Revolution und Bürgerkrieg in Rußland
Lenin war überzeugter Marxist, aber sein Handeln widersprach der Lehre. Nach
Marx mußte die sozialistische Revolution, getragen von proletarischen
Millionenmassen, zuerst in den kapitalistisch fortgeschrittensten Ländern
ausbrechen. Doch im rückständigen Rußland ergriff eine kleine Schar von
Berufsrevolutionären die Macht.
Die russische Februarrevolution von 1917 war ein spontaner Vorgang:
Versorgungsschwierigkeiten steigerten die allgemeine Unzufriedenheit und
führten zu Unruhen, die in wenigen Tagen das von niemandem mehr gestützte
Zarenregime hinwegfegten. Die Macht fiel einer »Provisorischen Regierung« zu,
die die herkömmlichen Ziele einer »bürgerlichen« Revolution vertrat:
Demokratie, Parlamentarismus, rechtsstaatliche Ordnung.
Die meisten Marxisten waren der Meinung, daß nun eine lange
bürgerlich-kapitalistische Periode bevorstehe und das Ziel der proletarischen
Revolution noch in weiter Ferne liege. Nicht so die führenden Köpfe der
bolschewistischen Partei. Trotzkij hatte schon Jahre zuvor die Theorie der »permanenten
Revolution« entwickelt, wonach die bürgerliche Revolution in Rußland sofort in
die proletarische übergehen und diese dann als Initialzündung für die
Weltrevolution wirken werde. Lenin schloß sich dieser Auffassung an und drängte
seine Partei zur Machtergreifung. So kam es zum bolschewistischen
Staatsstreich, der in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung als
»Große Sozialistische Oktoberrevolution« bezeichnet wird.
Nach der Machtübernahme gab es in der Partei viele Meinungsverschiedenheiten.
Zum Beispiel waren führende Genossen für Zusammenarbeit mit anderen
sozialistischen Gruppen. Lenin bestand auf der bolschewistischen
Alleinherrschaft und setzte sich durch. Die erwartete Revolution in den
hochkapitalistischen Ländern - Lenin hatte seine Hoffnung vor allem auf
Deutschland gesetzt - blieb aus; statt dessen erhob sich Widerstand im eigenen
Land, und es kam zum Bürgerkrieg, in den auch ausländische Mächte eingriffen.
Diese gefährliche Lage verstärkte die diktatorische Tendenz. Die eigentlichen
Ziele der Revolution - klassenlose Gesellschaft, proletarische Demokratie -
mußten zurücktreten; die Machterhaltung ging vor. Das gewählte Parlament wurde
auseinandergejagt. Nach und nach wurden alle nichtbolschewistischen Gruppen in
die Illegalität gedrängt. Der Staatsapparat wurde nicht zerschlagen, wie das
Programm es vorsah, sondern gewaltig ausgebaut. An die Stelle des »bewaffneten
Volkes« trat eine reguläre Armee. Eine Geheimpolizei, die Tscheka, wurde
geschaffen und erhielt unbegrenzte Vollmachten zum Kampf gegen die
»Konterrevolution«. Schließlich wurde auch die freie Diskussion innerhalb der
bolschewistischen Partei abgeschafft. Alle Macht konzentrierte sich im
Politbüro. Als Lenin 1924 starb, war alles bereit für den künftigen Diktator:
Stalin.
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