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Der 15 Juli 1927

Der 15. Juli 1927


Der Auslöser:

Am 30. Januar 1927 kam es in dem burgenländischen Ort Schattendorf zu einem folgenschweren Zusammenstoß zwischen Mitgliedern des republikanischen Schutzbundes und der Frontkämpfervereinigung; einer rechtsradikalen Organisation ehemaliger Frontsoldaten. Eigentlich nichts besonderes, denn in der Geschichte der 1.Republik kam es schon öfters zu Schlägereien zwischen rechten und linken Verbänden, bei denen immer wieder einige Opfer, meist jedoch auf Seite der Linken, zu beklagen waren.

Allerdings war das Burgenland bis zu diesem Tag aus den "Soldatenspielereien" heraus gehalten worden; Heimwehren und Schutzbund hatten eine Art Stillhalteabkommen geschlossen. So hielten die Frontkämpfer und Schutzbündler ihre Versammlungen in Schattendorf auch immer 14tägig alternierend ab, um etwaige Zusammenstöße zu verhindern. Bis zu diesem besagten Tag funktionierte dieses Abkommen auch einwandfrei. Doch dummerweise organisierten sowohl Frontkämpfer, als auch Schutzbündler, am 30. Januar 1927 Veranstaltungen in Schattendorf. So kam es schon am Vormittag in Schattendorf zu kleineren Schlägereien. Doch die Situation eskalierte schließlich dann gegen 16 Uhr vor dem Gasthaus Tscharmann, als einige Mitglieder des Schutzbundes an diesem vorbeimarschierten, und den dort verweilenden Fontkämpfern marxistische Werbesprüche zuriefen.



(Plan von Schattendorf auf Seite 2)[1]


Bei diesem Zusammenprall wurden mehrere Personen verletzt, 5 davon schwer, und 2 Personen (ein 8jähriger Bub und ein Kriegsinvalide) getötet. Die mutmaßlichen Schützen (die beiden Söhne des Wirten, Hieronimus und Josef Tscharmann, sowie Johann Pinter) wurden kurz darauf verhaftet und Anfang Juli 1927 vor ein Geschworenengericht gestellt.


In ganz Österreich herrschte daraufhin tiefe Betroffenheit über den Tod dieser beiden Menschen, es kam zu Protestkundgebungen, zu Streiks, und einem ganzen Volk wurde schlagartig klar, auf welchen gefährlichen Weg es geraten war.

Noch meinte Seipel vor dem Parlament: 'Wir werden alles tun, damit das Verbrechen die verdiente Strafe findet.'

Als die beiden Opfer am 2. Februar begraben wurden, kam es in ganz Österreich zu einem 15minütigen Generalstreik. Bei den Wahlen am 24. April befand sich das Bürgertum in der Defensive; der Sieg über den Bürgerblock war für die Sozialdemokraten nur noch eine Frage der Zeit. Aber obwohl die Sozialdemokraten 42% der Stimmen bekamen, wurden sie nicht in die Regierung eingebunden. Sie befanden sich auch weiterhin in der Opposition.


Am 5. Juli 1927 begann im Schwurgerichtssaal des Landesgerichts Wien der Prozeß gegen die mutmaßlichen Attentäter von Schattendorf, die allerdings nicht wegen Mordes, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, vor Gericht standen, sondern wegen 'Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit durch boshaftes Handeln oder Unterlassen unter besonders gefährlichen Verhältnissen'. Sozialdemokraten waren der Meinung, daß dieses Mal ein exemplarisches Urteil gefällt werden müsse. Die Geschworenen waren aber anderer Meinung, und sprachen die 3 Angeklagten, da man angeblich nicht mehr feststellen konnte, welche der Schüsse die tödlichen waren und da Schutzbündler schon vorher, bevor noch die Schüsse abgegeben wurden, das Gasthaus Tscharmann angriffen hätten (die Schutzbündler waren mit Steinen, die 3 Angeklagten mit Gewehren bewaffnet), frei.


Niemand vermutete zu diesem Zeitpunkt, daß das Schattendorfer Urteil zum Anlaß von Ereignissen werden könnte, die als der Wendepunkt in der Geschichte der 1. Republik bezeichnet wurden. Die Folgen der Unruhen am 15. Juli und an den nächsten beiden Tagen, des Justizpalastbrandes, der blutigen polizeilichen Repression und des politischen Mißerfolges des Generalstreiks, haben in der Tat der politischen Entwicklung in Österreich eine andere Wendung gegeben, sie jedenfalls in verhängnisvoller Weise beschleunigt. Die Schwächung der demokratischen Kräfte des österreichischen Staates und das beschleunigte Anwachsen der faschistischen Bewegungen, sowie der Diktatur Dollfuß' und Schuschniggs, scheinen ursächlich mit dem 15. Juli 1927 verknüpft zu sein.[2]


Die Ursachen

Neben dem Urteil im Schattendorfer Prozeß gab es auch noch eine Reihe von gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Widersprüchen:

Da schon öfter bei ähnlichen Vorfällen Menschen, meist Arbeiter, getötet wurden, und ihre Mörder meist freigesprochen, bzw. eine recht mild aussehende Bestrafung erfahren durften, wurde nun durch die offensichtliche Einsehbarkeit der Verschuldensfrage das elementare Gerechtigkeitsgefühl der Arbeiter herausgefordert.

Während das wohlhabende Bürgertum und die Bauern durch den wirtschaftlichen Aufschwung profitierten, sank die Arbeitslosenrate kaum unter die 10%-Marke.

Die politische Vertretung der Arbeiterschaft befand sich weiterhin auf dem Rückzug, obwohl die SDAP bei den Frühjahrswahlen 1927 sowohl an Stimmen als auch an Mandaten dazu gewonnen hatte (Enttäuschung bei der Arbeiterschaft war groß darüber, daß die bürgerlichen Parteien mit den Sozialdemokraten keine Koalitionsregierung eingehen wollten.).

Durch die unintelligente Haltung der sozialdemokratischen Partei bezüglich Gewalt in der Politik, unterblieb im politischen Bewußtsein ihrer Anhänger die Bildung einer klaren Vorstellung vom Wesen der Demokratie.

Die Sozialdemokratische Führung äußerte sich nicht zu dem Freispruch im Schattendorf-Prozeß, und somit war ihren Anhängern zunächst auch unklar wie sie sich zu verhalten hatten.

Die Exekutive war, wie die sozialdemokratische Parteiführung, nicht auf Massenproteste dieses Ausmaßes gefaßt und griff somit zu untragbaren Mitteln um diese zu beenden.[3]


Vor Beginn der Massenproteste:

Die Nachricht über den Freispruch der 3 Angeklagten im Schattendorfer Prozeß verteilte sich nun über Wien wie ein Lauffeuer. Jeder spürte in der Stadt und im ganzen Land, daß dieses Urteil das künftige Schicksal Österreichs zeichnen würde.

Niemand erwartete exemplarisch strenge Strafen - es ging nur ums Prinzip. Der Schuldspruch sollte eine Mahnung zur Besinnung sein: Hört endlich auf mit der Soldatenspielerei, mit dem lebensgefährlichen Wettrüsten. Macht Schluß mit der Bürgerkriegsstimmung im Land![4]

Wie fast die gesamte Wiener Bevölkerung wurde auch Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der AZ, von dem Freispruch überrascht (er hatte vorher einen langen Leitartikel vorbereitet, der ganz auf eine Verurteilung eingestellt war, und somit nun unbrauchbar geworden war). Als er sich gerade seine ganze Empörung in einem neuen Leitartikel vom Leibe schrieb, bekam er Besuch von E-Werks Arbeitern, die so ziemlich als erste von dem Freispruch erfahren haben.


Kurzer Auszug aus dem Leitartikel von Friedrich Austerlitz:

Nach Ansicht der Geschworenen bedeutet es also gar nichts auf Menschen zu schießen; das ist, wenn die Schießenden Frontkämpfer sind, wohl ein erlaubtes Jagdvergnügen! Die aber den Eid, den sie geleistet haben, so schnöde mit Füßen treten, die sich über Recht und Unrecht so frech hinweg setzen, die sind keine Geschworenen, sind ehrlose Gesetzesbrecher, denen für ihren schamlosen Freispruch Haß und Verachtung aller rechtlich denkenden Menschen gebührt. Diese Verachtung wird ihnen auch werden

Mit den Elenden auf der Geschworenenbank, die diesen Freispruch auf dem Gewissen haben, sind die mitverantwortlich und mitschuldig, auf deren Anstiftung dieser feile Wahrspruch zurückzuführen ist

Die bürgerliche Welt warnt immer vor dem Bürgerkrieg; aber ist diese aufreizende Freisprechung von Menschen, die Arbeiter getötet haben, nicht schon selbst der Bürgerkrieg? Wir warnen sie alle, denn aus einer Aussaat von Unrecht, wie es gestern geschehen ist, kann nur schweres Unheil entstehen


Die Arbeiter wollten sich erkundigen, ob von Seiten der Partei Demonstrationen bzw. Aufmärsche geplant seien. Doch Austerlitz wußte auch nichts, und so zog die Delegation wieder ab.

Polizeipräsident Schober hatte Demonstrationen vor dem Landesgericht befürchtet, doch es gab keine, weil so sicher mit einer Verurteilung der drei Frontkämpfer gerechnet worden ist. Schober ließ anfragen, ob die Sozialdemokraten irgendwelche Aktionen geplant hätten, doch der Parteivorstand antwortete mit einem entschiedenen 'Nein'.

Die Sozialdemokraten hatten lange überlegt ob man demonstrieren sollte. Doch sie konnten nicht zu einer Demonstration gegen ein Urteil aufrufen, das von einem Geschworenenprozeß gefällt worden war. Hatten sie doch so lange dafür gekämpft, daß das Volk die oberste Richtergewalt bekommen sollte. Die Partei wollte keine Gewalt, schon gar nicht in diesem Augenblick, in diesem Sommer 1927, angesichts der scheinbaren Sicherheit, mit dem man auf einen Wahlsieg zusteuerte.

Doch die Betriebsräte der städtischen E-Werke sahen das nicht so. Sie faßten zwischen 5 und 6 Uhr den Beschluß, von 8 bis 9 Uhr in der Früh zum Zeichen des Protests den elektrischen Strom für die Straßenbahnen abzuschalten. Julius Deutsch (Obmann des Schutzbundes) versuchte sie vom Streik abzuhalten; ahnte er doch als einer von wenigen die Tragweite der Protestaktion; seine Bemühungen blieben aber erfolglos.


Die Massenproteste:

Nach Arbeitsbeginn und Erscheinen der AZ kam es in vielen der Wiener Großbetriebe zu stürmischen Protestversammlungen. Die sozialdemokratischen Funktionäre setzten aber nicht im Sinne ihrer bisherigen Taktik den Republikanischen Schutzbund zur Ordnung der voraussehbaren Demonstrationszüge ein, denn das hätte der Protest-bewegung den Anschein der Spontaneität genommen.

Als gegen 8 Uhr bereits tausende Demonstranten in das Stadtzentrum marschiert sind ersuchte Deutsch die Polizeidirektion genügend starke Polizeikontingente bereitzustellen, 'um alle Hitzköpfe in Schranken zu halten', die Polizisten jedoch nicht zu bewaffnen, 'denn das könnte die Demonstranten provozieren'. Deutsch alarmierte auch noch den Schutzbund, doch auch dieser Befehl erreichte nur sehr wenige Schutz-bündler. Noch in der Nacht erfuhr die Polizei sowohl von der sozialdemokratischen Partei als auch vom Schutzbund, daß es zu keiner Demonstration bzw. Protestkund-gebung kommen sollte. Somit wurde ein Teil der Belegschaft nach Hause geschickt. Die Polizei konnte ihre Mannschaften nun nicht mehr in genügender Stärke in den Dienst stellen, und somit gerieten die Polizisten sehr bald in Bedrängnis.


Die Arbeiter strömten nun in losen Gruppen oder geschlossenen Zügen in die Innenstadt, und trugen mit sich Tafeln, auf denen geschrieben war 'Protest dem Schandurteil! Wir greifen zur Selbsthilfe!'.

Bei der Uni kam es dann zu dem ersten 'Wirbel' des Tages, zwischen Arbeitern, Studenten und einigen wenigen Wachleuten. Schließlich zogen dann gegen 930 die Demonstranten zum Parlament, vor dem einige Polizisten eine spärliche Sperrlinie auszurichten versuchten. Die Protestrufe der Demonstranten wurden lauter, bis Stadthauptmann Albert Tauß gegen die ca. 500 dort versammelten Leute eine Reitattacke unternehmen ließ, um die vor dem Parlament weilenden Polizisten zu entlasten. Die empörten Demonstranten (in ihrem 'roten Wien' ging die Polizeikavallerie gegen sie los) wichen daraufhin Richtung Schmerlingsplatz (Justizpalast) aus. Es dauerte nicht lange bis den Arbeitern der Zusammenhang zwischen Justizpalast und dem 'Schandurteil' klar wurde, und somit wählten sie den Justizpalast als neues Angriffsziel. Die Demonstranten wandten sich gegen die dort postierten Wachleuten, die sich vor dem Steinhagel ins Gebäude zurückziehen mußten. Als dann auch noch die ersten Schüsse fielen, bei denen ein Arbeiter lebensgefährlich verletzt wurde, erregte das die Menge nur noch um so mehr. Schließlich kamen die Reiterabteilungen auch nicht mehr durch, da in aller Eile Barrikaden errichtet wurden, und unter anderem auch das Wachzimmer in der Lichtenfelsgasse gestürmt wurde.

Ab 11 Uhr wurde dann die Straße - wenn allerdings auch nur vorübergehend - den Demonstranten überlassen. Die Polizisten beschränkten sich nun auf die Sicherung des Parlamentsgebäudes und die Verteidigung des Haupttores des belagerten Justizpalastes.

Nun erkannte die sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, daß ohne Aufgebot des Republikanischen Schutzbundes die Lage nicht mehr zu retten war. So zog nach 11 Uhr eine Schutzbundabteilung vor dem Haupttor des Justizpalastes auf, um die Demonstranten zurückzuhalten. Doch als auch diese von der Menge angegriffen wurden, zogen sie sich ebenfalls in das Gebäude zurück. Etwa gegen 12 Uhr kamen dann auch schon die ersten Demonstranten durch Fenster und das Haupttor in den Justizpalast. Sie zerschlugen Büroeinrichtungen warfen Akten aus dem Fenster und fingen an Feuer im Inneren des Gebäudes zu legen. Um 1228 Uhr wurde schließlich die Feuerwehr alarmiert.

Um 10 Uhr vormittags wurde Seipel über die Ereignisse rund um das Parlament informiert, der daraufhin eine Niederschlagung der Demonstration forderte. Vizekanzler (auch Innenminister) Hartleb telefonierte mit dem Wiener Polizei-präsidenten Schober, der Militärassistenz forderte, da die Polizei zu schwach sei. Doch Seitz verweigerte dafür seine Zustimmung, woraufhin Schober vom Heeresminister  Carl Vaugoin Karabiner, um die Polizei damit auszurüsten, forderte. Gegen 12 Uhr wurden dann die Polizisten mit Waffen des Bundesheeres ausgerüstet. Schober kündigte Seitz an, er würde scharf schießen lassen, wenn die Menge weiterhin die Feuerwehr vom Justizpalast abhalten würde, woraufhin Seitz nun selber versuchte einem Löschzug die Weiterfahrt zu ermöglichen.

Erst nach etwas mehr 2 Stunden, nämlich gegen 1430, gelang es Julius Deutsch und einigen Schutzbündlern, der Feuerwehr einen Weg durch die Menge durchzubahnen. Doch in dem Moment als die Feuerwehr endlich mit den Löscharbeiten beginnen konnte, marschierten 600 mit Karabinern ausgestattete Polizisten auf dem Schmerlingsplatz auf.

Einer Einheit des Republikanischen Schutzbundes und Theodor Körner (technischer Berater der Schutzbund Zentralleitung) gebührt nun der Verdienst, unbeachtet der politischen und sozialen Stellung, die von der Lynchung oder von dem Verbrennungstod Gefährdeten gerettet zu haben, und zwar ohne Gewaltanwendung (Man darf nicht vergessen, daß zum Zeitpunkt des Brandes der Justizpalast voll war mit Richtern, Anwälten sowie Klienten).

Nun war aus einigen Quellen aber auch herauszulesen, daß Schober angeblich, nachdem er noch mit Deutsch und Seitz gesprochen hatte, eine Motorrad-Ordinanz los schickte, um die Polizisten zu stoppen. Deutsch schickte Albrecht Sever (Abgeordneter, früher Landeshauptmann von Niederösterreich) los, um bei dem Demonstranten zu intervenieren. Doch weder Sever noch die Polizeiordinanz kamen durch; die 600, mit Gewehren und Scheibenmunition ausgerüsteten, Polizisten allerdings schon. Nun begannen die verheerenden Schießereien.


Die Eindämmung der Unruhen:

Die Polizisten kamen von zwei Seiten: eine Gruppe durch die Bartensteingasse, die andere von der Bellaria aus. Für ein besseres Verständnis der Vorkommnisse sind nun einige Zeugenaussagen, die die Arbeitsweise der Polizei darstellen sollen, angeführt:


'-- Als sie die Straße vor dem Rathaus in Richtung gegen die Bellaria  säuberten, indem sie blindlings in die Menge hinein schoß, und die Menge entsetzt flüchtete, konnte ein Mann nicht mehr recht mit. In der Stadionstraße sprang er auf dem dort befindlichen Steinhaufen, öffnete seinen Rock, breitete seine Arme weit aus, und rief der anstürmenden Wache entgegen: 'Schießt her, wenn ihr euch traut' Und das Unfaßbare geschah. Die Wache gab auf den wehrlosen Mann eine Salve ab - der Mann brach auf dem Steinhaufen blutüberströmt zusammen.'

Ein Arzt teilte mit: Ich führte am Freitag ein Sanitätsauto, in dem sich Verwundete befanden. In der Nibelungengasse schoß die Wache auf uns; ich ging auf den Kommandanten zu und rief: 'Um Gotteswillen, schießen Sie doch wenigstens nicht auf Sanitätsautos! Nicht einmal in Kriege hat man auf das Rote Kreuz geschossen!' Der Polizeioffizier erwiderte: 'Mit Verlaub, ich scheiß auf das Rote Kreuz'

'Ein Verwundeter, der sich auf dem Gehweg vor dem Justizpalast auf allen vieren kriechend fortschleppte, wurde von mehreren Polizisten in kniender Stellung durch Schüsse niedergestreckt.'

Am 15. Juli um 2 Uhr nachmittags saß ein alter Mann auf einer Bank im Schmerlingsplatz. Eine Polizeipatrouille gab auf diesen Mann eine Salve ab. Er brach mit einem Schuß auf der linken Rückenseite zusammen. Sechs Leute stürzten herbei und wollten ihn aufheben. Darauf eröffnete die Polizei auf diese sechs ein Feuer. Alle sechs wurden schwer verletzt.

Ein Reisender schreib: -- Plötzlich wurde ein zweites graues Auto sichtbar, auf dem nur ein Chauffeur und ein Zivilist vorn saßen. Es war ein sogenannter Schubwagen, kastenförmig, geschlossen. Die Menge legte diesem Auto keine weitere Bedeutung bei, da es ganz harmlos schien. Plötzlich stellte es sich schräg über die Straße, rückwärts wurde eine Tür sichtbar, die eine mit Eisenstäben vergitterte Öffnung zeigte. Plötzlich gellen scharfe Schüsse - ohne vorherige Warnung! Mehrere Salven werden aus dem Inneren des Wagens - an den Eisenstäben des Gitters vorbei - abgefeuert. Verwundete und Tote liegen auf der Straße. Nach diesen Schüssen saust das Auto wieder weiter in der Richtung zum Parlament.[7]


Verschiedene Stellungnahmen zu den Ereignissen des 15. Juli. 1927:

Die Neue Freie Presse: 'Nehmen wir den Fall an, einen Fall, den wir für gänzlich unmöglich halten, daß tatsächlich viele unter den Toten durch Fehler oder Grausamkeit einzelner Wachorgane gestorben seien. Was um des Himmelswillen hätte das mit der Bourgeoisie und ihrer Gesinnung zu tun?'


Nun meinte Seipel vor dem Parlament: 'Und noch eine Bitte habe ich an Sie alle am heutigen Tage. Verlangen Sie nichts vom Parlament und von der Regierung, das den Opfern und den Schuldigen an den Unglückstagen gegenüber milde scheint, aber grausam wäre gegenüber der verwundeten Republik'. (So kam Seipel auch zu dem Namen 'Prälat ohne Milde')


Hartleb (Vizekanzler): 'So bedauerlich die Vorfälle am 15. und 16. Juli auch gewesen sein mögen, so hat sich doch erwiesen, daß die Polizeidirektion Wien ihren altbewährten Ruf, die sicherste Stütze in diesem Staat zu bilden, nicht nur vollkommen gewahrt, sondern vielmehr noch wesentlich gefestigt hat. Zu diesem Ergebnis, das in erster Linie Ihr unauslösliches Verdienst ist, beglückwünsche ich Sie, hochverehrter Herr Präsident, auf das wärmste und bitte Sie unter einem, auch allen Ihren Beamten meine besondere Anerkennung und meinen Dank zur Kenntnis zu bringen.'


'Kurzum, keinen prominenten Lumpen hat es gegeben, der zu jenem Pfui entschlossen war, das so viel Namenlose zu verantworten müssen: über die unnennbare Tat, wie in die Rücken Spazierender und Fliehender, wie aus Polizeiautos und in Sanitätsautos geschossen wurde, auf einzelne und auf Gruppen, zur Strafe für Neugierde, für Barmherzigkeit, die einen Sterbenden beisteht, im Namen der Ordnung und mit der einleuchtenden Ausrede, daß die Löschung eines brennenden Gebäudes durch Salven in die Feuerwehr gefördert wird; wie die Justiz des blindwütigen Zufalls Männer und Frauen, Greise und Kinder ohne Ansehen der Person, mit einer Unparteilichkeit, deren sich wahrlich noch keine Behörde rühmen konnte, mit Schuß und Stich, mit Säbel und Gewehrkolben bedacht hat.'


Seipel äußerte sich in seiner Rede auch zum Vorgehen der Polizei : 'Gott sei Dank, sie haben ihre Pflicht getan.'


Hartleb: 'Lügen Sie nicht immer von hundert Toten, wenn es nur 85 sind! Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen vom 15 und 16. Juli sind insgesamt 85 Personen getötet worden - ich betone dies ausdrücklich, weil immer wieder von 100 Toten gesprochen wird Wenn sich unter ihnen gewiß auch zufällig an die Schauplätze der Ausschreitungen gekommenen und an denselben gänzlich unbeteiligte Personen befinden, so muß ich doch, schon um die Erzählungen von der ohne jeden Grund auf harmlose Passanten feuernde Sicherheitswache zu kennzeichnen, darauf hinweisen, daß 32 der Toten, und zwar 12 wegen Verbrechen, vorbestraft erscheinen Schließlich muß in diesem Zusammenhang noch hervorgehoben werden, daß 74 von den 281 verletzten Zivilpersonen gerichtlich vorbestraft sind, und zwar 35 wegen Verbrechens und 39 wegen Vergehens, beziehungsweise Übertretungen.' 'Wann kommen die Leumundsnoten der getöteten Kinder heran?' 'Es ist kein Kind getötet worden, nein!'


Das Zahlenmaterial lieferten Altersangaben von 74 Getöteten, von 62 Verletzen sowie von 136 'Juli-Unruhestiftern':


Altersgliederung der beteiligten Zivilisten am 15.Juli.1927:



Von einem süddeutschen Polizeifachmann, der die Wiener Verhältnisse aus eigener Anschauung kennt, wurde geschrieben: 'Die Toten von Wien sind in erster Linie die Opfer einer mangelhaften Polizeiorganisation. Die Wiener Tage haben bewiesen, daß die Polizei der österreichischen Hauptstadt zu den mittelalterlichsten Einrichtungen gehört Alle europäischen Hauptstädte, die sich in Zeiten der Gefahr nicht auf das Militärverlassen, haben ihrer besondere Organisation, die auf die Kontrolle großer Massenbewegungen abgestimmt sind. Der leitende Gedanke dabei ist: Möglichst wenig Blut vergießen Weil man in Wien eine solche Organisation nicht kannte, eine Organisation, die sich der hochwertigsten Materials und der hochwertigsten Beamten bedient, darum hat man jetzt die hundert Todesopfer zu beklagen. Daß man in Wien, über alle organisatorischen Fehler hinaus auch noch die Polizei mit sogenannter Übungsmunition versorgte, die eine dumdumgeschoßähnliche Wirkung hatte, das spielt bei dieser Erörterung nur noch einen untergeordnete Rolle.' [10]


Folgen des Justizpalastbrandes:

'Auf Grund der tragischen Ereignisse wird in der nächsten Zeit die Propagandaaktion der Fremdenverkehrskommission noch einen besondere Intensivierung erfahren, um die schädlichen Folgen der traurigen Tage für den Fremdenverkehr möglichst abzubauen'

Eine wesentliche Sorge der Bourgeoisie war damals die Beeinträchtigung des Fremdenverkehrs durch die Ereignisse die sich am 15. Juli überschlugen.

Doch einige Menschen hatten auch andere Probleme, denn immerhin kamen an diesem Tage 89 Menschen ums Leben, mehr als wurden 1000 schwer verletzt, und noch viel mehr durften zumindest das kommende Wochenende in Haft verbringen. Bis zum 22. September waren 919 Personen wegen der Juliereignisse angezeigt worden, wobei bei 317 das Verfahren eingestellt wurde; 48 Fälle wurden dem Bezirksgericht abgetreten. Am 30. September saßen immerhin noch 41 Menschen in Untersuchungshaft. Die Gesamtanzahl der aufgrund von Denunziation Verhafteten wird mit mindestens 1325 angegeben, wobei nicht weniger als 758 Menschen als unschuldig wieder entlassen werden mußten.[12]


Am 16. Juli erscheinen keine Tageszeitungen in Österreich, sondern legentlich ein 'Mitteilungsblatt der Sozialdemokratie Deutschösterreichs'. Darin gaben sowohl der Parteivorstand als auch die Gewerkschaftskommission folgende Parolen aus:

Die Eisenbahner, Post-, Telegraphen- und Telefonangestellten in ganz Österreich stellen die Arbeit ein und nehmen sie erst auf weitere Weisung wieder auf. Lebensmittelzüge sind zu führen.

Die übrigen Arbeit- und Angestelltenschaften stellen in Wien heute Samstag zum Zeichen des Protestes gegen das gestrige Blutvergießen die Arbeit ein.

Der Proteststreik dauert jedoch zunächst nur einen Tag.

Dieses mal wurde der Schutzbund rechtzeitig alarmiert, jedoch nur um an Ort und Stelle dafür zu Sorgen, daß es zu keinen weiteren Zusammenstößen oder Demonstrationen kommt. So arbeiteten nun Schutzbund und Polizei doch zusammen.

Die Bevölkerung Österreichs war aber weiterhin im Dunkeln über die wahren Vorgänge im Land, da auch das Radio vom Streik betroffen war.

Trotz dieser überaus prekären Lage ging Österreich noch einmal knapp am Bürgerkrieg vorbei.[13]


Nachwirkungen des 15. Juli:

Schwächung der Sozialdemokraten:

Die Gegner der Demokratie gewinnen an Einfluß (NSDAP, Heimwehr 1930; Korneuburger Eid)

Putschversuch der Heimwehr in der Steiermark 1931

Tumulte im Parlament 1932




Botz, Gerhard: Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918-1938, 2. Auflage, München 1938, Seite 110

Botz, Gerhard: a.a.O., Seite 141

Botz, Gerhard: a.a.O., Seite 142

Andicis, Hellmut: Der Staat, den keiner wollte. Österreich 1918-1928 - Wien: Herder&Co 1962, Seite 204

Arbeiter Zeitung, 15. Juli 1927

Botz, Gerhard: a.a.O., Seite 148

Kraus, Karl: Der Hort der Republik. In: Die Fackel 29 (1927), Nr. 766-770

Kraus, Karl: a.a.O

Totenschaubefunde 1927, J.A. 17001-18000, Mitteilungs-Blatt, Nr.3, 17.7.1927, S.4; AZ, 21.7 1927, S.3

Berliner Tageblatt, 31. Juli. 1927

Die Neue Freie Presse

Gulick, Charles: Österreich von Habsburg zu Hitler, Bd.2, Wien 1948, Seite 518

Portisch, Hugo - Rief, Sepp: Österreich I. Die unterschätze Republik, Seite 308






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