festgelegtes

Interpunktionsprinzip.

Auffallend ist auch das alte Vokabular, wie z.B. Patgen, Ulan oder

siebenzig Jahre. Brentano schrieb in Satzgefügen, Hauptsatzreihen kommen

in diesem Werk eher selten vor.


Erklärung des Titels:

braven: Das Adjektiv "brav' wird in der Erzählung vorwiegend noch im

alten moralischen Verstande verwendet. Es wird besonders von der

Herzhaftigkeit und Unerschrockenheit in Gefahren gebraucht, daher

häufig: "Ein braver Soldat'. Wenn der Herzog später Kasper als einen

"braven Kerl' bezeichnet, so meint er damit wohl nur dessen

Pflichtbewusstsein als Soldat.

Kasperl: Im Unterschied zum nachfolgenden Text, in dem ausschließlich

von "Kasper' die Rede ist, lautet der Name im Titel "Kasperl'.

Wahrscheinlich ist das eine Analogform zu "Annerl'.

Annerl: In der Geschichte über den Kindermord in Schlesien heißt die

Mörderin "die schöne Nannerl'. Annerl bzw. Nannerl sind Koseformen für

den Namen Anna, der soviel bedeuted wie "die Gnadenreiche'.


Idee:

Die Novelle zeigt, wie weit es kommen kann, wenn man es  mit der Ehre

übertreibt.


Motive:

Die Ehre, die in individuellem, sozialem und religiösem Bezug gespiegelt

erscheint, verbindet als Leitmotiv die drei Handlungsstränge. Wegen der

Ehre zeigt Kasper seinen Vater und seinen Stiefbruder an und erschießt

sich dann. Die Ehre ist auch der Grund, warum Annerl ihr Kind umbringt.

Außerdem kommt die alte Frau in die Stadt zum Herzog um die Ehre von

ihrem Enkel und ihrer Patgen reinzuwaschen.


Wirkung:

Die Begeisterung über Brentanos Werk war gedämpft. Viele empfanden die

Novelle als eine gute Erzählung, andere waren enttäuscht Nur wenige

Autoren ließen sich in späterer Zeit davon inspirieren. Andeutungsweise

kann man sie in Arnims Erzählung vom Heckebeutel erkennen. In Die

Zwiebel von Ruth Schaumann sind Motive und Personen der Novelle wiederum

klar herauszulesen.


Zeit, Epoche:

Die Romantik ist die europäische Parallel- und Gegenbildung zur Klassik.

Sie bedeutet den Aufstand des Gefühls und der Phantasie und ist gegen

die Aufklärung und die Regel - Klassik. Die Romantik will das durch

offene Form flutende "Universelle'.

In Deutschland bedeutet Romantik den Zeitraum von 1798 - 1830.

Der Aufstieg Victor Hugos bedeutet den Sieg der Romantik.

Der Realismus der Jahrhundertmitte löst diese Epoche der Gefühle ab.









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