MUTTER COURAGE
UND
IHRE KINDer
Bertolt Brecht
Bertolt Brecht wurde am 10. 02. 1898 als Sohn eines Fabrikanten in Augsburg geboren. Er widmete sich für kurze Zeit naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien, ging dann aber als Dramaturg nach München und Berlin. 1930 wandte sich Brecht dem Kommunismus zu und 1933 emigrierte er über Österreich und Frankreich nach Dänemark. 1941 ging er in die USA, kehrte aber 4 Jahre später wieder nach Ostberlin zurück. Dort leitete er zusammen mit seiner Frau Helene das "Berliner Ensemble". 1922 erhielt Brecht den Kleist-Preis und 1951 den Nationalpreis erster Klasse für Kunst und Literatur der DDR. 1950 wurde ihm die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Seine Laufbahn als Dramatiker, Lyriker und Epiker läßt sich in 2 Phasen einteilen. Seine erste Schaffensphase war von den Kriegserlebnissen geprägt; er fühlte sich als Ankläger der bürgerlichen Gesellschaft und deckte den allgemeinen Nihilismus auf. In dieser Zeit entstanden: "Trommeln in der Nacht" (1922) - "Im Dickicht der Städte" (1923) - "Mann ist Mann" (1926) - "Die Dreigroschenoper" (1928), später in "Der Dreigroschenroman" umbenannt - "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny".
Seine zweite Entwicklungsphase setzte ungefähr um 1930 ein. Diese Phase wurde durch Brechts Zuwendung zum Kommunismus bestimmt. In dieser Zeit entstanden vor allem politische Lehr- und Parabelstücke, wie zum Beispiel: "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" (1930) - "Das Leben des Galilei" (1938) - "Mutter Courage und ihre Kinder" (1939) - "Herr Puntila und sein Knecht Matti" (1940) - "Der kaukasische Kreidekreis" (1944/45). Sein Stil weist eine stark österreichische Färbung auf, was durch den Einfluß von Jugendfreunden und von seiner Ehefrau bedingt ist. 1960 erschien eine Lyriksammlung, in der eine Mischung aus Jargon und Bankelsängertönen vertreten ist. Brecht war der Begründer des epischen Theaters.
"Mutter Courage und ihre Kinder" (1938/39, Musik von Paul Dessau)
Eine Chronik aus dem 30jährigen Krieg in zwölf Bildern, eine Szenenfolge über die Sinnlosigkeit des Krieges in Anlehnung an die Simplizianischen Schriften des Hansjakob Christoffel von Grimmelshausen (1622-1676), vor allem seiner Landstörzerin Courage.
Mutter Courage zieht mit ihrem Marketenderwagen durch Südschweden den Truppen nach, Werber machen ihr ihren Sohn Eilif abspenstig; in Polen trifft sie ihn zwei Jahre später wieder, wie er von seinem Obersten ausgezeichnet wird. Von der Mutter erntet er dafür nur eine Ohrfeige. Ihr zweiter Sohn, Schweizerkas, wurde Zahlmeister; ihn hat sie zur Redlichkeit erzogen, weil er dumm ist. Nur ihre stumme Tochter Kattrin bleibt ihr noch, und die muß sie vor dem Mannsvolk schützen. Der Krieg geht hin und her, Schweizerkas will die Regimentskasse retten, wird aber mißverstanden und von den Katholischen erschossen. Mutter Courage schließt sich den Katholischen an. Tilly ist gefallen, der Friede droht auszubrechen; da wechselt sie die Front. Der Tod des Schwedenkönigs Gustav Adolfs aber droht ihr Geschäft zu ruinieren. Eilif verliert den Kopf, weil er während des Waffenstillstandes beim Plündern ertappt wird, eine Handlung, die in Kriegszeiten eine Heldentat ist, in Friedenszeiten als Verbrechen geahndet wird. Vier Jahre vergehen. Ein paar kaiserliche Soldaten zwingen einen Bauern, ihnen einen Schleichweg in die evangelische Stadt Halle zu zeigen. Kattrin belauscht die Szene, steigt auf das Dach des Bauernhauses und trommelt die Bewohner der Stadt wach, um sie vor einem überraschenden Überfall durch die Katholischen zu warnen. Da wird sie von den kaiserlichen Soldaten vom Dach heruntergeschossen. Zerbrochen und erschöpft spannt sich am Ende Mutter Courage selbst vor den Marketenderwagen, um handelnd und feilschend den Spuren des Krieges zu folgen. Alles hat ihr der Krieg genommen, nur nicht ihren Broterwerb. Dennoch können die bitteren Ereignisse sie nicht von ihrem Weg abbringen. Sie zieht weiter in dem Wahn, daß der Krieg trotzdem einen Profit bietet.
Im September 1939 begann Brecht im Exil (1933 Emigration aus Deutschland) mit der Niederschrift der "Mutter Courage und ihre Kinder"; dabei gestaltete er die Vorlage Grimmelshausens weiter aus. Nach zwei Monaten war er mit der Arbeit fertig. 1941 wurde das Stück in Zürich uraufgeführt, doch war Brecht damit nicht zufrieden. Daß die Lebenskraft dieser Mutter Mitgefühl erweckte und gerühmt wurde, war dem Belehrer Brecht nicht recht. Deshalb wurde "Mutter Courage" 1949 mit Helene Weigel als Courage und Brecht als Regisseur produziert. Brecht versucht, die Identifikation mit den Figuren, hier vor allem mit der Hauptfigur der Mutter Courage, zu verhindern, indem er den Zuschauer durch "verfremdende Mittel" davon abhält mitzuleiden und statt dessen zu einer die Figur kritisierenden Haltung anhält. Die "Verfremdung" hat das Ziel, das Bekannte, das als allgemein - menschlich Empfundene - hier das schicksalhafte Erleiden des Krieges - als das Unmenschliche, Leidvolle, Unglück Bringende vor Augen zu stellen und damit erkennbar zu machen: das Leid ist kein Schicksal, es ist verursacht von Menschen an Menschen und deshalb nicht unabänderlich, sondern Veränderung herausfordernd.
Doch der Welterfolg der Mutter Courage widersprach in mancher Hinsicht Brechts Theorie: die Wirksamkeit des Stücks basiert vor allem - auch im Spiel der Weigel - auf dem Reichtum der Hauptfigur, deren schier unmenschliches Leiden mitempfunden wurde; und das Stück wirkte als Schicksalsdrama des Menschen schlechthin.
1960 wurde das Stück verfilmt.
"Eine Chronik des 30jährigen Krieges" heißt das Stück im Untertitel, damit einen konkret-historischen Anspruch markierend, der für den Gang der Handlung nur geringe Bedeutung besitzt. Die Funktion der Umstände, Orte, Ereignisse und Persönlichkeiten der Historie besteht darin, die Kriegs-Zeit-Stimmung gebührend auszumalen. Zwischen 1624 zieht Anna Fierling, genannt "Mutter Courage" mit ihren Kindern mit einem Marketenderwagen auf den Wegen des Krieges durch Polen, Bayern, Italien und Sachsen, wo sie zum letzten Mal gesehen wird.
Das Thema dieses Werkes ist der Krieg an sich, und wie sich die Menschen in Krisenzeiten verhalten. Mutter Courage zum Beispiel will selbst im Krieg am Leid der anderen verdienen.
Ihre besten Fähigkeiten, ihr vitaler Behauptungswille und ihr nüchterner, praktischer Sinn in heiklen, gefährlichen Situationen sind zugleich ihr Verhängnis. Auch ihre drei Kinder gehen an ihren Tugenden zugrunde, die der Krieg fördert.
Mutter Courage lebt vom Krieg, will sich aber aus den Geschehnissen heraushalten. Bei ihr dominieren die Interessen der Händlerin. So ist ihr zum Beispiel in der ersten Szene der Handel wichtiger als ihr Sohn.
Courage wird aufgrund des Kapitalismus entmenschlicht. Ihr Verhältnis zum Krieg ist rein ökonomisch, sogar die zwischenmenschlichen Beziehungen sind untergeordnet. Mutter Courage, die auch "Hyäne des Schlachtfeldes" genannt wird, fürchtet den Frieden, der ihre Existenz bedrohen würde. Als sie das eine Mal den Krieg verflucht, ist das eine reine Affekthandlung. Kattrin wird von ihr großteils als ökonomischer Faktor gesehen, und als sie zu ihrer Stummheit auch noch verunstaltet wird, ist sie für ihre Mutter wertlos geworden.
Courage verursacht den Tod ihres zweiten Sohnes, weil sie zu lange zögert und nicht handelt. Auch in diesem Fall ist ihr ihre Existenz wichtiger als ihr Kind. Ihre Einstellung zum Krieg und zur Gesellschaft wird am besten im "Lied der großen Kapitulation" dargestellt. In der ersten Strophe beschreibt sich Courage als ein junges Mädchen, das aber (in der zweiten Strophe) erkennen muß, daß nicht alle Pläne zu verwirklichen sind. Die dritte Strophe ist voller Optimismus, aber mit dem Hinweis: "Man muß sich nach der Decke strecken", und daß der Mensch als Teil des Ganzen gesehen werden muß. Eine Volksweisheit wird durch Vertauschen der Satzzeichen genau umgekehrt ("Der Mensch denkt: Gott lenkt!"). Dieses Lied gibt drei Lebensvorschläge: Auflehnung, der Versuch, die Welt zu verändern und die Anpassung (tödlich für die Kinder der Mutter Courage).
Eilif, der tapfere Sohn, findet den Tod, weil er der Tapferkeit auch im Frieden treu bleibt.
Schweizerkas, der redliche Sohn, stirbt für die Rettung der Regimentskasse, was allerdings nicht moralisch ist, da der Krieg ohnehin weitergehen wird.
Die unschuldige Kattrin, die durch die Bosheit eines Soldaten stumm wird, bildet die Kontrastfigur zu Courage. Sie lebt ein soziales, gesellschaftsdienliches Leben und paßt sich nicht an. Das widerlegt das Verhalten ihrer Mutter. Auch handelt sie uneigennützig, um das Leben der Menschen in der gefährdeten Stadt zu retten, obwohl sie weiß, das sie dabei wahrscheinlich selbst sterben wird.
Der Krieg, der gleichbedeutend mit Geschäft ist, wird von den Religionen geführt, die auch seinen Fortbestand sichern. Unter diesen Umständen ist ein normales, menschliches Leben möglich. Er bringt den Personen nur scheinbaren Nutzen, treibt sie aber ins Verderben, wie man am Beispiel der Mutter Courage sieht. Ursache für dieses grausame Ereignis sind alle, die den Krieg wollen. Dem Volk bringt er nur Tod und Unheil, während sich die führenden Klassen bereichern. Das "Lied vom Weib und den Soldaten", eine dialektische Auseinandersetzung, zieht sich wie ein Leitfaden durch das ganze Werk. Der Krieg wird als sinnlose Existenzvernichtung dargestellt.
Die Songs entwickeln sich aus dem Geschehen der jeweiligen Szenen. Sie sollen die Handlung der Figuren kommentieren, die Handlungsweisen entlarven und eine Identifikation verhindern. Um den Normen des epischen Theaters zu entsprechen, muß Courage scheitern, damit der Zuschauer etwas lernt.
Oft erscheinen die Handlungsweisen der Hauptperson unverständlich, wie zum Beispiel der Handel um Schweizerkas, oder daß sie mit dem Krieg weiterzieht, ohne etwas gelernt zu haben. Das letztere läßt sich damit begründen, daß der Krieg ihre Existenzgrundlage ist. Dennoch nimmt sie diesem Gegenüber eine widersprüchliche Haltung ein.
Während der Songs tritt der Schauspieler aus der Rolle heraus und kommentiert sie von außen. Das bewirkt teilweise Desillusionierung, ist aber gleichzeitig Deutung und Interpretation.
In diesem Stück stellt der Krieg nur den Rahmen dar; es werden nur wesentliche Entwicklungspunkte gezeigt.
Das klassische Theater war nicht mehr tauglich die Welt des 20. Jahrhunderts, d.h. die Wandlung der Gesellschaft, der Industrie, der Umwelt, darzustellen. Bertolt Brecht setzt dem klassischen Drama einen neuen Dramentypus entgegen, den er "episches Theater" nannte. Das epische Theater reiht die Szenen ohne dramatischen Aufbau erzählend nebeneinander. Durch die erzählende Form und mit Hilfe von Verfremdungstechniken sucht Brecht den Zuschauer aus der passiven Rolle zu lösen und ihn zu kritischer Stellungnahme zu dem Dargestellten zu bringen. Durch seine Technik der Verfremdung soll der Theaterbesucher überrascht und aufgeschreckt werden. Der Verfremdungseffekt besteht darin, daß Selbstverständliches und Gewohntes zu etwas Ungewohntem umgeformt wird. Das Geschehen läuft nicht dramatisch auf einen Höhepunkt zu, sondern wird in allen seinen Wandlungen und Möglichkeiten durchgeführt. Jede Szene stellt ein Bild für sich dar, die Schauplätze wechseln, die Handlung weist Zeitsprünge auf, das Ende bleibt offen, denn der Zuschauer soll weiterdenken und für sich die Folgerungen ziehen.
Dramatische Form des Theaters |
Epische Form des Theaters |
Die Bühne "verkörpert" einen Vorhang |
sie erzählt ihn |
verwickelt den Zuschauer in eine Aktion und |
macht ihn zum Betrachter aber |
verbraucht seine Aktivität |
weckt seine Aktivität |
ermöglicht ihm Gefühle |
erzwingt von ihm Entscheidungen |
vermittelt ihm Erlebnisse |
vermittelt ihm Kenntnisse |
der Zuschauer wird in eine Handlung hineinversetzt |
er wird ihr gegenübergesetzt |
es wird mit Suggestion gearbeitet |
es wird mit Argumenten gearbeitet |
Spannung auf den Ausgang |
Spannung auf den Gang |
eine Szene für die andere |
jede Szene für sich |
die Geschehnisse verlaufen linear |
in Kurven |
das Denken bestimmt das Sein |
das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken |
Verfremdungstechniken in Mutter Courage
- Spruchbänder nehmen
den Inhalt der Szenen vorweg und stellen das private Geschen in den
historischen Zusammenhang
- Songs
- auf dem
Zwischenvorhang vor Beginn jeder Szene erscheint eine Art Inhaltsangabe, eine
Vorschau auf das kommende Geschehen
(siehe auch Spruchbänder)
Durch diese völlig neuartige Aufmachung ist man als Leser zu Beginn etwas irritiert.
Ungewöhnlich ist auch, daß Brechts Gestalten nicht wie Helden reagieren, sondern wie schlichte Menschen zwischen dumpfer Angst und Lebenswillen. Es kommt nur darauf an, daß man überlebt.
Obwohl Brecht ein kommunistischer Autor ist, ist die kommunistische Tendenz bei "Mutter Courage" nur von außen aufgeklebt. Sie ergibt sich nicht aus dem Stoff. Die menschliche Problematik ist seit jeher gleichgeblieben. Das Menschliche rückt in den Vordergrund, daß die politische Tendenz, die sowieso allzu vage ist, darüber uninterressant wird.
Die verzweifelte Absicht, den verheerenden Krieg zu überleben, dieses Thema ist heute mit Sicherheit genauso aktuell, wie zur Zeit seiner Entstehung. Es gibt viele Gegner dieses neuen Dramas, doch das sind vielleicht nur jene, die die Aktualität des Stücks nicht erkennen wollen.
Wir können jedoch nicht behaupten, das uns das nichts angeht.
Literatur:
Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder; edition suhrkamp, 1963
Reclam:
Die deutsche Literatur in Text und Darstellung
Neue Sachlichkeit
Literatur im "Dritten
Reich" und im Exil, 1991
Reclam:
Deutsche Dichter
Vom Beginn bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts, 1991
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