Stephan Waba
Proseminar-Arbeit
Ferdinand von Saar:
17 Seiten
5367 Wörter
1.1 Ferdinand von Saar - Biographisches
Ferdinand von Saar wurde am 30. September 1833 in Wien geboren und entstammte einer geadelten Beamtenfamilie. Sein Vater starb früh, und so führte Saar mit seiner Mutter ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben.
Als während seiner Gymnasialzeit 1848 die Revolution ausbrach, ergriff er auf Geheiß seines Vormunds den Beruf des Soldaten. Bei geringem Sold und ohne förderliche Beziehungen blieb Saar bis 1860 beim Militär und nahm dann seinen Abschied, um als freier Dichter zu leben.
Die folgenden Jahre wurden sehr schwer für Saar; kleinere Schulden aus der Militärzeit brachten ihn wiederholt in Haft; Schreibhemmungen verhinderten eine rasche Produktion, mit der er sich dem Publikum hätte bekannt machen oder Geld verdienen können. Seine finanzielle Situation spitzte sich immer mehr zu.
In dieser Zeit unterstützten ihn besonders adelige Gönnerinnen, unter ihnen die Fürstin Marie zu Hohenlohe, die auch an der Entstehung des Leutnant Burda maßgeblich beteiligt war.
Obwohl Saars Lebenswerk nach und nach sichtbar wurde, und er auch zunehmende Anerkennung von außen erfuhr, gewann eine pessimistische und melancholische Grundhaltung immer mehr die Überhand. Seine letzten Jahre wurden durch Krankheit und Klagen über den mangelnden Absatz seiner Werke sowie seine Erfolgslosigkeit als Dramatiker verdüstert; seine Gesundheit wurde durch ein chronisches Leiden immer stärker angegriffen.
Ohne Aussicht auf Heilung nahm sich Saar 1906 schließlich das Leben.[1]
1.2 Die Entstehung des Leutnant Burda[n1]
Dem Erscheinungsdatum nach gehört Leutnant Burda zu Saars späteren Werken, aber Pläne zu der Novelle haben wohl schon recht früh existiert.
Seiner Gönnerin Fürstin Marie zu Hohenlohe berichtete er bereits im September 1879 von fünf neuen Novellen, die er zu schreiben überlegte, eine davon Leutnant Burda. Die Arbeit kam aber früh ins Stocken; Saar befürchtete, dass seine neuen Stoffe, die er in seiner Lebenserfahrung begründete und von den früheren deutlich abgehoben sah, das Publikumsinteresse nicht gerade fördern würden.
Obwohl Saar sich in den folgenden Jahren mit anderen Projekten beschäftigte, blieb er seinem Plan der Novellen treu, und so ermunterte ihn die Fürstin 1885, sie doch am Werden seiner Werke teilnehmen zu lassen. Auf dieses Angebot kam Saar dann 1886 auch zurück, als er, um eine möglichst realistische Darstellung bemüht, der Fürstin eine Reihe von Fragen zum Benehmen bei Hofe stellte, die diese sehr ausführlich beantwortete.
Wieder folgte auf eine Phase des konzentrierten Arbeitens eine schöpferische Pause. In einem Brief an den Verleger Karl Emil Franzos vom November 1886 kommt aber deutlich die Absicht heraus, Leutnant Burda bald fertig zu stellen. Saar hatte sich nämlich entschlossen, Franzos die Novelle für dessen Literaturzeitschrift Deutsche Dichtung zur Verfügung zu stellen. Neben der Absicht, dem Kollegen und Freund einen Gefallen zu erweisen, stand wohl auch die Hoffnung dahinter, ein breiteres Publikum als sonst zu erreichen.
Überzeugt von der Qualität seiner Erzählung machte sich Saar an die Arbeit und konnte im Mai 1887 der Fürstin Hohenlohe endgültig den Abschluss seines Leutnant Burda melden.[2]
1.3 Erste Veröffentlichungen und die Aufnahme bei Publikum und Kritik
Wie bereits erwähnt, versprach Ferdinand von Saar schon während der Entstehung des Leutnant Burda die Novelle Karl Emil Franzos für seine Deutsche Dichtung. Dort erschien sie dann auch im Herbst 1887.
Ein Jahr später, im September 1888, erschien die Novelle erneut im Rahmen der Sammlung Schicksale. Das Einfügen zusätzlicher Absätze bewirkte eine noch deutlichere und bewusstere Strukturierung des Textes.
Nun blieben schnelle Reaktionen nicht aus. Zunächst kam uneingeschränktes Lob, etwa vom Altgermanisten Anton E. Schönbach, der sich in seinem Buch Über Lesen und Bildung ausführlich mit zeitgenössischer Literatur auseinandersetzte, oder in der Rezension Adam Müller-Gutenbrunns im Abendblatt der Deutschen Zeitung vom 24. November 1888.
Erste kritische Anmerkungen stammen von Karl Emil Franzos, der am 15. Dezember 1888 in der Deutschen Dichtung unter einem Pseudonym eine Besprechung des Novelle veröffentlichte. Franzos kritisierte, "die Zufälle, welche die Einbildungen des unglücklichen Helden nähren, [wären] zu äußerlich".[3]
Diese Beobachtung wurde in der Folge von weiteren Rezensenten gemacht und wird auch noch Gegenstand weiterer Betrachtungen im Zusammenhang mit Arthur Schopenhauer sein.
Die aber - im Großen und Ganzen - bemerkenswerte Zustimmung zu den Schicksalen und zu Leutnant Burda schlug sich auch im Absatz des neuen Novellenbandes nieder und wirkte auf den Autor selbst zurück. So bemerkte er im Februar 1890 in einem Brief an Franziska von Wertheimstein "[] ich selbst halte ihn [Leutnant Burda, Anm.] für eine meiner besten Arbeiten".[4]
Leutnant Burda - eine autobiographische Novelle?
In keiner anderen Novelle hat Ferdinand von Saar persönlich Erlebtes in derart direkter Weise verwendet wie in Leutnant Burda. Saar selbst hat verschiedentlich geäußert, dass seine Novelle Lebenswirklichkeit spiegele. In einem Brief an Karl Emil Franzos gibt er zu, seine "Biographie gehe ja zum Teil aus der Novelle selbst hervor".[5]
Texte mit autobiographischem Bezug wie Leutnant Burda erscheinen für Ernst Kobau "wie Versuchsanordnungen, die anhand eigenen biographischen Materials mögliche Alternativen der Lebensgestaltung im Rückblick experimentell erproben".[6]
Trotzdem wäre es natürlich falsch, in diesem Zusammenhang Saar und Leutnant Burda als deckungsgleich zu betrachten, da die Figuren durch die Herausarbeitung dominierender Charaktermerkmale, die ihre Motivationen und Handlungsweisen bestimmen, doch zu eigenständigen Charakteren werden.[7] Außerdem sind die biographischen Fakten, die in die Darstellung der Figuren eingegangen sind, jeweils der Erzählabsicht untergeordnet und modifiziert.
Der Begriff des autobiographischen Details ist immer ein problematischer, da nicht nur persönlich Erlebtes, sondern auch "Erdichtetes" und Phantasie ihren Bezugspunkt in der Biographie des Autors finden.
2.1 Leutnant Burda - ein Leben zwischen den Ständen
Leutnant Burda, "in Anbetracht seiner Charge nicht mehr allzu jung, er mochte sich bereits den Dreißigern nähern" (5,3 ff.)[9] wird als "tüchtiger, verwendbarer Offizier" (5,11) beschrieben, der sich "durch allerlei Lektüre eine Art höherer Bildung erworben" (5,12 f.) hatte, "die er sehr vorteilhaft mit feinen, weltmännischen Manieren zu verbinden" (5,13 f.) wisse.
Er ist kein Duckmäuser, aber kameradschaftlich, hilfsbereit, zurückhaltend und als Vorgesetzter streng, aber gerecht. Zudem ist er duellerfahren. Herausstechend ist vor Allem sein beinahe pathologisches Ehrgefühl. Burdas größten Schwächen sind wohl seine Eitelkeit und seine kalkuliert wirkende Eleganz. In der Tat kann seine Erscheinung "eine höchst einnehmende" (6,15) genannt werden. Burda ist "von hoher und schlanker Gestalt, [hat] ein wohlgebildetes Antlitz [] und auffallend schöne graue Augen, die von langen Wimpern eigentümlich beschattet [werden]" (6,16 ff.). Seine Offizierskameraden jedenfalls zollen ihm eine Art "sehnsüchtiger Bewunderung" (10,23 f.)
Es gibt jedoch bei Burda einen Punkt, an dem sein "Hang zum Höheren" speziell wird. "Wie nämlich für einen mehr berüchtigten als berühmten Feldherrn der Mensch erst beim Baron anfing, so [beginnt] für Burda das weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse" (8,16 ff.). Nur: Burda ist kein Feldherr, sondern ein Leutnant kleinbürgerlicher, "sehr bescheidener Herkunft" (9,6 f.) mit "dürftiger Erziehung" (9,8). Dennoch setzt er eine klare soziologische Schwelle, eine Grenzlinie, vor der er in Wirklichkeit lebt, hinter die er in einem Zurechtdenken der Wirklichkeit aber gelangen möchte.[10]
Dieser Illusionismus, dem gerade aus kleinbürgerlichem Milieu entstammende Unteroffiziere wie Burda erlagen, resultierte aus der Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild - Mitglieder der bewunderten und vornehmen Armee zu sein - und ihrer ökonomisch marginalen Existenz als schlechtbezahlte Heeresangehörige. Mitglieder dieses "Standes zwischen den Ständen"[11], die am Hofball teilnehmen, beinahe unentgeltlich die Hofbühnen besuchen konnten und nach langer Dienstzeit Anspruch auf Nobilitierung hatten, mussten sich dem Adel einfach nahe fühlen und imitierten Leitbilder, die ökonomisch wie ihrem gesellschaftlichen Rang nach jenseits der Erreichbarkeit lagen.
So kommt es zu Beginn der Erzählung zu einem markanten Zwischenfall. Burda unterschreibt ein Schriftstück mit "Gf. Burda", erklärt aber, dass diese Abkürzung keineswegs das Wort "Graf" bedeuten solle, sondern die Abkürzung seines zweiten Namens Gottfried wäre. (11,20 ff.) Sein Wunsch nach gesellschaftlicher Geltung wird aber spätestens im dritten Abschnitt deutlich, als er die Vermutung äußert, aus einem alten adeligen Geschlecht zu stammen (32,11 ff.). Jegliche Bemühungen, dies zu belegen, sind aber zum Scheitern verurteilt; der mit den Nachforschungen betraute Historiker kann keinerlei Unterlagen, die einen definitiven Schluss zulassen, auffinden. (76,1 ff.)
Trotzdem verliebt sich Burda in die Prinzessin L., von der er annimmt, dass sie ihn auch liebt. Das Gedicht, welches er ihr sendet, versiegelt er mit feinem, blassgelbem Lack, den er in ihrem gelben Kleid im Burgtheater wenige Tage später wiedererkennen zu vermeint. (27,18 ff.) Auch ein Inserat aus der Zeitung, das er auf sich bezieht, versteht er als Antwort der Prinzessin. (47,5 ff.) In beiden Fällen wählt Burda aus einer Fülle an Deutungsmöglichkeiten eine bestimmte aus, nämlich die, die das bestätigt, was er sich wünscht.
Der vierte Abschnitt bringt nun den Wendepunkt, die Reaktion der Welt, an die Burda sich wendet. Sie kommt in Form eines Majors, der auf dem Hofball den Freund Burdas, den Ich-Erzähler anspricht und ihn ersucht, Burda auf das "Unstatthafte seines Benehmens" (42,3) aufmerksam zu machen. Er blicke nämlich "im Theater ständig nach der fürstlichen Loge" (41,5 f.), schreite "vor dem Palast auf und nieder" (41,9) und sei "beim Ein- und Aussteigen stets in der Nähe [der Prinzessin, Anm.]" (41,13 f.). "Bereits zum zweiten Mal [sind] mit der Post anonyme Verse eingetroffen" (41,22 ff.). Burda will die "feinen Unterschiede" nicht wahrhaben, die die Vertreter des ererbten Adels schon voneinander schied, gar nicht zu reden von jenen, die sich traditionslos mit ihm zu assimilieren wünschten.[13]
Burda verfällt nun zunehmend seinem Wahn und deutet sich seine eigene Wirklichkeit zurecht. Auch der Erzähler, sein Freund, kann oder will Burda nicht eines Besseren belehren. Veilchen, die nach einem Theaterbesuch irrtümlich in seine Manteltasche geraten waren, können nur von der Prinzessin stammen (54,16 ff.) und dass er die Prinzessin in Böhmen, wohin seine Kompanie verlegt worden war, im Zug sieht, kann nur heißen, dass sie ihm nachgereist ist (63,8 ff.).
Auch negative Ereignisse wollen genau in Burdas Schema passen. Der abschlägige Bescheid auf seine Bewerbung zum Korpskommandanten ist natürlich eine Intrige (74,5 ff.) und der Historiker, der Burdas Adelstitel nicht bestätigen kann, wurde in Burdas Augen bestochen (76,1 ff.).
Diese Annahme leitet dann schließlich den letzten Teil der Erzählung ein. Burda will sich für diese Intrige an Leutnant Schorff, dem Neffen des Kommandierenden schadhaft halten und ihn zum Duell auffordern (77,2 ff.). Die Sticheleien der wohlhabenden Kavalleristen im vornehmen Restaurant "Englischer Hof" waren ihm ohnehin schon lange ein Dorn im Auge (78,9 ff.). Nach einem offenen Konflikt am Kavalleristentisch kommt es schließlich zur Ankündigung des Duells (83,1 ff.), das zwei Tage später stattfindet und bei dem Burda durch einen Kopfhieb Schorrffs ums Leben kommt (88,24 ff.).
In der Stunde seines Todes scheint Burda seine Täuschung zu erkennen, doch schließlich beteuert er, "diese Veilchen sind von ihr" (93,24) und stirbt in diesem Glauben.
2.2 Parallelen zum Leben Ferdinand von Saars
Wie aus seiner Biographie erkennbar, hatte Ferdinand von Saar als junger Leutnant die Armee zur Genüge kennengelernt und so waren ihm die unbefriedigende wirtschaftliche Situation der meisten Soldaten, das gespannte Verhältnis zwischen der Infanterie und der sozial besser gestellten Kavallerie, sowie die Gepflogenheiten der Offiziere wohlbekannt.
Eine große Ahnlichkeit zwischen Saar und Leutnant Burda besteht in der sehr "bescheidenen Herkunft" (9,6) Burdas, als auch Saars, bei dem die Dinge ähnlich lagen. Während Infanteristen wie Burda an anderer Stelle sparen müssen, um sich eine Mahlzeit im "Englischen Hof" leisten zu können, ist es für die Kavalleristen selbstverständlich, jeden Tag dort opulent zu dinieren. Auch bei den Frauen haben sie auf Grund ihrer besseren wirtschaftlichen Situation leichteres Spiel.[14]
Die Problematik des Adelsnachweises, den Burda mit großer Hartnäckigkeit verfolgt, trifft auch auf Saar zu. Papiere im Nachlass des Autors lassen auf ähnliche Vorgänge in seiner eigenen Familie schließen, jedoch fallen auch Saars Bemühungen enttäuschend aus, da das Archiv keine der "dokumentirten [!] alten Bittschriften"[15] aufbewahrt hat. Lediglich der einfache Beamtenadel blieb den Gebrüdern Saar, Vorfahren des Dichters im 18. Jh., vorbehalten.
Ernst Kobau erkennt darin den zentralen Punkt von Saars "unbewältigtem Lebensprojekt"[16], seine Sehnsucht nach nicht nur äußerlicher Integration in die Gesellschaftsschicht seiner Gönner und Mäzene. Saars eigene Ambitionen nach sozialem Aufstieg werden in der Novelle als eigentliche Ursache von Burdas Lebenskatastrophe sichtbar. Die schon im "Stand zwischen den Ständen" ausgedrückte Existenz von zwei Welten, in denen sich ein junger Leutnant bewegte, traf auch auf den Dichter zu. Auch bei ihm klafften die eigene Einschätzung gesellschaftlicher Stellung und seine reale Lebenssituation auseinander. Schriftsteller blieben vom Zugang zur "Ringstraßengesellschaft" weitgehend ausgeschlossen: "Die Aristokratie liest ihre Werke, verschmäht jedoch ihre Person".
Saar, so Kobau, beharrte "mit Stolz auf seine Herkunft und zeigte demonstrativ seine Verachtung jener Welt gegenüber, der zugehörig zu sein doch seine geheime Sehnsucht war"[18]. Weil er sich als Außenseiter fühlte, wurde er Dichter und weil er Dichter war, bestand er auf seiner Außenseiterrolle.
Leutnant Burda und sein Erzähler
3.1 Der Erzähler in Leutnant Burda
Die Rolle des Ich-Rahmenerzählers ist in Leutnant Burda noch zentraler als in den anderen Erzählungen Saars. Er ist nicht nur Beobachter, sondern regelrecht in das Geschehen eingebunden. Trotzdem kann er es nicht beeinflussen; Burdas "Wahn" und das Schicksal, zwei in diesem Zusammenhang sehr wichtige Begriffe, stellen sich ihm in den Weg.
Für die Erzählungen Saars ist charakteristisch, dass der Erzähler meist den "gesunden Menschenverstand und die opinio communis"[19] vertritt und die Hauptperson sich von ihm "durch betonte Charakterzüge abhebt". Die Erzähler in den Novellen Saars gleichen sich: "Sie reisen ab, sie kommen wieder, sie registrieren Veränderung. Es sind merkwürdig flüchtige Gestalten, sie widmen sich [] den Hauptpersonen mit Ausschließlichkeit".
So ist es auch im Falle von Leutnant Burda. Der Erzähler, einfühlend, rücksichtsvoll, aber auch passiv und ohne Entschlusskraft,[22] widmet sich der Hauptperson. Steht er ihm am Anfang der Novelle noch fremd und wie seine Regimentskameraden bewundernd gegenüber, löst er sich bald aus dem Wir-Kollektiv und tritt mit Burda in eine persönliche Beziehung. Trotzdem ist er ihm nicht wirklich nähergekommen, gibt es doch kein Gespräch, in dem Burda dem Erzähler recht gäbe. Ebenso wird immer nur über Burdas Probleme gesprochen, es gibt keine Stelle, an der zur Abwechslung auch einmal eine Privatsache des Erzählers erörtert würde. Neben erzähldynamischen Gründen, in der Novelle ist ja nur Platz für eine kurze und prägnante Darstellung, ist das auch ein Zeichen von Distanz. Karlheinz Rossbacher hält für das Verbindende, das gemeinsame Element "Burdas Wahn, für den der Erzähler ein dauerhaftes und manchmal durchaus selbstbetroffenes Interesse zeigt".
Der Erzähler zweifelt Burdas Interpretationen der Wirklichkeit an und versorgt den Leser mit seiner Sicht der Dinge, billigt Burdas Denkgebilden aber unter bestimmten Umständen auch einen Grad von Plausibilität zu. Gerade durch die "Individualisierung des Ich-Erzählers, dessen Urteilsfähigkeit durch die eigene Betroffenheit ebenso wie durch die eigene Unsicherheit in Frage gestellt wird, gewinnt die Erzählung in einem hohen Grade an Objektivität". [24] Sie ist gleichsam Geschehen, das sich selbst mitteilt und über das nur der Leser in eigener Verantwortung urteilen kann.
Ab dem vierten Abschnitt, als die Welt Burda in Form des Majors antwortet, hat der Erzähler endgültige Gewissheit über die wirklichen Vorgänge um Burda erlangt. Er fühlt sich für Burda verantwortlich und reflektiert immer wieder sein eigenes Verhalten Burda gegenüber. Schließlich muss er aber zur Einsicht gelangen, dass jedes Bemühen seinerseits, Burda zur Vernunft zu bringen, an dessen Verfassung scheitern muss. Das macht ihn für Ludwig Geiger zum "Prototyp des Schwächlings", der den Leser zu einer Empörung hinreißt, die kein objektiver Berichterstatter auslösen dürfte.[25]
Der Erzähler tritt nun immer mehr zu Gunsten Burdas in den Hintergrund. Seine Verantwortung für Burda mischt sich auf Grund der Tragik der ganzen Sache mit Mitleid und obwohl die Distanz zunehmend charakteristisch für den Umgang mit Burda geworden ist, empfindet er sich mit ihm gefühlsmäßig weitgehend verbunden. Um das Schlimmste zu verhindern, will er auf Burda mäßigend einwirken, die Kontrolle über die Ereignisse bewahren. Er muss aber erkennen, dass er mit seinen Handlungen rein gar nichts bewirkt und zum "Begleiter seiner [Burdas, Anm.] Katastrophe"[26] wird.
Durch den im Mitleid begründeten Identifikationsprozess mit der Hauptfigur nimmt der Erzähler nun selbst wahnhafte Züge an. Er wird zum Teilnehmer an Burdas Schicksal, ist selbst in das Geschehen hineinverwickelt. Der Einklang mit den übrigen Regimentskameraden, von denen er sich in seiner Hingabe an Burda abgesondert hatte, tritt erst wieder mit der emotionalen Betroffenheit nach dem "Mord" (89,4) an Burda ein.
3.2 Burdas Wahn und die Melancholie des Erzählers
Schon einige Male war vom "Wahn" des Leutnant Burda die Rede und davon, wie der Ich-Erzähler immer mehr in diesen Dunstkreis hineingezogen wird. Das Fortschreiten von Burdas Wahnvorstellungen und die Reaktionen des Erzählers wurden schon eingehend dargestellt; nun interessieren uns aber die Hintergründe für diesen "Wahn" und auch, was der Erzähler, der in der Forschung oft als "melancholisch" dargestellt wird, damit zu tun hat.
Nach Wolfgang Müller-Funk liegt die Heroik des Melancholikers in dem "inneren Zwiespalt von Bedürfnis und Befriedigung".[27] "Schmerz als Sinn des Daseins und als seine Erfüllung". Saars Dichtung spricht seiner Meinung nach eine kollektive Gefühlslage aus: die Melancholie eines ganzen Staatswesens. In seiner historisch-soziologischen Untersuchung Melancholie und Gesellschaft versuchte Wolf Lepenies, gesellschaftliche Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, die ein massives Auftreten von Melancholie hervorrzurufen vermögen. Einige davon sind "Handlungsohnmächtigkeit, Resignation, Machtverlust, politische Niederlagen, fehlender gesellschaftlicher Aktionsradius". Melancholie definiert er als "Verweigerung ohne positive Alternative".
Im Falle Österreichs ist wohl seit 1848 ein Schwund revolutionären Elans zu konstatieren. Der Weg führte von den Barrikaden direkt in den kleinen Kreis des kultivierten Gesprächs wo sentimentale historische Reminiszenzen zweimal die verpasste Möglichkeit eines liberalen Österreichs durchschimmern lassen: Im Josephinismus und im Revolutionsjahr 1848. Die Häufigkeit und Beobachtung dieser Phänomene lassen Melancholie als konstitutives Element modernder Welterfahrung und moderner Dichtung erscheinen und unter diesem Gesichtspunkt scheinen Saars "traurige" Geschichten und seine "traurigen" Gestalten eine Brücke zur Moderne zu sein.[31]
Handlungsverzicht, Leidensbereitschaft und desillusioniertes Bewusstsein ermöglichen laut Müller-Funk die unbedingte Teilnahme, die "hinnimmt und jegliche Hoffnung verabschiedet".[32] Und so werden dem "traurig-wissenden Erzähler, Zuhörer und Beobachter" - stellvertretend für den Leser - die tragischen Lebensbeichten vorgetragen. Er analysiert nicht, sondern "malt seelische Aquarelle, die [] den Optimismus des Lesers sanft [] erschüttern".
Aber nicht nur der Erzähler, auch Burda ist Melancholiker. Er wird in der Forschung oft als "Don Quixote" dargestellt und der Erzähler selbst erwähnt seine "melancholische Würde" (6,8 f.). Burda kämpft aber nicht für Tugenden und Ideale, er will keine Gesellschaft durch seine Konfrontation verbessern. Idealistisches und Inhalte treten in seinem Fall zu Gunsten der Art und Weise, wie Wirklichkeit wahrgenommen und verarbeitet wird, in den Hintergrund.
Burda befindet sich in einem Zwiespalt zwischen Bedürfnis und Befriedigung. Er leidet er aber nicht darunter, da er sich seine Wirklichkeit selbst zurechtbiegt. "Selbsteinschätzung, Vorstellung und Projektion" sind für ihn "Wirklichkeiten [], die sein Handeln und [] seinen Lebensweg entscheidend prägen".[35]
Diese "große persönliche Schwäche"[36] trennt Burda fortan von der Realität seines Lebens, die er nicht anerkennt. Er baut eine undurchdringliche Scheinwelt auf, die ihm zum Verhängnis wird. In den Augen Burdas gehen seine Wünsche in Erfüllung, nicht aber in den Augen seiner Umwelt, die durch seinen Freund, den Erzähler, repräsentiert wird. Einwände und Zweifel kann Burda mühelos widerlegen, "das Gesetz der Kausalität eröffnet beliebig viele Kombinationsmöglichkeiten".
Je mehr nun Wunsch und Realität auseinanderklaffen, um so mehr verdichtet sich der "Wahnsinn" Leutnant Burdas. In seinem Vortrag Wahn führt Theodor Meynert den Wahn auf ein Versagen logischer Gehirnoperationen zurück und deutet ihn im Sinne eines "Überhandnehmens von Nebenassoziationen".[38] Im Falle Burdas ist damit seine durch den Willen gesteuerte Wahrnehmung zu verstehen, die "selektiv Angenehmes beobachtet, Unangenehmes verdrängt, damit aber immer mehr den Bezug zur Realität verliert".
Geht es um angenehme Ereignisse, verfällt Burda in einen Beachtungswahn, etwa wenn er glaubt, die Prinzessin trage ein gelbes Kleid, weil Gelb die Farbe seines Siegels am Gedicht war (27,18 ff.). Geht es hingegen um unangenehme Ereignisse, verfällt er in einen Verfolgungswahn. So bezeichnet er zum Beispiel die Ablehnung seiner Bewerbung als Intrige (74,10). Burdas Abstammungswahn, in dem er sich bemüht, einen Geburtsadel nachzuweisen (32,11 ff.), kann als Größenwahn gedeutet werden.
In jedem Fall verliert Burda den Bezug zur Realität und dadurch auch die Gewalt über sein Leben und Tun.
3.3 Der Einfluss Arthur Schopenhauers
Unter den weltanschaulichen Strömungen, die auf Leutnant Burda gewirkt haben, ist wohl die Philosophie Schopenhauers eine der bedeutendsten. Ferdinand von Saar verfügte in der Tat über eine minutiöse Kenntnis der Schriften Schopenhauers.
Für die Charakterisierung von Leutnant Burda und den Aufbau der Handlung orientierte sich Saar offensichtlich an den poetologischen Forderungen Schopenhauers, der in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung folgendes beschreibt:
"[] zuerst die Charaktere im Zustand der Ruhe vorführt, [] dann aber ein neues Motiv eintreten lässt, welches eine Handlung herbeiführt, aus der ein neues und stärkeres Motiv entsteht, welches wieder eine bedeutendere Handlung hervorruft, [] wodurch dann [] an die Stelle der ursprünglichen Ruhe die leidenschaftliche Aufregung tritt, in der nun die bedeutsamen Handlungen geschehen, an welchen die in den Charakteren vorhin schlummernden Eigenschaften [] in hellem Lichte hervortreten."[40]
Entsprechend diesen Forderungen findet sich Burda zu Beginn der Erzählung im Ruhezustand gezeichnet, bis mit der Unterschriften-Episode (11,20 ff.) ein auslösendes Moment gesetzt ist, das die Kettenreaktion der Motive und Handlungen in Gang setzt.
Auch Burdas Hang zum Melancholischen, der immer wieder direkt oder indirekt angesprochen wird, kann auf den Einfluss Schopenhauers zurückgeführt werden. Für Schopenhauer ist Melancholie ein Merkmal des Jugendalters, da die Jugend im Gegensatz zum heiteren Alter noch unter dem "Frondienst des Geschlechttriebs"[41] stehe. Diese Aussage korreliert mit der Liebesthematik in der Erzählung.
Des weiteren erweist sich Burdas Melancholie aber auch als bestimmende geistige Grundhaltung, die die wahnhaften Züge, die sein Wesen im Laufe der Geschichte annimmt, unterstützt. Wieder ergibt sich der Vergleich mit Don Quixote, wie er liest Burda nämlich Romane (5,12). Schopenhauer warnte jedoch, dass eine zu frühe Konfrontation mit Romanen der "Einprägung von Vorurteilen"[42] Vorschub leiste und damit die Urteilskraft lähme. Hier ist also schon ein erster Hinweis auf Burdas Wahn gegeben, der durch das für ihn so bezeichnende Ehrgefühl noch unterstützt wird. Schopenhauer selbst bezeichnete in dem Kapitel Von dem, was einer vorstellt die militärische Ehre als "Wahn", jede Weisung, das Ehrgefühl rege zu halten, als "Menschendressierungskunst". Eitelkeit definierte er als "leeres und gehaltsloses Streben". Damit eng in Zusammenhang steht eine Aussage Christine Touaillons, die im Jahre 1911 über Leutnant Burda bemerkte:
"Nichts ist geschehen, nichts - und doch geht an diesem Nichts ein Leben zugrunde."[45]
Neben Burdas verfehlter Einschätzung der Wirklichkeit sind bei ihm auch einige geradezu krankhafte physiologische Merkmale erkennbar, die diesen Befund bestätigen. So sei Burda "eigentlich schief gewachsen" (6,23) und er habe eine "kleine, gedrückte Stirn" (39,19); beides laut Schopenhauer deutliche Zeichen für einen Mangel an intellektuellen Fähigkeiten. Seine naturwissenschaftliche Überlegung:
"[] je größer und entwickelter das Gehirn und je dünner, im Verhältniß [!] zu ihm, das Rückenmark und die Nerven sind, desto größer nicht nur die Intelligenz, sondern zugleich auch die Mobilität und Folgsamkeit aller Glieder ist []"[46]
führte zu folgendem Resümee:
"[] dumme Menschen bewegen sich wie Gliedermänner; an geistreichen spricht jedes Gelenk."[47]
Auch dem Gesicht käme eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Beurteilung der intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen zu:
"[] sind die geistigen Eigenschaften aus dem Gesichte zu erkennen, aus der Gestalt und Größe der Stirn, der Anspannung und Beweglichkeit der Gesichtszüge und vor Allem aus dem Auge."[48]
Angesichts dieser Merkmale kann Burdas Verhalten also auch im eigentlichen medizinischen Sinne "pathologisch" genannt werden und seine gesteigerte Aufmerksamkeit, ja all seine Wahnvorstellungen, krankhaft. Auch Schopenhauer machte die Ursache für den Wahn im Intellekt fest, dort wo die "logischen Verbindungen"[49] entstehen. In seinem dritten Buch der Welt als Wille und Vorstellung schreibt er über den Wahnsinn:
"In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. [] Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein was nicht ist."[50]
Kaum treffender kann Burdas Zustand beschrieben werden. Seine Wahrnehmung ist durch den Willen gesteuert, der selektiv Angenehmes beobachtet, Unangenehmes aber verdrängt und damit immer mehr den Bezug zur Realität verliert.
Der Zufall, der, wie schon erwähnt, von einigen Kritikern als zu äußerlich, zu gewollt bezeichnet wurde, ist hier "geheime Notwendigkeit"[51] und verweist auf den, an Schopenhauer angelehnten Schicksalsbegriff, der in Saars Werk zentrale Bedeutung besitzt. Laut Ernst Kobau ist der Zufall notwendigerweise einem tragischen Geschick zugehörig seine Formen sind "blind und spielerisch und von einer höhnischen Ungebundenheit". Burdas innerer Anlage des sich gegenüber aller Rationalität blind durchsetzenden Willens entspricht seine äußere Realisierung als Wahnsystem. So ist die "Täuschung [] die notwendige Folge der inneren Disponiertheit, und ihre Erscheinungsformen sind kontingent".
Weitere Bedeutungsebenen
Neben den autobiographischen Bezügen, auf die schon in 3.2 eingegangen wurde, fallen in Leutnant Burda noch die zahlreichen literarischen Anspielungen, als auch der zeitgeschichtliche Bezug auf. Diesen beiden weiteren Bedeutungsebenen innerhalb des Textes soll dieser Abschnitt Rechnung tragen.
4.1 Erzählte Literatur
Die Grundmotive der Erzählung, nämlich die Liebe zu einer Adeligen und die Abstammungsproblematik, wurden von Ernst Schulzes märchenhafter Bezauberte[n] Rose beeinflusst. Dort ist es das Motiv des Knappen (der sich allerdings am Schluss als Königssohn entpuppt), der sich mit einer Königstochter ein geheimes Stelldichein gibt.
Durch die ganze Erzählung hindurch zieht sich nun ein Geflecht an literarischen Anspielungen, die durch ihre Position im Text zur Strukturierung der Erzählung beitragen und in verschiedener Form die Grundmotive unterstützen und die Bezauberte Rose umspielen. Wenn Burda zum Beispiel Theater- oder Opernaufführungen besucht, so beschränkt sich sein Interesse nicht nur darauf, bei dieser Gelegenheit der Prinzessin zu begegnen, sondern er bezieht den Inhalt der Stücke auch ausdrücklich auf sein eigenes Schicksal. Daneben begegnen dem Leser auch noch literarische Werke, die dem Erzähler zur Illustration seiner Gedanken dienen, so zum Beispiel der schon erwähnte Don Quixote oder Romeo und Julia.
Schon Don Quixote gibt einen wertvollen Hinweis auf das Verhältnis von Illusion und Realität. Der Bezug zur Bezauberte[n] Rose ist dadurch gegeben, dass beide Werke ritterliche Elemente erhalten und damit auch eine spezifische Beziehung zur Welt des Adels, im Don Quixote aber gerade der Versuch, die Ritterromane ins Leben zu übersetzen, also die gelebte Literatur, zum Problem wird. Auch Burda ist ja unfähig, seine Imagination unter Kontrolle zu bringen, was letztlich die Ursache für sein Scheitern ist.
In symmetrischer Position werden zwei Dramen erwähnt, deren Aufführungen beide von Burda besucht werden: Das Drama Minna von Barnhelm im dritten und die Oper Martha im siebten Kapitel. Beide Stücke bezieht Burda auf sich und beide haben bemerkenswerterweise einen glücklichen Ausgang. Zum einen wird Burda in seiner Hoffnung auf die Erwiderung seiner Liebe bestärkt, da der ehrenhafte Major Tellheim in der Minna von Barnhelm am Schluss selbst eine Adelige zur Frau gewinnt, zum anderen hofft er auf eine Abwertung seiner Abstammungsproblematik, da sich im Falle der Martha adelige Damen zu bürgerlichen Tätigkeiten herablassen. Freilich übersieht Burda, dass Tellheim selbst adelig und das Verhalten der Damen in der Martha nur scherzhaft gemeint ist.
Zwei weitere dramatische Werke werden in symmetrischer Position ins Spiel gebracht, im dritten Kapitel Meyerbeers Oper Der Prophet und im fünften Verdis Oper Ernani. Im Mittelpunkt beider Werke steht das Motiv der Ehre, was ein Charakteristikum Burdas, nämlich seine Empfindlichkeit auf den sogenannten "Ehrenpunkt" (5,23) spiegelt. Auch gehen beide Stücke auf Grund der Ruhmsucht und Verblendung der Protagonisten schlecht aus. Ihre Erwähnung lässt eine Problematisierung des Ehrverständnisses erkennen. Auf dem Hintergrund der Bedeutung des Namens "Burda", was aus dem Polnischen übersetzt, "Krawall" bedeutet und der Geschichte seiner Vorfahren, die aus Böhmen vertrieben wurden (32,17 ff.), kann sie nicht zufällig erscheinen, sondern nur eines bedeuten: "Aufstand und Revolution".[54]
Für Zufall, Irrtum und schließlich Tod stehen erneut Ernani einerseits und Romeo und Julia andererseits. Ernani entpuppt sich im Verlauf der Handlung als Adeliger und auch die Handlung von Romeo und Julia ist durch eine Reihe von Zufällen bestimmt. Beide Werke enden mit dem Liebestod der Protagonisten. Nun ist aber der Tod Leutnant Burdas kein Liebestod im eigentlichen Sinne, eine Tatsache, auf das im Zusammenhang mit den zeitgeschichtlichen Bezügen noch einzugehen sein wird. Vielmehr erscheint Burdas Tod als notwendige Folge seines von Zufall und Irrtum bestimmten Lebens, worauf sowohl Ernani, als auch Romeo und Julia anspielen.[55]
4.2 Zeitgeschichtliche Bezüge
Wie schon erwähnt, ist Leutnant Burdas Tod kein Liebestod im eigentlichen Sinne, eher wird hier der Zusammenstoß zweier völlig unterschiedlicher Welten ausgedrückt, der des "alten Wien" des Adels, der Monarchen und der des neuen Besitz- und Bildungsbürgertums, das mit dem Adel in einem Prozess der Selbsterhöhung in Konkurrenz trat.
Deutlich wird, um diese Konkurrenz zu unterstreichen, der sich in der Gründerzeit vollziehende Wandel im Stadtbild ins Spiel gebracht. Das Bild der Ringstraße wurde sehr deutlich durch die beiden konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen geprägt. Glorifiziert Saar das "alte Wien", den Zustand vor dem Bau der Ringstraße, der in den Jahren 1858 bis 1865 erfolgte (14,15 ff.), so kritisiert er den Bau der Ringstraße, durch den viele Orte und Gebäude, wie etwa das Glacis, das Burgtheater oder der Stephansplatz, zerstört oder umgestaltet wurden.
Infolge der Konkurrenz ist auch eine gewisse Anpassung, ja Nachahmung der adeligen Schichten zu bemerken. Leutnant Schorff, der "Baron", wie er von allen fälschlicherweise auf Grund seines Vermögens genannt wird, ist ein Vertreter genau dieses neuen Besitz- und Bildungsbürgertums. Leutnant Burda hängt vergeblich immer noch dem alten Glanz der Kaiserzeit nach und verachtet den Emporkömmling. Schorff ist "Kind einer neuen, die Werte Burdas in Frage stellenden Zeit"[56], ein Gegner, der diesen zum Außersten reizen muss. Burda, durch die Beleidigung Schorffs, zum Handeln gezwungen, handelt nach seinem ritterlichen Ehrenkodex. Der Verlauf des Duells aber arbeitet gegen ihn. Nicht das moralische Recht, sondern das Recht des Stärkeren ist ausschlaggebend.
Die Darstellung des zweiten wichtigen Schauplatzes, Prag, fällt nun wesentlich spärlicher aus als die Wiens. Symbolisch bleibt lediglich, dass die Tötung Burdas sich im Hradschin, der Prager Burg ereignet, also genau in dem Einflussbereich, in den Burda vergeblich aufzusteigen versuchte.
Im Unterschied zu Wien wird aus den Augen des Erzählers die Idylle in Prag nämlich nicht durch einen architektonischen Eingriff zerstört, sondern durch die aufkommenden nationalen Bestrebungen; revolutionäre Tendenzen, die auf der Linie der nationalen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts liegen. Hier kommt die schon erwähnte Bedeutung des Namens "Burda", also "Krawall" zum Tragen und die Erwähnung der Schlacht am Weißen Berg (32,15), die vor Jahrhunderten kein gutes Ende nahm, lässt auch in der Gegenwart nichts Gutes erahnen.
Auch die Beschreibung einer weiteren böhmischen Landschaft (59,20 ff.), die sich in etwa bei Budweis befindet, stellt einen deutlichen zeitkritischen Bezug dar. Die Beschreibung des Schlosses ermöglicht die Zuordnung zu einer bestimmten Richtung des Historismus, die durch den Adel gerade in Böhmen stark vertreten war, nämlich der Neogotik. Dieser Stil war politisch mit dem freiheitlichen Konservatismus verbunden, mit dem Hang, sich zu isolieren. Das ausgeprägte Standesbewusstsein führte zum Kampf aller gegen alle. Auf diese Tendenzen spielt Saar durch die Erinnerung an Zeiten des Faustrechts an, was schließlich in der Katastrophe, in der die Erzählung endet, dem Duell (88,13 ff.), das ja nichts anderes als ritualisiertes Faustrecht ist, gipfelt.
War zuerst die Rede von einer Konkurrenz, aber auch einer Anpassung des neuen Besitz- und Bildungsbürgertums an den Adel, so existierte auch das umgekehrte Phänomen. Der Adel vollführte eine Annäherung an die Welt des Bürgers, die freilich ihre eigenen Gesetze hat. Sie war auf keinen Fall so drastisch wie in der Oper Martha dargestellt, in der Adelige gleichsam Bürger nachahmen, aber es gab doch - neben einem ausgeprägten Standesbewusstsein - Tendenzen aller sozialen Schichten, sich miteinander zu vermischen. Für sie ist aber weniger eine allgemeine Harmonisierung verantwortlich, sondern eher der ständig gegenwärtige Kampf um Rang und Ansehen.[57]
Bibliographie
Killy, Walther (Hrsg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bertelsmann Verlag, S. 86-88.
Kobau, Ernst: Rastlos zieht die Flucht der Jahre. Josephine und Franziska von Wertheimstein - Ferdinand von Saar. Wien: Böhlau Verlag 1997.
Müller-Funk, Wolfgang: Das Verschwinden der Gegenwart. Interpretatorische Überlegungen zur Traurigkeit des Glücks im Erzählwerk Ferdinand von Saars. In: Sprachkunst 17 (1986), S. 1-22.
Rossbacher, Karlheinz: Leutnant Burda und sein Erzähler. Wahn und Wirklichkeit bei Ferdinand von Saar. In: Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Kurt Bartsch u.a. Bern: Francke Verlag 1979, S. 147-163.
Saar, Ferdinand von: Leutnant Burda. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Veronika Kribs. Tübingen: Niemeyer Verlag 1996.
Saar, Ferdinand von: Leutnant Burda. Hrsg. v. Jürgen Manthey. Göttingen: Steidl Verlag 1998.
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