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Belegarbeit Kinder- und Jugendliteratur





Die Darstellung des Dritten Reiches und des Holocaust in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945








Die Darstellung des Dritten Reiches und des Holocaust in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945


I.) Vorwort


" Das gute deutsche Jugendbuch ist mitberufen, ein Geschlecht heranzubilden aus der großen fruchtbaren Dreieinigkeit von Körper, Seele und Geist, von Rasse, Volk und Gott, eine Jugend, die weiß, daß man fest auf der Erde, auf dem Boden der Heimat, des Vaterlandes stehen muß, wenn man nach Idealen streben, nach den Sternen greifen will. Keine lebensfremden Stubenhocker und bleichwangigen Bücherwürmer, sondern ganze Kerle, echte deutsche Männer und Frauen sollen aus unserer Jugend hervorwachsen. Das rechte und rechtgebrauchte Jugendbuch kann dem dienen."


Diese Passage stammt aus dem Geleitwort zum 1933 erschienenen Jugendschriftverzeichnis "Das Jugendbuch im Dritten Reich". Dabei wird deutlich, daß auch der Bereich der Kinder- und Jugendliteratur nicht vom Zugriff und dem "Geist" bzw. "Ungeist" der Nationalsozialisten verschont blieb. Im Gegenteil, vor allem die Kinder- und Jugendliteratur galt den Nationalsozialisten als ein wichtiges Mittel zur nationalsozialistischen Charakterbildung.


Gewollt oder ungewollt vermitteln Kinder- und Jugendbücher immer bestimmte soziale Beziehungs- und Handlungsmuster, Menschen- und Weltbilder. In soziologischem Sprachgebrauch ausgedrückt: Kinder- und Jugendbücher sind in verschiedenartiger Ausprägung immer Medien politischer Sozialisation. (vgl. Andrä Wolter / Wolf-Dieter Scholz, Von der Judenfeindschaft zur Judenvernichtung. In: Antisemitismus und Holocaust, S. 9)


Die Darstellung und die Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust und Drittes Reich ist daher eine wichtige Aufgabe sowie eine gravierende Herausforderung für die Kinder- und Jugendliteratur der Bundesrepublik.



II.) Ausgangssituation


Die NS-Epoche ist - historisch gesehen - ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte. Politisch betrachtet jedoch spielt die Überwindung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik nach wie vor eine wichtige Rolle. Die nahe Vergangenheit existiert , ob willentlich oder unwillentlich, ob bewußt oder unbewußt, noch immer als ein beträchtlicher Teil des nationalen Hintergrundes und der deutschen Geschichte.

Diese "Erblast" geht als ein wichtiges Fundament in die 1949 entstehende Bundesrepublik ein, ihr eine ungeheure Verantwortung für die Zukunft aufbürdend, nämlich Verhältnisse zu schaffen, um eine Wiederholung oder auch nur Ansätze von Entwicklungen in dieselbe Richtung unmöglich zu machen.

Zahlreiche Deutsche versuchen aber nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der Befreiung durch die Alliierten ihre eigene unmittelbare Vergangenheit zu verdrängen und fühlten sich weniger von den Ereignissen im Dritten Reich als vielmehr von den Folgen des Zweiten Weltkrieges betroffen: Flucht, Vertreibung, Besatzung, Hungerjahre usw.

Diesen Zeitgeist der 50er Jahre spiegelt die Kinder- und Jugendliteratur ungewöhnlich lange wider, während die allgemeine Literatur schon bald nach 1945 literarische Zeugnisse für die "jüngste Vergangenheit" vorlegte oder den Auswirkungen des Nationalsozialismus in die unmittelbare Gegenwart nachspürte (Ilse Aichinger, Wolfgang Borchert, Wolfgang Koeppen, usw.).

Erst Ende der 50er Jahre und Anfang der 60er Jahre erschienen Jugendbücher über den

"Widerstand" und die "Judenverfolgung" im Dritten Reich.

Gründe für die langanhaltende Nichtbearbeitung dieses Themas mögen gewesen sein:

das Bildungssystem folgte nur zu sehr dem Trend zu vergessen und sich dem Wiederaufbau zu widmen

statt politische Fragen zu behandeln, zog man sich auf moralisch-private Tugenden zurück

hinderlich war auch, was die Tradition an jugendliterarischen Erwartungsmustern überliefert hatte. Die Erwartungs- und Gewohnheitsmuster, die einerseits wohl auf entwicklungsbedingte Lektüreerwartungen der Kinder und Jugendlichen zurückzuführen waren, in denen sich andererseits aber auch die unpolitischen Ansprüche der Erwachsenen an Kinder- und Jugendliteratur schematisiert hatten, waren nicht gerade prädestiniert zum Aufgreifen des

Themas "Holocaust" und der Auseinandersetzung mit demselben.

(vgl. Dahrendorf, Die Darstellung des Holocaust in der westdeutschen Kinder- und

Jugendliteratur, S. 84)





III.) Periodisierung der Veröffentlichungen:


1.) Erste Periode (1945 - 1959)

Zu dieser Zeit gibt es kaum Veröffentlichungen, die sich mit dem Thema Drittes Reich und Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur befassen. Die meisten Bücher der ersten Nachkriegsjahre thematisieren hauptsächlich "Flucht und Vertreibung" und sind heute fast vom Markt verschwunden. Diese weitestgehend apolitischen Bücher machten vielmehr private, moralische Tugenden zum Gegenstand.

Innerhalb dieser Periode bilden die umfangreichen Darstellungen von der 1933 in die Schweiz emigrierten Lisa Tetzner eine große Ausnahme. In ihrer neunbändigen Kinderodyssee "Die Kinder aus Nr. 67" stellt sie das Schicksal verschiedener Familien aus dem gleichen Berliner Mietshaus dar, um mit dem Schicksal der flüchtenden Mirjam auch das Thema Judenverfolgung aufzugreifen.

Eine weit größere Rolle spielten in dieser Phase authentische oder dokumentarische Darstellungen. Wichtig sind das Tagebuch der Anne Frank (1950 in deutscher Übersetzung) und Ingo Scholls Bericht über die Weiße Rose, der 1952 herauskam.



2.) Zweite Periode (1960 - 1972)

Anfang der 60er Jahre wird das Thema Judenverfolgung und Judenvernichtung vorherrschend. Ursachen dieser ersten Welle war ein wieder erwachender Rechtsradikalismus, Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen und eine öffentliche Diskussion um Versäumnisse der politischen Bildung. Neben der veränderte Thematisierung nehmen Darstellungen mit ausdrücklichem biographischen Charakter zu.

In den 60er Jahren befestigt sich auch ein Darstellungsmuster, das für die Kinder- und Jugendliteratur vorherrschend bleibt, und zwar wird das Dritte Reich aus der Perspektive seiner kindlichen Opfer dargestellt, wobei es gleichgültig ist, auf welcher Seite die Kinder stehen, immer  werden sie zu Opfern eines unmenschlichen Systems.

Wichtige Autoren: Hans Peter Richter (Damals war es Friedrich, 1961), Hans-Georg Noack, Willi Fährmann und als wichtigste Übersetzung in diesem Zeitraum ist Clara Asscher-Pinkhofs 1963 erschienener Bericht über jüdische Kinder in Holland zur Zeit der deutschen Besetzung "Sternkinder".




3.) Dritte Periode (1972 - 1986)

Die politischen Verhältnisse, bedingt durch den Ruf nach mehr Wandel, Öffnung nach Osten und gesellschaftliche Reformen, beginnen sich zu verändern. In der Kinder- und Jugendliteratur breitet sich Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen im eigenen Lande aus, dieser Protest richtet sich auch gegen die Verdrängung der jüngsten Vergangenheit.

Wobei ein anderer Gesichtspunkt der Neubewertung des Themas sich aus dem Generationswechsel zu ergeben scheint. Gesellschaftlich und literarisch beherrschen nun diejenigen die Szene, die im Dritten Reich aufgewachsen sind oder die den Zusammenbruch schon mit wachem Bewußtsein erlebten. Diesen Autoren stellt sich das Thema Nationalsozialismus als lebensgeschichtliche Aufgabe der Erforschung von eigener Kindheit und Jugend dar.

Wichtige deutschsprachige Veröffentlichungen waren H. Burgers "Warum warst Du in der Hitler-Jugend?" und "Stern ohne Himmel" von Leonie Ossowski. Wichtigste Übersetzungen waren die Bücher von Judith Kerr und Johanna Reiss.


IV.) Die Beurteilung von Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Nationalsozialismus

Kinder- und Jugendliteratur, ob es sich um Autobiographien, um Erzählungen mit autobiographischem Hintergrund oder um fiktionale Bücher handelt - stets geht und ging es den Autoren dieser Literatur um das Wachhalten der Erinnerung, stets hat diese Art von Literatur ein aufklärerisches und pädagogisches Interesse. Von diesem spezifischem Interesse her erklärt sich die ausgeprägte Problemdichte der Bücher, erklärt sich auch das Bemühen der Autoren, in die spannenden Erzählungen vielfältige Informationen über politische und soziale Gegebenheiten und Zusammenhänge einzubetten und haben zudem den Anspruch einen Beitrag zur politischen Bildung zu leisten.

Dieses Selbstverständnis und der hohe Selbstanspruch dieser Autoren haben verständlicherweise spezifische Erwartungen und Forderungen an diese Art von Literatur ausgeprägt.

Ernst Cloer hat in seinem Buch "Das Dritte Reich im Jugendbuch", in dem er Jugendbücher auf dieses Thema hin analysiert ein Beurteilungsraster für diese Art der Literatur aufgestellt:

Inhalt

Historischer Hintergrund

Faschismusverständnis

Literarische Gestaltung

Verknüpfung von Individual- und Gesellschaftsgeschichte

Entwicklung der Hauptfigur

Adressaten

Kritische Würdigung

Das Buch im Urteil des Lesers


Bei der Beurteilung von Kinder- und Jugendliteratur zum Komplex Nationalsozialismus fallen besonders auch zwei Dinge ins Auge. Alle Darstellungen des Dritten Reiches gehen davon aus, daß Kinder und Jugendliche sich nur mit Kindern und Jugendlichen identifizieren können. Deshalb wird die Geschichte des Dritten Reiches immer als Kindheitsgeschichte und aus der Perspektive von Kindern dargestellt. Diese Verengung auf die Kinderperspektive scheint selbst keine literarische, sondern eine historische Begründung zu haben - nämlich in der Lebensgeschichte der Autoren. Auch aus diesem Grund scheint diese Form der Perspektive problematisch, denn aus der Kinderperspektive werden alle zu Opfern.

Besonders auffällig erweist sich dieser Literaturkomplex auch für Schwarz-Weiß-Klischees: die Nazi-Bösewichter auf der einen und die Verfolgten auf der anderen Seite. Insbesondre in die Darstellung von Juden schleicht sich, auch aus psychologisch verständlichen Gründen, leicht ein Zug von Idealisierung, Überzeichnung und Weiß-Malerei ein. Möglicherweise besteht bei den Autoren eine Angst, daß eine differenzierte Darstellung von Juden, also inklusive von Schwächen als Antisemitismus ausgelegt werden könnte. Juden objektiv als "normale Menschen" darzustellen, fällt den Autoren dieses Literaturkomplexes in den meisten Fällen schwer.



V.) Bewertung anhand des Werkes "Damals war es Friedrich" von Hans Peter Richter

Anfang der 60er Jahre erschien das autobiographisch gefärbte Buch von Hans Peter Richter "Damals war es Friedrich". Dies war eine der ersten Erzählungen und zählt mittlerweile zu den wichtigen Büchern unter den Jugendbüchern zum Thema Drittes Reich. Es hat immer wieder neue Auflagen erlebt und gehört zu den bis heute immer wieder, besonders in Schulklassen gelesenen Büchern und auch im Ausland sind Übersetzungen stark verbreitet.


Bei dem Roman handelt es sich genaugenommen um einen Roman in Kurzgeschichten. Der namentlich nicht genannte Ich-Erzähler schildert vor dem Hintergrund seiner Freundschaft zu dem gleichaltrigen Juden Friedrich Schneider die zunehmende Isolierung, Anfeindung und Entrechtung der Juden in Deutschland zwischen 1925 und 1942. Die einzelnen, mit Jahreszahlen versehenen Geschichten haben einen stark demonstrierenden Charakter und arbeiten entscheidende Momente und exemplarische Situationen aus der Geschichte der Juden heraus. Die Mutter Friedrichs stirbt nach der Reichskristallnacht, sein Vater wird "abgeholt" und Friedrich selbst durch einen Bombenangriff getötet, da Juden nicht in den Luftschutzkeller hineindürfen.

Der Stil des Buches ist eher sachlich und registrierend als emotional und wertend.

Hans Peter Richter benutzt in seinem Buch allerdings stark stereotype Merkmale, um die jüdische Familie zu charakterisieren. So ist diese in seiner Erzählung reich, und, was wichtiger ist, reicher als die deutsche Familie. Der Vater Friedrichs hat eine sichere Stelle bei der Post, während der Vater des Erzählers arbeitslos ist. Diese stereotype Charakterisierung ist auch an anderen Stellen noch erkennbar, beispielsweise in kleinen körperlichen Zügen: so ist die Jüdin Frau Schneider nicht blond und groß sondern eine kleine und dunkelhaarige Frau.

Neben dieser Wiederholung stark stereotyper Merkmale werden in der Erzählung die jüdischen Figuren stark idealisiert. Als "normale" menschliche Wesen, die einfach Vor- und Nachteile haben, werden die Juden in vielen Werken, wie auch bei Hans Peter Richter nie betrachtet. So ist Herr Schneider ein sehr großzügiger Mensch, der, als beide Familien auf den Rummel gehen, die deutsche Familie zu fast allem einlädt. Sein Sohn Friedrich wird als begabt und klug dargestellt und scheint alles besser zu können als das deutsche Kind.

Diese Erzählung, wie viele andere auch, vermittelt im Laufe der Erzählung das Bild, das viele Deutsche mit Juden befreundet waren und ihnen helfen wollten. Es war nur Hitler, der die Juden "nicht leiden" konnte und auch in "Damals war es Friedrich" bleibt die grausame Realität außen vor.


VI.) Abschlußaussage

Festzuhalten wäre in jedem Fall, daß die Kinder- und Jugendliteratur in erheblich stärkerem Maße als die allgemeine Literatur von der gesellschaftlichen Unfähigkeit und bewußten Weigerung betroffen war und ist, sich dem Thema Nationalsozialismus und besonders auch dem Thema Holocaust zu stellen.

Auch lassen sich teilweise erhebliche Differenzen in der Art und Weise der Darstellung des Faschismus, je nachdem, ob sie in der Erwachsenenliteratur oder in der Kinder- und Jugendliteratur geschieht, ausmachen. Allerdings kann die Kinder- und Jugendliteratur notgedrungen nicht an der besonderen Weise des Lesens bei Kindern und teilweise noch bei Jugendlichen vorbei. Und jenseits von Versuchen zur Verdrängung und Verharmlosung ist es nicht leicht darüber zu schreiben, wenn man der ungeheuerlichen Wahrheit gerecht werden will, ohne Kinder dabei zu überfordern, ohne dabei auch pädagogische Gesichtspunke nicht außer acht zu lassen. Das Bemühen der Autoren aber ist unübersehbar, neue Impulse in bestehende Literaturmuster der Kinder- und Jugendliteratur zu integrieren.


VII.) Literaturverzeichnis



& Antisemitismus und Holocaust: Ihre Darstellung und Verarbeitung in der deutschen

Kinder- und Jugendliteratur. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der

Universität Oldenburg 1988 (=Katalog zur Ausstellung im Rahmen der 14.

Oldenburger Kinder- und Jugendbuch Messe 1988)


& Cloer, Ernst: Das Dritte Reich im Jugendbuch. 20 neue Jugendbuch-Analysen.

Weinheim: Beltz Verlag 1988


& Dahrendorf, Malte; Shavit, Zohar: Die Darstellung des Dritten Reiches im Kinder-

und Jugendbuch. Frankfurt am Main: dipa Verlag 1988


& Otto, Bernd: Die Aufarbeitung der Epoche des Nationalsozialismus im fiktionalen

Jugendbuch der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1980. Frankfurt am Main:

Verlag Peter D. Lang 1981


& Otto, Bernd: Jugendbuch und Drittes Reich. Ein Massenmedium als Instrument der

Verführung und Aufarbeitung. Duisburg: Institut für Schulbuchforschung e. V. (= IfS-

Impulse Bd. 3)


& Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18.

Jahrhundert bis 1945. Würzburg: Königshausen + Neumann 1985


& Richter, Hans-Peter: Damals war es Friedrich. 35. Aufl. München: Deutscher

Taschenbuchverlag 1996