Der Zerfall der SU, Gorbatschows politischer Weg - eine Leistung oder eine Tragödie?
Gleich nach der Revolution von 1917 formulierte Lenin zwei Grundsätze: die Anerkennung des Rechts der Völker auf nationale Selbstbestimmung bis hin zur Abspaltung, sowie den Aufbau einer Föderation gleichberechtigter Republiken als Mittel, um den Vielvölkerstaat in seiner Gesamtheit zu erhalten. Auf dieser Grundlage wurde 1922 die Union gegründet, wenn auch unter dem Einsatz von Gewalt. [1]
Die Weltmacht, bestehend aus über hundert Nationen und Nationalitäten, kam jedoch unter Stalin von dem propagandierten Kurs ab und entwickelte sich unter ihm zu einem strengen, totalitären, grausamen System der Unterdrückung. Der vollständige Bruch mit allen demokratischen, von Lenin versprochenen Idealen, die eigentlich jene marxistische Diktatur des Proletariats beinhalten und statt dessen die Diktatur einer kleinen Gruppe an der Spitze der Staatsmacht und ihrem hierarchisch aufgebauten Apparates - der Nomenklatura, das Verbot aller nicht kommunistischen Parteien sowie die Aufhebung der Presse- und Meinungsfreiheit ebneten Stalins Weg der Willkürherrschaft und begannen ein dunkles Kapitel slawischer und asiatischer Geschichte. Das Machtmonopol basierte auf der Nichtanerkennung der Gewaltenteilung, der Nichtumsetzung der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschenrechte, dem nicht vorhandenen Pluralismus, dem staatlichen Besitzmonopol und zu einem großen Teil von selbstverherrlichender Propaganda, kombiniert mit Gulags, um gezielt alle Andersdenkenden auszuschalten.
Der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn charakterisierte jene Methoden treffend: "Die Gewalt läßt sich nur mit der Lüge verbergen, und die Lüge kann sich nur mit Gewalt erhalten. Jeder, der die Gewalt zu seiner Methode gemacht hat, muß zwangsläufig die Lüge zu seinem Prinzip erwählen."
Dieser Totalitarismus infizierte unumkehrbar die Maxime der Politik der folgenden siebzig Jahre und kann beim besten Willen nicht kommunistisch, ja noch nicht einmal sozialistisch genannt werden. Der Gegensatz zwischen den Methoden und dem Ziel mußten sich letzten Endes auf dieses auswirken, schreibt Karl Kautsky sinngemäß 1930 - und hatte im Rückblick recht. Gorbatschow dokumentiert in seinem Buch die verschiedenen Meinungen zur Definition der Staatsform der SU. Diese Meinungen reichen von einem feudalen Kapitalismus, einem unterentwickelten Sozialismus, dem es an Produktionsmitteln mangelte bis hin zu einem despotischen Sozialismus! Der Grund: Sozialismus bedeutet hier nicht, dass das arbeitende Volk über seine Produktionsmittel verfügt, seinen Arbeitsprozeß leitet und seinen Arbeitsertrag gerecht verteilt. Er bedeutet vielmehr, das nur eine winzige, aus dem Volk herausgelöste, aber gleichzeitig das Volk repräsentierende, Minderheit über die Arbeitsmittel und über die Arbeitskraft, über den Arbeitsprozeß und über den Arbeitsertrag des Volkes verfügt und der Staatsapparat mit seinen Zwangsmitteln alle Kräfte des Volkes seinem Arbeitsplan unterwirft und in seine Arbeitsorganisation einspannt.
Nach Kautsky hat sich der Totalitarismus "mit seinen eigenen Methoden sein eigenes Grab geschaufelt."
Dieses "Erbe der Oktoberrevolution" ist hier knapp zusammengefasst, um die ehemalige Lage der SU vor der Perestroika verständlich zu machen und die Notwendigkeit eines Reformkurses zu verdeutlichen.
Die Voraussetzung für den Reformkurs schuf, nach Gorbatschow, schon Chruschtschow. "Sein Bruch mit der repressiven Politik des Stalinismus war eine große Tat." Des weiteren versuchte Chruschtschow wirtschaftliche Veränderungen jedoch ohne großen Erfolg. Bedeutende Reformversuche wurden auch unter dem damaligen Ministerpräsidenten Alexej Kossygin unternommen. Darauf folgte eine lange Zeit der Stagnation. Nach der Breschnew-Ara unternahm Generalsekretär Juri Andropow einen erneuten Anlauf, die Lage der Gesellschaft zu verbessern.
Nach Gorbatschow hatte auch die Tätigkeit der Dissidenten (z.B. die Ideen Andrej Sacharows) großen Anteil an der Schaffung der geistigen Voraussetzungen der Perestroika.
Außere Faktoren spielten ebenfalls eine wichtige Rolle, wie der "Prager Frühling" von 1968 z.B. in der sowjetischen Gesellschaft einen tiefgreifenden Denkprozeß anregte. Gorbatschow betont des weiteren auch die Rolle von Willy Brandts Ostpolitik und die Suche der sogenannten "Eurokommunisten" nach neuen Wegen des gesellschaftlichen Fortschritts. Diese Faktoren trugen in der SU zu einem Nachdenken über die Werte der Demokratie, Freiheit und Frieden bei.
Folglich wurden Veränderungen in Angriff genommen, jedoch hatte kein einziger Versuch Erfolg. Der Grund für das Mißlingen lag darin, dass man nur die Rahmenbedingungen, nicht aber das Wesen des Systems angetastet hatte: die Besitzverhältnisse, die Machtstrukturen, das Parteimonopol auf politische und geistige Betätigung.
Basierend auf all diesen Versuchen und der Zuspitzung der Probleme sowie deren überfällige Lösung schreibt Gorbatschow, dass die Perestroika bis zu einem gewissen Grad "das Ergebnis einer kritischen Betrachtung der Entwicklung des sowjetischen Staates seit der Oktoberrevolution" war.
Hinzu kommt, dass die Welt etwa zu der Zeit in ein neues Entwicklungsstadium trat; jenes postindustrielle oder Informationszeitalter genannte. "Die Sowjetunion hingegen hatte noch nicht einmal die industrielle Phase ganz erreicht."
Die Perestroika (Umbau) begann mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU 1985.
Parallel zur Perestroika bzw. als Voraussetzung für ihr Gelingen inszinierte man die Politik der Glasnost (Öffentlichkeit) um die "Mobilisierung und Gewinnung der Massen" zu beschleunigen. Ihr Hauptziel war es den Bürgern den neuen Kurs verständlich und offen zu erklären und ein gutes Vorbild dar zu stellen, die "Menschen aus ihrem Winterschlaf" zu wecken, die Gleichgültigkeit und Passivität der Bürger zu überwinden und somit das Bewußtsein der Menschen für die neuen Realitäten zu schärfen. Ohne die Glasnost wäre keine Perestroika möglich gewesen.
Die Erfolge der Perestroika waren nach Gorbatschow in erster Linie, dass das totalitäre System abgeschafft wurde. Tiefgreifende demokratische Umwälzungen wurden in die Wege geleitet. Erstmals wurden allgemeine, freie Wahlen abgehalten, bei denen die Bürger tatsächlich unter mehreren Alternativen wählen konnten. Die Pressefreiheit wurde garantiert und die Gründung politischer Parteien zugelassen. Repräsentativorgane der Macht wurden gebildet, erste Schritte in Richtung Gewaltenteilung getan. Die Achtung der Menschenrechte, die bisher nur pejorativ als "sogenannte" bezeichnet werden mußten, wurde zu einem strikten Grundsatz (zumindest offiziell mit Nachdruck). Die Gewissensfreiheit wurde gewährleistet.
Die wirtschaftliche Freiheit wurde gesetzlich verankert, so dass die unternehmerische Tätigkeit deutlich zunahm, Aktiengesellschaften gegründet und Staatsunternehmen privatisiert wurden. Im Zuge des Gesetzes über den Grundbesitz blühte die Bauernschaft wieder auf, Farmwirtschaften entstanden. Millionen Hektar Land wurden den Dorfbewohnern und Städtern übergeben. Erste Geschäftsbanken wurden eröffnet.
"Mit anderen Worten, die Grundlagen für eine normale, demokratische und friedliche Entwicklung des Landes und seine Umwandlung in ein normales Mitglied der Völkergemeinschaft wurden geschaffen."
Eine radikale Abwendung von den traditionellen, ideologischen Dogmen und Stereotypen wurde angestrebt und mittels der Glasnost gelangte diese auch in die Köpfe der Menschen. Viele Bürger hatten jenes über Jahre hinweg indoktrinierte Denken "die da oben haben eh immer recht." Dieses Denken hatte aber auch seinen Ursprung in der Verfassung, welche jene zentralistische Lenkung des Gesellschafts- und Staatslebens legitimierte und die "oben" beschlossenen Entscheidungen lediglich dem Volk als Befehl übertrug.
Die Regierung rief zu mehr politischer Meinungsbildung, zur aktiven Teilnahme und zur kritischen Überprüfung der Politik auf. Das Ergebnis dieser Konzepte war das außenpolitische "Neue Denken", was stets von der Überzeugung ausging, dass "die Interessen der Menschheit die oberste Priorität haben, und nicht etwa enge klassenspezifische oder nationale Interessen."
Ein Angriffspunkt der Kritiker zur Perestroika war das Nichtvorhandensein eines ausgearbeiteten Models, eines exakten Plans. Gorbatschow schreibt hierzu geschickt, das gerade dieses Argument "die in Jahrzehnten anerzogene Gewohnheit, in Plänen zu denken" wieder spiegelt.
Bei all seinen Bemühungen betonte Gorbatschow in den Jahren der Perestroika stets den demokratischen, friedlichen Weg zu nehmen um ein notwendiges Vorbild zu sein. Folglich charakterisiert er das Wesen der Reformprozesse bezüglich der Frage Revolution oder Evolution folgendermaßen: "Nach ihrer inhaltlichen Zielsetzung zu urteilen, war die Perestroika natürlich eine Revolution, aber der Form nach war sie ein evolutionärer Reformprozeß."
Tragischer weise kam es auch zum Blutvergießen während der Perestroika, was nach Gorbatschows Meinung "lediglich die Folge des Widerstands der Gegner der Perestroika in der höchsten Nomenklatura" war. Soweit ich das beurteilen kann teile ich seine Meinung jedoch sollte man mehr berücksichtigen, dass es bei den Volksaufständen und Demonstrationen zwecks Unabhängigkeitsbestrebungen zu einigen sinnlosen Morden seitens der Armee kam. (Dazu aber später genaueres.)
Abschießend muß ich jedoch anmerken, dass längst nicht alle der angestrebten Ziele auch erfüllt wurden. Gründe hierfür sind die Bürokratie der Demokratie, deren einziges Mittel Reformen sind. Diese mußten im Akkord ratifiziert werden um Besserung herbei zu rufen, wurden aber verständlicher weise von konservativen Politikern in der Regierung verzögert und abgelehnt. Außerdem fehlte eine Musterlösung, eine Anleitung um Millionen Menschen zu helfen, was eine Herausforderung ist, der, denke ich, selbst der klügste Politiker nicht gewachsen ist, zumal wenn ihm demokratische Erfahrung fehlt und er hin und wieder durch seine eigenen Scherben gehen muß. Daran angeknüpft ist auch die Frage in welchem Verhältnis, vorallem in welcher Chronologie man politische und wirtschaftliche Reformen machen soll. Beides bedingt sich gegenseitig, um Erfolg zu haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, etwa wie in China, erst die Wirtschaft zu liberalisieren und darauf aufbauend die politischen Rahmenbedingungen zu verändern. Vielleicht unterschätzte Gorbatschow die Bedeutung der Wirtschaft oder rechnete nicht mit der extremen Unkenntnis und Unfähigkeit großer Bevölkerungsgruppen sich umzustellen von der administrativen Kommandowirtschaft auf Eigeninitiative und Marktwirtschaft.
Fakt ist jedoch, dass während der Reformprozesse die Produktivität sank, sich folglich die materielle Versorgung verschlechterte, was die Bürger unzufrieden machte, so dass viele enttäuscht ihr Vertrauen in die Perestroika verloren, einige sogar die Rückkehr zum alten System forderten. Dies wiederrum schuf einen idealen Nährboden für Kritik seitens der Opposition, welche die Lage geschickt auszunutzen wußte.
Trotzdem muß man, denke ich, Gorbatschow für die Versuche Reformen zu erlassen und überhaupt das Annehmen der nahe zu unlösbaren Herausforderung Respekt und Achtung zukommen lassen. Er ist der Mensch des letzten Jahrhunderts, der am meisten bewegt hat, dessen Entscheidungen die größte Zahl von Menschen betrafen, ein Symbol für Freiheit, Frieden und die Umsetzung von scheinbar unmöglichen Utopien.
Der Zerfall der SU war ein äußerst komplexer Prozeß, den um ihn in seiner Gesamtheit zu erfassen, man schon ein - oder mehrere - Bücher eines Historikers studieren muß, denke ich. Dies resultiert vor allem aus der extremen Größe des Landes mit allen nationalen Eigenheiten, den ideologischen Gegensätzen, so dass man jeden Beschluß von mehren Seiten begutachten muß. Auch das Verhalten der unwissenden, rachsüchtigen, enttäuschten und völlig verarmten Bevölkerung läßt sich schwer einstufen. Oftmals wurde ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück gemacht und trotzdem noch ein Erfolg erzielt - je nach Standpunkt. Ich werde den Prozeß mittels des Buches von Gorbatschow beschreiben und somit auch aus einer zwar seriösen aber subjektiven Quelle schöpfen. Der Standpunkt (von Gorbatschow) kommentiert in erster Linie den Zerfall als völlige Tragödie, als riesigen Fehler der Geschichte, der zu verhindern gewesen wäre (aber "Der Zug ist abgefahren!"), da neben dem totalen Zusammenbruch eines Staatswesens auch der Zusammenbruch des gemeinsamen Wirtschafts- Rechts- und Kommunikationsraumes, eines politischen, wissenschaftlichen und schließlich militär-strategischen Raumes folgte. Mit dem Zerfall änderte sich auch schlagartig die Lage in Europa und der Welt; das geopolitische Gleichgewicht wurde gestört und der kalte Krieg beendet. Ein großes Problem dabei war die abrupte Beendigung der Perestroika, da durch die Auflösung der SU auch der Posten des Präsidenten nicht mehr existierte, Gorbatschow also sein mühseliges Amt niederlegen mußte.
Die Anfänge des Zerfalls
Ein Auslöser waren die Unabhängigkeitsbestrebungen der einzelnen Nationen. Unter Stalin wurden Grenzen willkürlich gezogen, die Menschen wurden aus ihrer Heimat ausgesiedelt und in weit abgelegene Teile des Landes deportiert. Es kam zu schweren Verstößen gegen die Rechte etlicher Völker. Diese hatten nicht das Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes (im Sinne des geographischen Ortes), durften folglich nicht in ihre Heimat zurück. Diese Unterdrückung eskalierte mit den Jahrzehnten zu einer Art brennendem Pulverfaß, welches nur darauf wartete zu explodieren. Als die Perestroika begann, spürten die Menschen, dass die instabile Regierung die politischen Zügel gelockert hatte und die Menschen außerdem auch aufforderte zu politischer Beteiligung, so dass die Bürger die Möglichkeit sahen und wahrnahmen nunmehr ihre nationale Souveränität einzufordern. Der liberale demokratische Kurs der Perestroika war, denke ich, gerade zu ein Startschuß für die folgenden Unruhen, welche vor der Ara Gorbatschow brutal mit Militärgewalt niedergeschlagen worden wären. Gorbatschow mußte aber besonders in Krisensituationen das Vorbild sein, was er von sich vorher behauptet hatte, auch um seine politische Glaubwürdigkeit zu behalten. Diese, im konservativen Kreisen als Schwäche bezeichnete Haltung, provozierte die Massen.
Ein erstes Alarmsignal waren die Zusammenstöße zwischen russischen und jakutischen Studenten im März 1986. Im Dezember kam es als Folge des Wechsels der Führung von Kasachstan zu Massenunruhen in Alma-Ata, bei denen sich die einzelnen Klans gegenseitig bekämpften. Die Zentralregierung in Moskau entschied (sinngemäß nach Gorbatschow), dass man einen Mann brauche, der keine engere Beziehung zu einem der Klans hatte. Man setzte Kolbin - einen Russen- in das Amt, was verständlicher weise vom kasachischen Volk als Zeichen des Mißtrauens und der Mißachtung gedeutet wurde. Es kam zu weiteren Massendemonstrationen. Gorbatschow schreibt, dass dies ein Fehler war, aber viel schlimmer noch, dass der Beschluß des Politbüros "diente weniger dem Ziel, die Ursachen der Vorfälle zu klären und Lehren daraus zu ziehen, sondern der Republik Kasachstan und damit auch anderen eine Lektion zu erteilen."
Im Februar entflammte in Lettland und Estland die Frage nach der Rehabilitierung und Rückkehr der Krimtataren auf die Halbinsel Krim. Drei Tage protestierten sie unter der Parole "Heimat oder Tod" vor der Kremlmauer.
Im August 1987 kam es zu ersten Anzeichen nationaler Unruhen in den baltischen Republiken. Eine Bewegung zur Wiedervereinigung von Karabach mit Armenien übte Druck auf Aserbaidschan aus; es kam zu heftigen Protesten auf beiden Seiten, später sogar zu einem offenen Krieg zwischen beiden Nationen.
Konflikte wie dieses drei Beispiele häuften sich, Nationalismus wurde als Leitmotiv einiger Republiken, kurz: es kam unter Gorbatschow zu einer immensen Entladung aufgestauter, ungelöster, ja sogar unbeachteter Probleme.
Die ersten Folgen waren die Übertragung von manchen Kompetenzen von der Unionsebene auf die Republiken, Programme für einen Übergang zur finanziellen Selbständigkeit wurden ausgearbeitet und ein Unionsgesetz über die freie Entfaltung und gleichberechtigte Verwendung aller Sprachen der Völker der UdSSR wurde erlassen. Ziel war es die Union zu stärken und die Basis für eine Umwandlung in eine echte Föderation zu schaffen.
Diese Ereignisse waren in Hinblick auf den Zerfall jedoch etwa die Ebbe vor der Flut. Die entscheidenden Krisen und Auslöser folgten in drei Städten: Tiflis, Baku und Wilna.
Zunächst kurz zu Tiflis in Georgien. Am 4. April 1989 kam es zu nichtgenemigten, mehrtägigen Demonstrationen mit Parolen wie "Unabhängigkeit für Georgien!" und "Nieder mit dem russischen Reich". Die Reaktion der Politiker war nach Gorbatschow: "Die lokalen Verantwortlichen betrachteten politische Methoden, etwa ein direktes Gespräch mit den Menschen, als Zeichen der Schwäche (das galt damals für viele Kader des "alten Schlags") und zogen es vor, Gewalt anzuwenden." Es wurden Truppen in die Stadt transportiert unter der Annahme, dass "schon die bloße Präsenz von Soldaten die Lage wieder normalisieren werde." Bei einem Einsatz der Armee starben jedoch 16 Menschen und viele andere wurden verletzt. Unklar ist, wer den Befehl zum Einsatz der Truppen gab. Nach Gorbatschow kam es zu Intrigen durch dieselben Leute die auch den Putschversuch 1991 planten. Zur Veranschaulichung der Atmosphäre eignet sich ein längeres Zitat von Regierungschef Nikolai Ryschkow während der Sitzung des Politbüros: "Wir waren während dieser Tage in Moskau, aber was wissen wir hier im Kreml? Ich bin der Chef der Regierung, und was wußte ich? Aus der Prawda[2] habe ich erfahren, das in Tiflis Menschen umgekommen sind. Die ZK-Sekretäre wußten Bescheid. Aber wir in der Regierung, die Mitglieder des Politbüros, hatten keine Ahnung Wir brauchen eine zeitgemäße und wahrheitsgemäße Information. Wo führt denn das hin. Der Befehlshabende in dem Gebiet dort handelt, und wir in Moskau wissen von nichts. Er verhaftet kurzerhand das ganze Politbüro Georgiens, und wir erfahren das wiederum aus der Zeitung. Wie sich herausstellt wußte nicht einmal M. S. Gorbatschow Bescheid. Was geht denn hier im Land vor? Wir setzen eine Armee ein, der Generalsekretär erfährt das erst am nächsten Tag. Wie stehen wir denn da vor der sowjetischen Gesellschaft, ja vor der ganzen Welt? Überhaupt ist es bei uns soweit, wohin man auch blickt, überall werden ohne Wissen des Politbüros Schritte unternommen. Das ist schlimmer, als wenn das Politbüro eine falsche Entscheidung trifft." Die Rede steht für sich und benötigt wohl keinen Kommentar, da dieser nicht schärfer sein könnte. Unwissenheit der aktuellen Lage mischte sich mit Unwissenheit der nationalen Eigenheiten der Krisengebiete und wurde unterstrichen durch oftmals falsche, realitätsferne Entscheidungen.
Der nächste Einsatz der Armee fand in Baku statt. Das geschah im Zusammenhang mit der Zuspitzung des armenisch-aserbaidschnischen Konflikts Anfang 1990, welcher in der Vertreibung der Armenier aus Baku gipfelte. Später wurden von den Menschen die Grenzanlagen auf einer Strecke von mehr als hundert Kilometern eingerissen. In der äußerst kritischen Lage wurde der Ausnahmezustand über Baku verhängt, Truppen marschierten in der Stadt in der Nacht vom 19. zum 20. Januar ein. Die Aufständischen der Aserbaidschanischen Volksfront eröffneten das Feuer auf die Truppen, so dass nach Gorbatschow die Truppen "gezwungen waren zurückzuschießen". In der Nacht starben 83 Menschen, darunter 14 Militärangehörige. Kritiker warfen der Zentralregierung vor den Ausnahmezustand viel zu spät ausgerufen zu haben, worauf Gorbatschow hinweist, das die Zentralregierung gemäß der Verfassung der UdSSR gar keine direkte Legitimation für eine Intervention hatte. Die Zentralregierung mischte sich erst dann ein, als sich zeigte, "dass die Organe der Republik handlungsunfähig waren". Andere kritisieren überhaupt die Ausrufung des Ausnahmezustandes.
Ein dritter entscheidender Auslöser für den Zerfall der SU waren die Ereignisse in Wilna, in Litauen. Im Januar 1991 lag etwa der Höhepunkt der Krise, hervorgerufen durch die Bewegung "Sajudis", die an die Macht kam. Anfangs betonte sie ihre Zugehörigkeit zur Perestroika, jedoch entwickelte sich die Bewegung allmählich zu einem "Sammelpunkt jener Kräfte, die sich für den Austritt aus der SU einsetzten." Die Regierung war unfähig die Separationsbestrebungen zu dämpfen, da diese an das patriotische Bewußtsein der Bevölkerung appellierten indem sie die faktisch nicht existierende Mehrheit und Vorherrschaft der Russen in dem Gebiet kritisierten. Ein anderer Grund war wirtschaftlicher Natur: Durch eine hohe Produktivität und gewisse Vorrechte der baltischen Republiken lag der Lebensstandart in Litauen über dem Durchschnitt der SU. Man erhoffte sich durch eine Abspaltung von der Union eine weitere Anhebung des Lebensniveaus, was auch in anderen Republiken der Fall war.
Interessant ist ein Zitat Gorbatschows bei der Politbürositzung 1989 - auch wenn dies chronologisch nicht in den Kontext passt- zur Situation der baltischen Republiken: "Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, mit einer ökonomischen Selbstständigkeit der Republiken zu experimentieren Wir dürfen keine Angst davor haben, dass die Republiken ihre Souveränität unterschiedlich nutzen Wir müssen überlegen, wie unsere Föderation umgestaltet werden kann, sonst zerfällt sie wirklich"
Um die äußerst komplizierte Lage zu verdeutlichen und die Zwickmühle in der sich die Zentralregierung befand; sozusagen die selbst geschaufelte Grube verständlich zu machen folgt ein kurzer Rückblick über theoretische, allgemeine Beschlüsse die nun auf ihre Verwirklichung warteten:
Im September 1989 verabschiedete das ZK-Plenum die "Plattform der KPdSU" "Die Nationalitätenpolitik der Partei unter den aktuellen Bedingungen". Folgende Hauptaufgaben wurden darin formuliert:
Umwandlung der Sowjetischen Föderation, die sich mit echten politischen und wirtschaftlichen Leben erfüllen soll
Ausweitung der Rechte und Möglichkeiten aller Formen der nationalen Autonomie
Rechtliche Gleichstellung aller Nationalitäten
Schaffung der Bedingungen für die freie Entfaltung der nationalen Kulturen und Sprachen Bekräftigung der Garantie, dass niemand wegen seiner Nationalität benachteiligt werden darf
Dies wirkte sich in Gesetzen aus, wie dem Gesetz "Über die gemeinsamen Anfänge der lokalen Selbstverwaltung und der lokalen Wirtschaftsführung in der UdSSR", dem schon angesprochenen Gesetz "Über die Sprachen der Völker der UdSSR" und das Gesetz "Über die Abgrenzung der Befugnisse zwischen der Union der Sowjetrepubliken und den Subjekten der Föderation".
Gorbatschow betonte häufig, dass das "Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Abspaltung ein unveräußerliches Souveränitätsrecht sei, dass in der Verfassung der UdSSR verankert sei". Folglich wurde am 3. April 1990 ein Gesetz über den Austritt aus der Union verabschiedet. Allerdings hatte einen Tag vor der Verabschiedung die neue Führung Litauens demonstrativ das Land für unabhängig erklärt. Ende April folgten erste Signale, dass die Führung des Landes bereit sei mit der Zentralregierung in Dialog zu treten. "Litauen hätte keine Einwände dagegen, die Unabhängigkeitserklärung als eine Urkunde zu interpretieren, mit der sich der Staus der Republik als "assoziiertes Mitglied einer erneuerten Sowjetunion" vereinbaren ließe." Damit war ein Schritt zu Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen innerhalb der Union getan.
Ein herber Rückschlag folgte jedoch am 12. Juni 1990, an dem der Oberste Sowjet Rußlands eine Erklärung über die staatliche Unabhängigkeit der RSFSR verabschiedete. Dies war der Anstoß für eine regelrechte "Parade der Souveränitätserklärungen" und war der Auslöser für einem Prozeß, an dessen Ende der Zerfall der SU stand - nach Gorbatschow die "Hauptursache des Zerfalls." Es folgten ähnliche Erklärungen seitens der anderen Republiken, nicht nur von Unionsrepubliken, sondern auch von autonomen Republiken.
Etwa vor diesem Hintergrund kam es zu den provokanten Machtspielen zwischen Litauen und der Zentralregierung. Der Konflikt geriet zunehmend zu einem unkontrollierbaren Pulverfaß. Gorbatschow forderte die Republik auf die Verfassung der Union wieder in Kraft treten zu lassen, diese "reagierte nicht einmal darauf." Erste verfassungswidrige Maßnahmen forderten wiederum neue heraus, wodurch die Auseinandersetzung "auf das Gleis der direkten Konfrontation" geriet. Viele konservative Politiker der Union sahen eine schnelle und effiziente Lösung der Krise im Einsatz von Waffengewalt, also in den Methoden des totalitären Staates vor der Perestroika. Obwohl Gorbatschow entschieden gegen solche Mittel argumentierte, kam es zu einem seltsamen, auch im Buch unbegründeten Einsatz der Armee. "Sowjetische Militäreinheiten schossen vor dem Fernsehgebäude und dem Parlament auf Demonstranten" in Wilna. Dies ist der einzige Satz den Gorbatschow dem Skandal widmet, er ergänzt ihn lediglich durch die Rechtfertigung, dass bis heute nicht geklärt ist, wer den Befehl zum Einsatz der Truppe gab!
Die drei Krisen in Tiflis, Baku und Wilna trugen, verbunden mit der Souveränitätserklärung Rußlands maßgeblich zu einem grundlegenden Nachdenken über die multilateralen zukünftigen juristischen Beziehungen bei. Der Wunsch nach einem neuen Unionsvertrag gewann rasant an politischer Kraft, so dass man sich der Frage stellen mußte um nicht alles zu verlieren bzw. um zu retten, was noch zu retten war.
Der Weg zu einem Unionsvertrag ähnelte einem holbrigen, dreckigen Feldweg. Die extreme Herausforderung, die Reifeprüfung für alle sowjetischen Republiken war zwar ein Beweis für das etablierte liberale System, schuf aber gleichzeitig auch einen unfassbaren politischen Sumpf voller Intrigen, Lügen und Enttäuschungen.
Selten kam es auf der Welt zu einem so weitreichenden Vorhaben, dass so viele realistische und vernünftige, aber zugleich grundverschiedene Meinungen beinhaltete, dass ein riesiges Spektrum von Positionen entstand.
Ich bin - wohl auch beeinflusst durch Gorbatschows Blickwinkel - zu der Meinung gekommen, dass eine Konföderation ähnlich dem Vorbild der EU das progressivste und langfristig beste System, gerade in der Zeit der Globalisierung ist, obwohl hierbei die Frage der Ausarbeitung und der reellen Umsetzung eines solchen konföderalen Vertrages pessimistische Zweifel aufbringt - besonders in Hinblick auf das Protokoll der damaligen Sitzung (später genaueres). Desweiteren bringt Gorbatschow viele Argumente bezüglich Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Finanzen, Verteidigung etc. die einen völligen Alleingang der einzelnen Länder geradezu als lächerlich und kurzsichtig brandmarken. Jedoch bleibt aus westlicher Sicht ein nicht zu verachtender positiver Punkt offen: Auch wenn dieser Standpunkt sehr egoistisch ist und die erbärmliche Situation vieler Menschen der ehemaligen SU ausnützt, so muß man doch sagen, dass gerade dieser Zerfall das Ende des Kalten Krieges darstellt. Folglich ist aus westlicher Sicht der totale Zusammenbruch und der Ruin der Sowjetunion unschätzbar wertvoll, da damit die ehemalige "rote Gefahr" anscheinend endgültig gebannt und beendet ist und wir auf einen dauerhaften Frieden hoffen können.
Außerdem folgte die Aufgabe des sowjetischen Hegemonialanspruchs über die osteuropäischen Staaten auch die Auflösung des Warschauer Paktes, die friedliche Revolution der DDR und die deutsche Wiedervereinigung, bei der Gorbatschow während der 2+4-Verträge eine zentrale Rolle spielte.
Die Meinungskonflikte während der Grundlegung der neuen Verfassung - dem Unionsvertrag- waren enorm. Angefangen mit den schwachen und zahlenmäßig unterlegenen Kommunisten, über viele sozialistische Entwürfe in einer Bandbreite von konservativ bis liberal und etliche demokratische Meinungen vom konservativen linken bis zum extremen militanten rechten Flügel, gab es viele einflussreiche Politiker, die alle Mittel nutzen ihre Anschauung in den Vertragstext zu pressen. Eine andere fundamental wichtige offene Frage, war die Art der Union und ob überhaupt eine erwünscht war. Im bejahenden Lager (Gorbatschow) kamen Vorschläge zu einer Föderation, einer Konföderation, einem Konglomerat von Republiken oder einer Commonwealth ähnlichen Verfassung wobei selbstverständlich noch ungeklärt war in welchem Grad die Republiken liberal und souverän sein sollten - nur in der Politik oder auch in der Wirtschaft oder vielleicht in allen Bereichen? Hier war Boris Jelzin ein erbitterter Gegner Gorbatschows, da er sich für den völligen Alleingang Rußlands einsetzte. Eine weitere ungeklärte Frage bezog sich auf die Menge der Teilnehmer. Viele stimmten überein, dass Rußland zusammen mit der Ukraine und Kasachstan schon eine repräsentative und ausreichende Größe hätte.
Spätestens hier wird deutlich, dass man nicht im geringsten pauschal von "der Regierung" einer Republik sprechen konnte, da nahezu jede kleine Organisation schon in sich zerrissen war, Machtkämpfe und Intrigen geradezu wucherten und, denke ich, durch die fehlende bzw. rudimentäre demokratische Erfahrung der Millionen Menschen die Meinungsführer ihre Position auch schnell mit simpler Rhetorik durch Anhänger untermauern konnten.
Gorbatschow wurde vom neu geschaffenen Kongress der Volksdeputierten am 25.51989 zum neuen, mit besonderen Vollmachten ausgestatteten Staatsoberhaupt (Vorsitzender des Obersten Sowjets) gewählt, sowie, nach Einführung des Präsidialsystems am 15.3.1990 zum Staatspräsidenten gewählt - zuvor war er "nur" Generalsekretär des ZK der KPdSU. Boris Jelzin wurde nachdem Gorbatschow Staatspräsident war zum Vorsitzender des Obersten Sowjets der RSFSR (Parlamentspräsident) gewählt.
Bei Gorbatschows Amtsantritt wurde ein Föderationsrat geschaffen- bestehend aus sämtlichen Führern aller Unionsrepubliken. Es folgte die Bildung von Arbeitsgruppen: 12 Treffen der Arbeitsgruppe der Vertreter der Unionsrepubliken und der Arbeitsgruppe des Obersten Sowjets der UdSSR.
Gorbatschow kritisiert heftig die Handlungsweise Jelzins, dem Staatsoberhaupt, der viele Republiken bekräftigte in ihrem Wunsch auf Abspaltung, denen Rußland -durch Jelzin- ein Vorbild war. Jelzin sagte z.B.: "Auf der Grundlage der Souveränitätserklärung [] wird Rußland in jeder Hinsicht selbstständig sein, und seine Beschlüsse müssen über den Unionsbeschlüssen stehen." Diese, von Gorbatschow als "unverantwortlich" und "irrig" kommentierte Haltung bedeutete, dass Rußland "nicht die Absicht hatte, Beschlüsse auszuführen, die von der Föderation getroffen worden waren." Diese Handlungsweise Rußlands löste nach Gorbatschow faktisch den Zerfall der Union aus. "Sämtliche Einschätzungen, dass die Nationalitätenprobleme im Baltikum, im Transkaukasus, in Mittelasien den Zerfall der Sowjetunion eingeleitet hätten, sind Versuche, die unverantwortliche Handlungsweise Jelzins und seiner Anhänger in der Bewegung "Demokratisches Rußland" im nachhinein zu rechtfertigen" schreibt Gorbatschow und ergänzt: "Weder damals noch heute hat irgendjemand überzeugende Argumente vorzubringen vermocht, weshalb sich Rußland unbedingt von der UdSSR unabhängig erkläre mußte." Natürlich hatte Jelzin auch seine - wohl berechtigten- Pläne, die auszuführen aber zu weit reichen würde. Jedoch agierte er oftmals hinter dem Rücken des Präsidenten und hatte eine um 180° gekehrte Meinung zu Gorbatschows Politik. Jelzin betrieb eine "Politik mit dem Ziel der Zerschlagung der Union und der Machtübernahme in Rußland." Er ging sogar soweit eine Kampagne gegen den Präsidenten zu starten und dessen Rücktritt öffentlich zu fordern.
Es kam zu einem "Krieg der Gesetze", indem die Russische Föderation Gesetze erließ, die dem Unionsgesetzen widersprachen. Die Demokraten schlossen eine Allianz mit separatistischen, nationalistischen Gruppierungen mit dem gemeinsamen Ziel die Union zu schwächen und wenn möglich aufzulösen. Bewaffneter Terror gegen Andersdenkende sowie die Schändung sowjetischer Denkmäler und die Verbreitung profaschistischer Ansichten als auch die sozialen Krisen durch den Rückgang der Produktion wären fast in einem Bürgerkrieg eskaliert.
Der einzige Ausweg den alle Seiten annehmen mußten, da er demokratisch und fair war, lag in dem Referendum über die Erhaltung der Union. Am 17. März 1991 stellte man allen Bürgern die Frage: "Halten sie die Erhaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerte Föderation gleichberechtigter, souveräner Republiken, in der die Rechte und Freiheiten der Menschen jeder beliebigen Nationalität in vollem Maße garantiert sein werden, für notwendig?" Bei einer Wahlbeteiligung von 80% stimmten 76,4% mit "Ja" und 21,7% mit "Nein". Das Ergebnis steht für sich. Problematisch blieb allerdings, dass zwar die Mehrheit der Bürger- nicht aber die Mehrheit der Politiker dafür war. Vielen ging der Reformkurs maßlos zu weit, andere forderten die Neugestaltung der Führung und die Rückkehr zum alten System, wie Gurenko (Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine), der öffentlich forderte "den Status der KPdSU als Regierungspartei gesetzlich zu verankern" und die Parteikontrolle über die Massenmedien wiederherzustellen!
Bei einer entscheidenden Diskussion über den neuen Unionsvertrag zitiert Gorbatschow eine Mitschrift der Vorbereitungskommission, deren Simplizität, die Geringschätzung der Teilnehmer und das offene Desinteresse für den immerhin wichtigsten Vertrag seit Jahrzehnten, mich tief beeindruckt haben. An einigen Stellen drängt die Frage auf, ob die Teilnehmer überhaupt begriffen hatten was für weitreichende Aussagen dort gemacht wurden! Der Inhalt der Diskussion umfaßte Themen wie der Name des zukünftigen Staatsgebildes, Mitgliedschaft in dieser Union, Steuern, Territorium, juristische Befugnisse etc. Jelzin verläßt das Gremium direkt zu Anfang, da er sich um seinen Wahlkampf kümmern muß!!! Als der Artikel 3 (Territorium) besprochen wird, schreibt Gorbatschow, dass er eine kurze Geschichte erzählt mit der Pointe, dass "Die beste Rede ist die Rede, die nicht gehalten wurde"! Im darauffolgenden Satz schreibt er fast beiläufig: "Im folgenden wurden weniger Kommentare abgegeben."
Ahnlich ist die Beschreibung Gorbatschows des 5. Artikels (Abgrenzung der Befugnisse zwischen Union und Republiken): "Über eine Stunde lang wird die Bezeichnung des Artikels diskutiert. Danach einigten sich die Anwesenden aus irgend einem Grund sehr schnell über den ganzen Artikel."
Ein weiteres Indiz für das Desinteresse an der Zukunft des eigenen Landes folgt, als jemand, da es bereits Nacht ist, fragt, ob man die Diskussion auf morgen vertagen solle. Gorbatschow ist dagegen und schreibt: "Nach einer kurzen Pause wird der Artikel über die Steuern in zwei Minuten abgeschlossen." Als auch er keine Lust mehr hat, jemand aber noch etwas einzuwenden hat, antwortet er gebieterisch mit eisener Faust: "Was mußt du denn ständig murren, wie ein alter Großvater? Wir haben doch alle deine Vorschläge angenommen."
In ähnlichen, endlosen Diskussionen fanden in dieser Zeit regelrechte rhetorische Schlachten über eine Fülle von ungelösten Problemen statt. Gefährliche Zuspitzungen und Meinungskonflikte zwangen die Befürworter des Vertrags möglichst schnell zu handeln und den Vertrag in aller Eile zur Ratifizierung bereit zu stellen. Die Gegner des Vertrags hatten ein leichtes Spiel jenen Vertrag zu verzögen, was ihnen so gut gelang, dass der Unionsvertrag letztlich nicht einmal ratifiziert wurde.
Am 15. August 1991 veröffentlichte man den Entwurf des Unionsvertrags, der vier Tage später ratifiziert werden sollte. Jedoch wurde die Annahme des neuen Vertrages "durch den Putsch jäh verhindert." Ich will nur kurz auf den Putsch vom 19. - 20. August eingehen, da dieser erstens scheiterte und zweitens die Reaktion der Reformgegner war, die nun einsahen, das ihre Pläne nicht mehr verwirklichbar waren. Der Putsch an sich basierte auf einem einfachen Erlaß, mit dem Inhalt, dass der Vizepräsident Janajew die Funktion des Präsidenten übernahm, da dieser "aus gesundheitlichen Gründen zu deren Ausübung nicht mehr bereit sei." Außerdem kritisierten die Putschisten den Entwurf des Unionsvertrages heftig und riefen den Ausnahmezustand aus. Nach nur drei Tagen hatte die ehemalige Regierung die Zügel der Macht wieder fest in der Hand. Der Staatsstreich von reaktionären Kräften aus der Partei und dem Militär wurde mit Hilfe loyaler Truppen, durch den Widerstand der Bevölkerung und schließlich durch (Gorbatschows politischen Gegner) Jelzin beendet.
Als Folge des Putsches versuchte Gorbatschow natürlich die Unterzeichnung des Vertrages zu beschleunigen, also eine neue Unionsverfassung und ein neues Wahlgesetz zu erlassen, damit Wahlen zum Unionsparlament und für das Präsidentenamt angesetzt werden konnten.
Der Putsch hatte die Gestaltung neuer Beziehungen auf Unionsebene zwischen den souveränen Republiken unterbrochen und den Desintegrationsprozeß nicht nur des Staates, sondern auch der Gesellschaft verstärkt.
Jelzin erließ das Dekret "Über die Gewährleistung der wirtschaftlichen Grundlagen der Souveränität der RSFSR", das die Übergabe sämtlicher der Unionsregierung unterstellten Unternehmen und Organisationen an Rußland beinhaltete.
Der Oberste Sowjet der Ukraine erklärte das Land am 24. August zu einem unabhängigen, demokratischen Land. Am 25. August folgte Weißrußland, danach die Republik Moldau, Aserbaidschan, Kirgisistan und Usbekistan. Am 28. August verkündetet die Führung der RSRSF, dass Rußland die Kontrolle über die Staatsbank und die Außenhandelsbank der UdSSR übernehme.
Der Weg zu einer Einigung über den Unionsvertrag führte nun durch tiefen Sumpf, obwohl eine vereinte Verteidigung und eine gemeinsame Außenpolitik immer noch bejaht wurden.
Die Unabhängigkeit der baltischen Republiken wurden offiziell anerkannt und die Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsmarktes sowie eine koordinierte Wirtschaftspolitik konsolidiert als Voraussetzung zur Überwindung der Krise. Der Entwurf des Unionsvertrages sah außerdem vor, dass einem Eintritt in die Union nicht unbedingt auch ein Eintritt in die Wirtschaftsunion folgten musste. Am 18. Oktober unterzeichneten die Führer von acht Republiken und der Präsident der UdSSR die Wirtschaftsunion. Rußland sollte den anderen Republiken wirtschaftlich helfen, da es über die meisten Ressourcen und eine ausgebaute Wirtschaft verfügte. Somit konnten die anderen Republiken den durch den Putsch drohenden Zerfall nicht als Tragödie, sondern als eine Art Sieg umwerten, da durch die offensichtlich schwache russische Regierung ihr Machteinfluß wuchs. Wieder forderten viele unter der Führung Jelzins einen Alleingang Rußlands und somit eine Isolation. Darauf folgten "Verzögerungsmanöver und politische Intrigen", so dass dem Land durch die Unklarheit "die Puste ausgeht".
Das Minsker Abkommen: Der Todesstoß der UdSSR
Am 12.6.1991 (also wenige Monate vor den eben geschilderten Ereignissen )wurde Jelzin mit absoluter Mehrheit bei den ersten freien, direkten und geheimen Wahlen zum Präsidenten der russischen SFSR gewählt.
Am 24.8.1991 trat der inzwischen von der Politik nahezu resignierte Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU zurück. Die Machtverhältnisse zwischen den beiden erbitterten Gegnern änderten sich damit entscheidend, auch wenn Gorbatschow immernoch Präsident der Sowjetunion war.
In seinem Buch beschreibt Gorbatschow das Abkommen in wenigen Sätzen; er erwähnt die Demütigung aus Rücksicht sich selbst gegenüber nicht! Die Quellen gehen hier in einigen Punkten auseinander, auch fehlt wohl die Objektivität - soweit sie vorher existierte- nun völlig. Die bewußte Auslassung wichtiger Passagen der Geschichte seitens Gorbatschow ist ein erbärmliches, trauriges Ende für ein Buch eines großen Staatsmannes. Wer die Wahrheit sucht, muß auch die Wahrheit sagen und diese umgeht Gorbatschow geschickt in den folgenden Seiten. (Möglicherweise nimmt er direkter Stellung in der eigentlichen zweibändigen Ausgabe des Buches.) Ich denke, dass ich bisher schon mehr als genug geschrieben habe und somit auf eine dritte Quelle - auch wenn dies ein wichtiger Teil des Referates ist- verzichten kann.
Gorbatschow empört sich, dass Jelzin ihn angelogen hat, indem ihm dieser verkündete die Gespräche in Minsk seien lediglich zwecks "bilateraler russisch-weißrussischer" Gespräche.
Das Abkommen beinhaltet die Auflösung der Sowjetunion, da dieses erklärt, dass "alle rechtlichen Normen der Union außer Kraft gesetzt" sind. Außerdem betont das Abkommen die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes, einer gemeinsamen Währung und eines einheitlichen Finanzwesens, sowie die Zusammenarbeit in Wissenschaft, Bildung, Kultur und im militärstrategischen Bereich. Das Abkommen ist nach Gorbatschow "widerrechtlich und gefährlich". Das genaue Datum des Treffens in Minsk wird nicht erwähnt, jedoch fand die Ratifizierung am 12.12.1991 statt, also etwa eine Woche nach dem Treffen.
Gewissermaßen entmachtete Jelzin mit dem Abkommen Gorbatschow; er und seine Anhänger "opferten faktisch die Union ihrem glühenden Wunsch im Kreml zu herrschen." "Nach dem August-Putsch versetzte das Minsker Abkommen, das Komplott im Wald von Belowesha, der Union den Todesstoß." Später nennt er es auch die "Verschwörung im Wald von Belowesha".
Vielleicht lag auch ein Grund für die Annahme des Abkommens in einem Argument, das von dem Kommunisten Sewastjanow geäußert wurde: "Ich stimme für das Minsker Abkommen und rufe alle auf, ebenfalls dafür zu stimmen, weil wir Gorbatschow loswerden."
Am 8.12.1991 trat die Troika zusammen. Eine Erklärung wurde veröffentlicht: "Die Union der Sozialistischen Sowjetunion hat als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität aufgehört zu existieren."
Gorbatschow kritisiert noch die "Hast bei der Veröffentlichung" des Abkommens und ergänzt einen in meinen Augen widersprüchlichen und falschen Satz: "Es wurde weder von der Bevölkerung, noch von den Obersten Sowjets der Republiken, in deren Namen es unterzeichnet wurde, diskutiert."
Am 10.Dezember ratifizierten der Oberste Sowjet Weißrußlands und der Oberste Sowjet der Ukraine das Abkommen über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und "wichen damit der Frage nach der Union Souveräner Staaten aus". Zwei Tage danach verabschiedete der Oberste Sowjet der RSFSR ein "ähnliche Resolution". Bald folgten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Turkmenistan.
Am 21.12 fand ein Treffen in Alma-Ata statt, welches das "Minsker Abkommen bestätigte." Gorbatschow kommentiert die Euphorie und die Bereitschaft die Erklärung zu unterzeichnen geschickt: "Gestern kannte kaum jemand die Teilnehmer, und morgen sind sie Regierungschefs unabhängiger Staaten."
Somit fand die Zerstückelung des Landes ihre Ende. Spätestens jetzt war es offensichtlich, das es keine Sowjetunion mehr gab. Folglich trat Gorbatschows am 25.12.1991 als Staatspräsident der SU zurück.
Quellen: Michail Gorbatschow "Über mein Land, Rußlands Weg ins 21.Jahrhundert"
Verlag: C.H. Beck, 2000
kurze Ausgabe (232 Seiten)
Das Fischer Lexikon "Personen der Gegenwart"
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